Deutschland, 101 Jahre später: immer noch dasselbe Lied

Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt mentalitätspsychologisch auffällige Parallelen zwischen dem Deutschen Reich im August/September 1914 und der Bundesrepublik Deutschland August/September 2015. Bemerkungen zu lesenswerten Büchern, die der Historiker und Psychologe Alexander Meschnig vorgelegt hat.

© Sean Gallup/Getty Images

Wir erinnern uns: Am 1. August 1914 begann der „Große Krieg“. Später, nach dem Weltkrieg 1939/45, ging er als der „Erste Weltkrieg“ in die Geschichtsbücher ein. Die Kriegsbegeisterung war anfangs vor allem in deutschen Städten schier grenzenlos. Ganze Abiturklassen meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst. Selbst unter Mädchen und Frauen brach die Begeisterung aus. Etwa 100.000 wollten Kriegskrankenschwester werden; rund 25.000 kamen zum Einsatz. Auf dem Land freilich hielt sich die Euphorie eher in Grenzen; man war mit der Ernte beschäftigt. Pfarrer und Bischöfe indes segneten Soldaten und Waffen. Aber die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Der Vormarsch nach Frankreich kam bald zum Erliegen, bald auch erschienen in den Zeitungen die ersten Todesanzeigen für Gefallene.

Szenenwechsel: Am 4. September 2015 ließ Kanzlerin Merkel die Grenzen für Hunderttausende von Flüchtlingen öffnen. Am Ende sollte es in kurzer Zeit fast eine Million werden, die den Weg über die Balkanroute nach Deutschland wählte. Begeisterung und Hilfsbereitschaft in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung waren schier grenzenlos. Täglich bis zu 6.000 Flüchtlinge wurden allein am Münchner Hauptbahnhof mit Teddybären, Kleidung, Nahrung, „Welcome“-Schildern begrüßt. Deutschlands oberste Kirchenfürsten, Kardinal Marx und Bischof Bedford-Strohm, mischten sich am 5. September – übrigens hier schon wie im Oktober 2016 am Tempelberg in Jerusalem ohne Bischofskreuz – unter die „Refugees-Welcome“-Gemeinde am Münchner Hauptbahnhof. Die Ernüchterungen folgten, diesmal aber ohne große mediale Begleitung, vor Ort: überquellende Flüchtlingslager, überquellende Flüchtlingsklassen, maßlos überforderte Ämter, zu 90 Prozent junge Männer, eine massive Zunahme an Gewalt.

Was haben beide Zeiträume, 101 Jahre auseinanderliegend, miteinander zu tun? Auf den ersten Blick wenig, vor allem nichts Martialisches. Bei näherem Hinsehen aber drängen sich doch Parallelen auf: dort patriotische Kriegslüsternheit, hier quasi-patriotisch-moralisierendes Gutmenschentum; dort obrigkeitsgläubiger Drang zum Krieg, hier obrigkeitsstaatliches „Wir schaffen das!“; dort aggressive Entgrenzung nach West und Ost; hier Entgrenzung durch Verzicht auf jede Grenzsicherung; dort pseudoreligiöse Mobilisierung vor allem gegen einen Erzfeind; hier pseudoreligiöse Bußfertigkeit zum Abtragen „deutscher Schuld“. Also einmal mehr Emanuel Geibels Zeilen aus dem Gedicht „Deutschlands Beruf“ aus dem Jahr 1861? „Am deutschen Wesen mag (später: soll) die Welt genesen“, so schrieb der Dichter. Erst als Militärmacht, dann, 101 Jahre später, als Moralmacht. Sind die Parallelen noch als „zufällig“ zu bezeichnen?

Der Historiker und Psychologe Alexander Meschnig, Jahrgang 1965, hat dazu ein Buch geschrieben: „Deutscher Herbst 2015 – Essays zur politischen Entgrenzung“. Darin sind 19 seiner Essays zur Flüchtlingskrise aus der Zeit von September 2015 bis Oktober 2017 enthalten. Deren Essenz fasst Meschnig in einem längeren Einleitungskapitel zusammen.

