Das Ideologiepuzzle der Lebensreform ab 1890 lieferte den Stoff für Programm und Praxis der Nazis, sagt Wolfgang Prabel, der Autor des Buches, von dem wir hier reden. Der übliche Blick der Historiker rückwärts auf 1945 bis 1933 verbaue die Erkenntnis: Die NS-Ideologie stammte aus dem Bausatz der Lebensreform. Mitte der 1960er Jahre, so die provokante These von Wolfgang Prabel, habe „die Renaissance der Lebensreform“ begonnen: „Wenn man die alten Bauklötze der Jugendbewegung unter Weglassung des Rassismus und der Germanenschwärmerei, wie von den 68ern praktiziert, wiederverwendet, kommt leider nicht das Gegenteil des Nationalsozialismus heraus, nämlich eine demokratische Bürgergesellschaft, sondern neuerlich ein kleinkarierter, elitistischer Bevormundungsstaat.“ Ist das so?
Die These vom verengten Blick rückwärts, der bei 1933 halt macht, spiegelt sich im taz-Text über die aktuelle Studie des Historikers Nils Franke „zur Rolle des Naturschutzes im Nationalsozialismus“. Den Grünen kann nicht gefallen haben, dass der Werbe-Algorithmus der taz eine Anzeige der grünen Bundestagsfraktion mitten in der Geschichte über braune Grüne platzierte. Sie zeigt, dass Männer, die sich um die Begrünung von Auschwitz und des Westwalls kümmerten, nach 1945 führende Rollen im Naturschutz spielten – in der Bundesrepublik wie in der DDR.
„Grüne Braune“
Welche Kontinuitäten es geben konnte, zeigen die Stationen von Werner Georg Haverbeck aus Bonn: Im antisemitischen Erst-Moritz-Arndt-Bund des bündischen Teils der Evangelischen Jugend Anfang der 1920er, 1928 SA, 1932 Mitglied der Reichsführung des NSDStB. 1933 gründet Haverbeck für Rudolf Höß den „Reichsbund Volkstum und Heimat (RVH)“, um die Naturschutzbewegung unter Kontrolle zu kriegen. 1936 macht Himmler Haverbeck zum SS-Untersturmbannführer. 1937 wird er mit der Arbeit „Lebensbaum und Sonnensinnbild“ bei Eugen Fehrle in Heidelberg zum Dr.phil. promoviert. Nach etlichen Stationen im Auswärtigen Amt, auch zusammen mit Kurt Georg Kiesinger im Aufbau von Propagandasendern im Ausland, ist er ab 1942 als Leutnant im Kriegseinsatz. 1948 Studium im Priesterseminar der anthroposophisch orientierten Christengemeinschaft in Stuttgart. 1950 Priesterweihe, bis 1960 Pfarrer in Marburg, wegen „linker Tendenzen“ beurlaubt. 1983 wird die Beurlaubung aufgehoben, er darf nicht auftreten, aber publizieren. Anfang der 1960er im Kuratorium der Ostermarsch-Bewegung tätig. 1963 gründet er in Vlotho die „Heimvolkshochschule für Umwelt und Lebensschutz“, das „Collegium Humanum“. IG Metall, Anthroposophen, Anhänger Silvio Gesells, Mitglieder der „Humanwirtschaftspartei“ FSU und der frühen Ökologie-Bewegung nutzen das Haus. In den 1970ern bevölkern es auch Leute der „Neuen Rechten“, in den 1980ern wird das Collegium Humanum Zentrum von Holocaust-Leugnern, 2008 verboten. 1975 gelingt ihm die Fusion der Bundesverbände von Natur-, Umwelt- und Lebensschutzgruppen zum „Deutschen Rat für Umwelt und Lebensschutz“, als Schirmherrn gewinnt er Gustav Heinemann. 1978 beruft Erhard Eppler ihn in die „Gustav-Heinemann-Initiative“, 1979 wird er Berater für Umweltfragen von Egon Bahr. Über die genannten Personen sagen diese Verbindungen nichts. Auf die Schnittmengen der alten und neuen Lebensreform zu achten, ist nötig. Von Haverbecks Buch „Rudolf Steiner – Anwalt für Deutschland“ 1989 distanzierten sich Anthroposophen wie Christengemeinschaft.
