Die Anfänge der Muslimbruderschaft in Deutschland gehen bis in die Nachkriegszeit zurück. Sie sind das Resultat einer Folge von politischen Prozessen, die sich nach dem Ende des Kolonialismus in der islamischen Welt ereigneten. Einige Führer der neuen unabhängigen Staaten verfolgten einen säkularen Modernisierungskurs und beschränkten die Macht der religiösen Eliten. Die religiöse Opposition, die an der Idee eines islamischen Staates festhielt, wurde mit repressiven Mitteln unterworfen, und viele islamistische Aktivisten verließen ihre Heimat, um einer Gefängnisstrafe oder sogar Hinrichtung zu entgehen.
In Saudi-Arabien, wo man die Säkularisierung des Orients mit Sorge betrachtete, nahm man die Dissidenten mit offenen Armen auf. Daher wurde das Land zum Ausgangsort einer weltweiten islamistischen Revitalisierungsbewegung. Diese verlief in organisierten Bahnen. Ein erstes Ergebnis war die Konstituierung der »Islamischen Weltliga« im Jahr 1962 im Anschluss an eine Konferenz in Mekka, an der Vertreter unterschiedlicher islamistischer Organisationen aus 33 Ländern teilnahmen. Die Liga verstand sich von Anfang an als Schmelztiegel aus Wahhabismus, Salafismus und der Ideologie der Muslimbruderschaft.
Auf den Sitzungen diskutierte man Möglichkeiten, den Islam gegen den Säkularismus und die Scharia gegen die Menschenrechte durchzusetzen. Es ging konkret um die Ablehnung von Frauenrechten, um die Verteidigung von Körperstrafen wie der Steinigung und dem Abhacken von Gliedmaßen und um die Verankerung der Scharia als Quelle der Gesetzgebung in islamisch geprägten Ländern. Auch Maßnahmen zur globalen Verbreitung des politischen Islam wurden erörtert, wobei explizit Europa als Missionsgebiet genannt wurde. Interessant ist, dass betont wurde, es werde erst Frieden geben, wenn die Prinzipien des Islam überall in der Welt durchgesetzt sein würden.
Ramadan war ein polyglotter Organisator und agierte in Syrien, Jordanien und dem Libanon. Er besaß zudem ausgezeichnete Verbindungen zu südasiatischen Islamisten wie Sayyid Abdul Ala Maududi (1903–1979), der Zeit seines Lebens für die Umwandlung Pakistans in einen islamischen Staat gekämpft hatte. Ramadan unterstützte solche Bestrebungen ganz offiziell im Auftrag der Bruderschaft. In den späten 1950er-Jahren gelangte der umtriebige Funktionär nach Deutschland, wo er 1959 an der Universität zu Köln mit einer Arbeit über islamisches Recht promoviert wurde. Doch es war nicht die Wissenschaft, der sein Herz gehörte, sondern die Bruderschaft, für die er Strukturen zu schaffen gedachte.
Wahrscheinlich ist, dass er finanzielle Mittel aus Saudi-Arabien für eine breit angelegte islamische Missionskampagne in Europa erhielt. Dafür waren die Bedingungen denkbar günstig, denn einflussreiche ehemalige Nationalsozialisten bemühten sich gerade darum, muslimische Waffenbrüder aus den zentralasiatischen Sowjetrepubliken beim Aufbau einer religiösen Infrastruktur in Deutschland zu unterstützen. Um ihre religiöse Versorgung zu gewährleisten, wollte man eine große Moschee in München errichten und schuf dafür 1957 mit Unterstützung der deutschen Politik eine »Moscheebau-Kommission«.
Der erste Vorsitzende der Kommission wurde Nuredin Namangani, ein ehemaliger SS-Führer aus Usbekistan, der bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes mitgewirkt hatte. Doch die Zentralasiaten blieben nicht die einzigen Muslime in Deutschland. Aus arabischen Ländern kamen Hunderte Studenten und Angehörige der Muslimbruderschaft, die ins Ausland flohen, um einer Festnahme zu entgehen. Einer von ihnen war Said Ramadan, der sich gleich anschickte, eine Führungsposition innerhalb der muslimischen Szene zu erobern. (…)
Die Münchener Moschee, für deren Bau Said Ramadan kämpfte, krankte lange an fehlenden finanziellen Mitteln und wurde erst 1973 mit Unterstützung des libyschen Staatsoberhaupts Muammar al-Gaddafi und anderer Förderer aus islamischen Staaten verwirklicht. Sie ist heute Teil des »Islamischen Zentrums München«. Ein anderes islamisches Zentrum befindet sich in Aachen. Während die Münchener Einrichtung ein Zufluchtsort für ägyptische Muslimbrüder wurde, die ihre Heimat verlassen mussten, spielten in Aachen Vertreter der syrischen Muslimbruderschaft die entscheidende Rolle.