Der Titel des 220 Seiten starken Bandes lässt zunächst eher vermuten, hier gehe es um einen Bezug zum „Deutschen Herbst 1977“ mit dem Höhepunkt der RAF-Terrorwelle. Aber die Parallelen zwischen 2015 und 1977 wären zu spärlich, als dass dieser Vergleich trüge. Gewiss war die Bundesrepublik 1977 wie 2015 aufs Äußerste herausgefordert, aber damals gab es – im Gegensatz zu 2015 – konsequentes regierungsamtliches Handeln. Nun also Meschnigs spannender Vergleich 1914 versus 2015: Der Autor sieht vor allem folgende Parallelen: Beide Male handelt es sich um eine historische Zäsur mit irreparablen Folgen; beide Male spielen ein typisch deutscher Narzissmus und eine kolossale Egozentrik eine Rolle; beide Male haben zu tun mit einer angeblichen deutschen Mission; beide Male ging es um eine massenpsychologische Hysterisierung.

Alexander Meschnig hat jedenfalls einen sehr lesenswerten und aktualisierten Sammelband vorlegt. Man sollte ihn wirklich zur Hand nehmen – und als Ergänzung dazu seinen ein Jahr zuvor zusammen mit Parviz Amoghli verfassten Band „Siegen – oder vom Verlust der Selbstbehauptung“. Einer der markantesten Sätze dort lautet: „In der Abwertung des Eigenen, bei gleichzeitiger Aufwertung des Fremden, kommt das spezifische Merkmal der westlichen Zivilisation seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck. Keine andere Kultur, Gesellschaft oder Religion hat diese Büßermentalität hervorgebracht, die im September 2015 in Deutschland in der Frage der Masseneinwanderung kulminierte.“

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Kommentare ( 37 )

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37 Comments
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zaungast
5 Jahre her

Sehr verehrter Herr Kraus, vielen Dank, dass Sie auf das Buch von Alexander Meschnig aufmerksam gemacht haben. Ich hatte es bereits gelesen, ohne in den einschlägigen Medien eine angemessene Rezension gefunden zu haben. Vielleicht liegt es daran, dass es nicht aus dem Umkreis der universitären Cliquen stammt, die sich wechselseitig jhre einzigartigen Bedeutung versichern. In der Tat hebt es sich in Stil und intellektuellen Niveau deutlich von dem Gesinnungs-Fast-Food á la Leggewie, Welzer, Münkler etc. ab. Die ernsthaften, nonkonformistischen Beiträge scheinen bis auf Ausnahmen nur noch jenseits der Universitäten verfasst zu werden. Ob einzelne Ereignisse 1914 und 2015 entsprechen, ist… Mehr

Der Winzer
5 Jahre her

„Das ist der deutsche Nationalcharakter: Er will immer das Beste und verliert darüber das Gute.“
(Otto von Bismarck)

CIVIS
5 Jahre her

Sehr geehrter Herr Kraus, nichts gegen die von Ihnen und Alexander Meschnig aufgezeigten Parallelen und Vergleiche zum Entstehen und zum Zerfall von deutschen Reichen, angefangen mit der „Weimarer Republik“ über das „Dritte Reich“ bis hin zum „Merkel-Reich“. Die charakteristischsten Merkmale zum Entstehen und zum Verfall von „Reichen“ ist für mich dabei immer einerseits „die DEKADENZ“ der Herrschenden und andererseits die ARMUT UND NOT“ der Beherrschten. Bisher war es immer die Not und Armut der Bevölkerung, die Herrscher an die Macht gebracht haben. Vor Hitler war Deutschland arm (Reparationszahlungen etc.). Hitler ist mit dem „Wohlstandsversprechen“ an die Macht gekommen; keinesfalls -zumindest… Mehr

Thorsten
5 Jahre her

Es wird ein Bürgerkrieg um die Staatsresourcen wie Steuer- und Sozialkassen geben. Manch Linke wollen auch enteignen…

Thorsten
5 Jahre her

Dabei wird übersehen, dass diesmal Russland NICHT der Feind ist, sondern sehnsüchtig auf die deutsche Freundschaft wartet, die es mit der Befreiung vom Hitlerjoch sich blutigst verdient haben sollte!!!