„Holocaust auf Ihrem Teller“
In Besprechungen des Buches von Peter Bierl: „Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn“ wird deutlich, dass die Zusammenhänge der neuen und der alten Lebensreform in Publikationen grüner Linker durchaus thematisiert werden. Simone Rafael schreibt: „Manche Aspekte zum Thema Rechtsextreme und Umweltschutz sind inzwischen durchaus bekannt. Sie kommen allerdings in Peter Bierls neuem Buch ‚Grüne Braune‘ kaum vor. Hier geht es nämlich vor allem um die kruden und menschenverachtenden Vorstellungen, die der ganzen Umweltschutzbewegung seit ihrem Beginn im Kaiserreich innewohnt. Die Tierschutzorganisation Peta liefert dazu mit einer neuen Holocaust-relativierenden Kampagne ein aktuelles Beispiel, wie Tierschutz in Menschenverachtung umschlagen kann.“ Aber auch private Initiativen arbeiten an dem in der offiziellen Geschichte vernachlässigten Blick auf die Lebensreform als „Gegenbewegungen zur modernen Welt“. Um nichts anderes geht es auch heute. Im österreichischen Anarchismus-Blog heißt es: „Wie in der ersten Jahrhunderthälfte haben in Deutschland antirationale Ideologien Konjunktur, auch im liberalen und linken Spektrum der Gesellschaft. Soziale Verhältnisse werden mit biologistischen Kategorien interpretiert. Postmoderne Kritik an einer angeblichen Herrschaft der Vernunft als Ursache gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, traditionelle Frauenbilder Mütterlichkeit, Emotionalität etc. verklärt als ‚Recht auf Differenz‘, ein Multi-Kulti-Ansatz der von statisch fixierten homogenen Kulminationen und ‚nationalen Identitäten‘ ausgeht. Zwei Strömungen breiten sich derzeit rasant aus, ökorassistische Positionen und New-Age. Die New Age-Szene hat zehntausende von Anhängerinnen. Das Geschäft mit entsprechenden Veranstaltungen, Accessoires und Literatur blüht. Zwölf Prozent der Umsätze im deutschen Buchhandel werden mit Esoterik erzielt.“
„Fleisch und Autos nicht erlaubt“
Auch nachdem ich mich durch Wolfgang Prabels 686 Seiten online kämpfte und im Netz mehr fand, als danach zu erwarten war, bräuchte es noch lange, bevor ich zu einem Schluss kommen könnte, der dem wissenschaftlichen Anspruch genügte. Dafür aber schaue ich schon lange und aufmerksam auf das öffentliche Geschehen in und um viele Länder in Europa und anderswo. Die Kontinuität des Kulturpessimismus am Ende des Kaiserreichs und in der Weimarer Republik, die nie eine wurde, sehe ich nicht in Personen und Organisationen, sondern im Zeitgeist. Von den Personen aus den Zeiten der alten Lebensreform wird es bald schon aus biologischen Gründen gar keine mehr geben. In der Politik sehe ich keine Partei, die von der Lebensreform bestimmt würde, auch die Grünen nicht. Bei den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und im Vereinsspektrum gibt es geistige Kontinuitäten und Verwandtschaften, aber keine, die meinungsbeherrschend wäre. Beim Phänomen Lebensgesundheit bis in das breite Spektrum der Esoterik hinein findet sich so ziemlich alles, Harmloses und Verstörendes – von der Militanz der genannten PETA, über einen „Lobbyismus, der als Heilslehre daherkommt“ bis zur germanischen Kräuterkunde. Auch wenn Harald Martenstein „die Sehnsucht nach moralischer Überlegenheit“ humorig abhandelt, ist es ihm ernst mit der Feststellung: „Gutmenschentum ist gefährlich, es macht die Leute gemein, hochmütig und rücksichtslos.“