Wie in Ägypten wurden die Muslimbrüder auch in Syrien als Staatsfeinde betrachtet. Die Feindschaft geht auf die Anfänge der säkularen Baath-Partei zurück, die sich 1963 an die Macht putschte und Hafiz al-Asad, den Vater des heutigen Machthabers Baschar al-Asad, in die Regierungsverantwortung brachte. Die Bruderschaft leistete damals erbitterten Widerstand gegen die Usurpation durch einen säkularen Regenten, und eine Phase gegenseitiger Gewalttätigkeiten begann, die Tausende Islamisten ins Exil trieb. Da die Sowjetunion und die DDR zur damaligen Zeit mit den Regimen in Ägypten und Syrien politische Allianzen pflegten, lag es für die islamistischen Dissidenten nahe, in den Westen zu migrieren. Dass Deutschland in den 1960er- bis 1980er-Jahren zur Diaspora der Bruderschaft wurde, war nicht zuletzt eine Folge des Kalten Krieges. (…)
Konvertiten als Speerspitze des deutschen Islamismus
Das »Islamische Zentrum München« und seine Vorläufer waren die Ausgangsorte eines bemerkenswerten Prozesses der Verankerung und Verbreitung des politischen Islam in Deutschland. Dabei spielten deutsche Konvertiten wie Axel Ayyub Köhler, Ahmad von Denffer, Tilman Schaible oder Fatima Grimm, die sich seit den 1980er-Jahren teilweise in einem Münchener »Treffen Deutschsprachiger Muslime« versammelten, eine tragende Rolle. Auffällig ist bei diesen Personen ebenso wie bei den frühen arabischen Funktionären der Muslimbruderschaft in Deutschland, dass sie ihr mehr als problematisches Islamverständnis ohne Scheu verkündeten.
Bevor es ihn nach München verschlug, arbeitete er im britischen Leicester als Mitarbeiter der »Islamic Foundation«. Diese stand der pakistanisch-islamistischen Organisation »Jamaat-e-Islami« nahe, die von dem bereits erwähnten Maududi gegründet worden war. Die »Islamic Foundation« war eine der ersten Initiativen, die die »Jamaat-e-Islami« mit der Muslimbruderschaft auf europäischem Boden zusammenbrachte. Die Stiftung wurde von Khurram Murad geleitet, der gemeinsam mit von Denffer publizierte. Ich werde Murads Ideen und politische Pläne kurz darstellen, weil sie auch für den deutschen Islamismus wichtige Anregungen boten, die dankbar aufgegriffen wurden.
Betont werden muss zunächst, dass Murad ideologisch in der Tradition der frühen Muslimbruderschaft stand und die Islamisierung der Welt für einen göttlichen Auftrag hielt. Konkret entwickelte er damals Pläne für die islamistische Umgestaltung Europas. Anders als Hassan al-Banna und Ala Maududi war er jedoch überzeugt, dass der Dschihad dafür nicht mehr nötig sei. Murad setzte auf eine friedliche Islamisierung, die von einer gut geschulten islamistischen Bewegung vorangetrieben werden sollte.
Dafür erdachte er einen mehrstufigen Plan. An erster Stelle stand dabei die dawa, die islamische Mission, mithilfe derer die europäischen Muslime, die die Religion bislang nicht so wichtig genommen hatten, zum vermeintlich wahren Weg geführt werden sollten. Gleichzeitig sollten auch nichtmuslimische Europäer überzeugt werden, den Islam anzunehmen, um eine einheimische Basis für das große Projekt zu schaffen. Da Muslime sich in Europa in der Minderheit befänden, sollten sie Strategien erarbeiten, um die nichtmuslimischen Mehrheiten zu einer Akzeptanz der Islamisierung zu bewegen. Murad empfahl, Probleme wie soziale Gerechtigkeit oder Umweltschutz aufzugreifen und den Islam als Lösung anzubieten. Auch schlug er vor, die Terminologie zu verändern und zentrale Begriffe des Islamismus rhetorisch zu ummanteln. Ein Beispiel hierfür ist die Ersetzung des Begriffes »Islamischer Staat« durch »Welt, in der Gerechtigkeit herrscht«.
Gerechtigkeit, so Nina Wiedl, sei als zentrale europäische Metapher erkannt worden, von deren Gebrauch man besonders bei Linken Sympathien erwartete. Wiedl nennt dies mit Recht »kodierte Sprache«, eine Sprache, die den tatsächlichen Inhalt in einen akzeptablen Code transferiert, um keine Widerstände hervorzurufen. Sie bezeichnet Murad daher als muslimischen Autor, der explizit »zur Doppelzüngigkeit gegenüber Nichtmuslimen aufruft«. Ein weiterer strategischer Gedanke Murads intendierte den Aufbau islamistischer Parallelstrukturen in westlichen Staaten, in der Muslime ganz nach den Anforderungen der Scharia leben sollten. Diese Zellen sollten sich dann immer weiter ausbreiten und in die Gesellschaft hineinwirken.
Ahmad von Denffer war ein Schüler und treuer Anhänger Murads und beabsichtigte, dessen Konzept auch für Deutschland nutzbar zu machen. 1984 wechselte er von der »Islamic Foundation« zum »Islamischen Zentrum München«, betreute dort die Zeitschrift »Al-Islam« und übersetzte islamische Schriften ins Deutsche, darunter Yusuf al-Qaradawis Buch »Erlaubtes und Verbotenes im Islam« und natürlich Texte von Khurram Murad. Von Denffer war stets ein Hardliner, der mit dem deutschen Rechtsstaat seine Schwierigkeiten hatte, da er ihn für unvereinbar mit der Scharia hielt – insbesondere, wenn es um die Stellung der Frauen ging. Ganz im Sinne Murads argumentierte er für den Aufbau einer muslimischen Parallelgesellschaft in Deutschland, in der islamisches Recht zur Anwendung kommen solle.
Leicht gekürzter Auszug aus:
Susanne Schröter, Politischer Islam. Stresstest für Deutschland.
Im Mai 2021 erschienen unter dem Titel: Im Namen des Islam. Wie radikalmuslimische Gruppierungen unsere Gesellschaft bedrohen. Pantheon, 400 Seiten, 16,00 €.
Wir danken Autorin und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.