Hannibal ante portas
5 Jahre her

Verehrter Herr Kraus, ich bin der festen Überzeugung, wenn Sie keine irgendwie geartete Parallele zur den tausend Jahren zwischen 33 und 45 (oder kurz zuvor) herstellen können, Sie nicht in die öffentliche Diskussion wahrgenommen werden. Auch glaube ich, dass 90 Prozent der veröffentlichten Parallelbetrachtungen sehen uns 1931/32, bei denen das wichtigste Augenmerk JETZT darauf liegt den ersten großen Wahlerfolgen keine zweite folgen zu lassen. Meiner persönlichen Einschätzung nach sind wir schon viel, viel weiter: auch diesmal ist der 20. Juli gescheitert (Seehofer „Herrschaft des Unrechts“). Wir befinden uns im Spätherbst 1944: Bundeswehr noch nicht in Auflösung aber nicht mehr zum… Mehr

Thorsten
5 Jahre her
Antworten an  Hannibal ante portas

Sie haben noch die „Wunderwaffen“ vergessen… 😉

Helmut Kogelberger
5 Jahre her
Antworten an  Thorsten

Haben wir mit „power to gas“ mit angeblich 80% Wirkungsgrad. (Im Labortest gerade mal 18% Effizienz).

Hannibal ante portas
5 Jahre her

Parallelen zwischen 1914 und 2015 sehen ich in erster Linie darin, dass in beiden Fällen die Lenkung des Staatsschiffes denjenigen zufiel, denen es nie hätte zufallen dürfen!!

Thorsten
5 Jahre her
Antworten an  Hannibal ante portas

Ich sehe die Parallelen darin, dass die „deutschen Eliten“ diesem Treiben kein rechtzeitiges Ende setzen können/wollen…

PS: Seehofers „Masterplan“ als Persiflage auf Stauffenbergs Attentat 😉

Frank Gausmann
5 Jahre her

Da muss ich widersprechen: im August 1914 kam die deutsche Kriegsbegeisterung in der Tat ganz überwiegend aus dem missionarisch-narzisstisch beseelten Bildungsbürgertum – das gilt übrigens auch für die meisten anderen europäischen Staaten. Der Rest – die große Mehrheit – ist dann aus Pflichtgefühl und scheinbar herausgefordertem Patriotismus mitmarschiert. Hier gibt es eindeutig Parallelen zu 2015.

Marc Hofmann
5 Jahre her

@Opa Heinrich
Der Überlebenskampf, der uns allen bevorsteht, der kommt einen Krieg gleich. Warten Sie es ab…Deutschland…ein Land OHNE STROM…OHNE INDUSTRIE….OHNE ARBEIT…OHNE WOHLSTAND…dafür mit Mangel und Armut gebeutelt…und eine Einwanderung von Fremden, die ihre Kultur hier in Deutschland verankern will…all dies führt letztendlich zum Krieg der Kutlturen um die Vorherrschaft in Europa.

Der Ketzer
5 Jahre her

„Aber es ist kein Krieg!“
Dass Sie sich mal nicht täuschen. Ein destabilisiertes Land ist immer ein Ziel ausländischer Interessen – siehe Syrien – und wenn es „nur“ eine islamische Revolution ist. Das Potential wird gerade ins Land geholt und bedarf in der von Ihnen beschriebenen Situation nur eines Anreizes (z.B. eines Aufrufs und Waffenlieferungen) von außen.