„Fleisch und Autos nicht erlaubt“ kommentierte die NZZ: „Unter dem Deckmantel einer nachhaltigen Entwicklung lebt eine Mentalität wieder auf, die man längst überwunden glaubte.“ Zwingli lässt grüßen. Hasso Mansfeld schrieb: „In Wirklichkeit sind natürlich die großen NGOs längst selbst zu weltumspannenden Konzernen mit einem Milliardenumsatz geworden. Greenpeace etwa akquirierte in den vergangenen Jahren jeweils mehr als 40 Millionen Euro an Spendengeldern allein in Deutschland, und die radikale Tierrechtsvereinigung PETA noch immer mehrere Millionen. Das funktioniert nur, weil sich diese Organisationen zu quasi religiösen Institutionen entwickelt haben. Der sporadische Spender erwirbt bei der NGO seines Vertrauens einen Ablassbrief wie früher der Sünder bei der katholischen Kirche. Nun kann man sich gut fühlen, man hat etwas für die gerechte Sache getan. Wie fanatische Gläubiger agieren dann die aktiven Anhänger ihrer jeweiligen Vereinigung. Mit missionarischem Eifer wird gefochten und debattiert, man weiß sich sicher auf der Seite des Guten.“ Wenn Kinder mit Wurstsemmeln in der Schule von Mitschülern als Mörder beschimpft werden, läuft etwas mächtig aus dem Ruder. Auch wenn Leute aus dem autonomen Milieu Haltestellen mit Pflastersteinen „entglasen“ und im Netz mit dem Foto eines Transparents begleiten „Troika, G7, Frontex, Leipzig, Deutschland – Es kotzt uns an! Der Aufstand wird kommen!“ Das Ausmaß an Hassparolen auf Facebook und anderswo im Internet ist alarmierend.
Von Zukunftsangst zu Fortschritts-Feindlichkeit
Beherrschend ist ein Zeitgeist, in dem Kulturpessimismus als tatsächliche Angst vor vermeintlichen Folgen der Globalisierung genauso existiert wie als Attitüde unserer satten Wohlstandsgesellschaft. Am Ende des Kaiserreichs und in der ersten Republik konnten die alten Eliten den Menschen die neue Zeit nicht erklären, geschweige denn Perspektiven aufzeigen. Heute fehlt unseren Eliten der mentale Zugang zu Industrie 4.0, dort wursteln sie sich ebenso durch wie in der Finanz- und Eurokrise, bei den weltweiten Flüchtlings- und Migrationsströmen und internationalen Konflikten. In der Weimarer Republik nahm die NSDAP erst viele Positionen der alten Lebensreform in Besitz und gewann dann damit vor allem immer mehr junge Wähler. In der Berliner Republik haben viele Positionen der neuen Lebensreform Programme und Politik aller Parteien in Besitz genommen, so sehr, dass die Grünen das Monopol aufs Grüne und die Roten das Monopol aufs Rote verlieren. Auch damals waren die Jungen aus der Mittelschicht die Träger des Zeitgeists. Bei der Reichstagswahl 1933 gelang Hitler „ein glatter Einbruch in das Lager der Linkselitaristen. Die KPD verlor fast 5 % … bei der Machtergreifung … (handelte es sich) um den Sieg einer Jugendbewegung …“. Die Prozente unter den nach 1890 Geborenen im Verlauf der Wahltermine zeigen es deutlich:
Von der Lebensreform beeinflusst waren DDP, DVP, NSDAP, DVFP, DAP, DSP, Landvolk, USPD, KPD, Landbünde. Nur die „Sozialdemokraten in ihren großindustriellen Bollwerken und die Katholiken in ihren Dorfkirchen … überlebten … als relativ eigenständige Kräfte einigermaßen unbeschadet … Alle anderen … waren modischen Strömungen zugänglich“ (Prabel).
Auch Globalisierungsgegner, militante Veganer und Tierschützer, ob sie sich selbst links oder rechts einordnen, rekrutieren sich nicht aus Arbeitslosen, sondern aus der „Mitte der Gesellschaft“ – wie damals in der Weimarer Republik. Karl Marx schrieb einmal: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Für die Farce spricht die Antwort, die Demonstranten beim G7-Gipfel im bayrischen Idyll einer Reporterin auf die Frage gaben, warum sie demonstrieren: „Weil wir es von unseren Eltern so gelernt haben.“ Ob es bei solcher Farce bleibt oder die Tragödie auch noch hinzutritt, frage ich mich bei der Attraktivität von autoritären Systemen in Asien auf so manche westliche Intellektuelle, die ebenso wenig beachtet wird, wie sie existiert. Aber das ist eine eigene Geschichte.
Feind Marktwirtschaft
Der relevanteste Bezug zur Gegenwart und Zukunft ist für mich die schrittweise Abkehr vom kurzen Aufleben der Marktwirtschaft in Deutschland. Einen Kapitalismus der Marxschen Definition wie jener der „Österreichischen Schule“ hat es in den USA nie gegeben, nicht in England und schon gar nicht in Deutschland oder Österreich – übrigens auch nicht in der Schweiz. Aber Ludwig Erhard hat die Gunst der Stunde, den historischen Augenblick genutzt und seinem Land mit der DM und unter dem PR-Titel „Soziale Marktwirtschaft“ einen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung verpasst, von dessen Folgewirkungen Deutschland noch heute zehrt. Schaue ich jedoch auf die Entwicklung, die schon vor der deutschen Vereinigung einsetzte, entfernt sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik aller Parteien kontinuierlich umso mehr von seinem Erbe, je mehr Politiker aller Parteien Ludwig Erhard in ihren Sonntagsreden für sich reklamieren. Bisher retten deutsche Unternehmen aller Größenordnungen ihre Wirtschaftlichkeit, die sie zuhause nicht mehr sicherstellen können, in anderen Ländern und Weltteilen. Immer mehr Arbeitsplätze und damit Wohlstand in Deutschland hängen davon ab, dass diese Unternehmen anderswo nicht unter deutschen und EU-Regulierungen wirtschaften müssen.
Der Kampf der deutschen Zünfte gegen die Eisenbahn speiste sich aus der gleichen Geisteshaltung wie der Kampf politischer und anderer Lobbys gegen TTIP. Uns geht’s gut, damit das so bleibt, darf sich nichts ändern. Dass Marktwirtschaft nicht alles ist, aber ohne Marktwirtschaft alles nichts, scheinen jene nicht zu wissen, die ihr allen Wohlstand verdanken. Alle reden von den Flüchtlingen im Mittelmeer, aber niemand von der Abschottung gegen Importe aus Afrika – nicht zuletzt durch die protektionistische EU. Wen kümmert es schon, dass Schwarzwälder Schinken sowieso nicht von Schwarzwälder Sauen stammt, wenn sich damit gut Stimmung gegen das Diktat der Amerikaner machen lässt. Genau so wie die Deutschen in wohltuender Selbstgefälligkeit als Mülltrenner zu hinterfragen vergessen, ob Anspruch und Wirklichkeit in der völlig unübersichtlichen und intransparenten Abfalllandschaft übereinstimmen, und ohne zu merken, wie auffällig die EU sich hier mit ihrer sonst pathologischen Vereinheitlichungswut zurückhält.
Susanne Kablitz erinnert an Ludwig von Mises, der dargelegte, dass von zehn Programmpunkten im Kommunistischen Manifest von Karl Marx „acht im Dritten Reich vollständig verwirklicht wurden. Nationalsozialismus und Marxismus stimmen in ihrer Gegnerschaft gegenüber dem Liberalismus und in der Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung vollkommen überein.“ Götz Aly zeichnet in seinem Buch „Hitlers Volksstaat“ das NS-System als nationalsozialistischen Wohlfahrtsstaat, als Gefälligkeitsdiktatur, in der Hitler und seine Leute als klassische Stimmungspolitiker agierten – als Populisten würden wir heute sagen. Unsere aktuelle Lage fasst Susanne Kablitz so: „Überbordende Staatsschulden und das Euro-Desaster prägen das heutige Europa. Die christlich-abendländische Tradition und ihre Werte spielen längst keine prägende Rolle mehr, das geistige Fundament der Aufklärung hat sich verflüchtigt. Die westlichen Wohlfahrtsstaaten definieren sich scheinbar nur noch durch einen krassen und oberflächlichen Materialismus. Eigenständiges Denken und Handeln eines freien und selbstverantwortlichen Individuums ist dem gelenkten und genormten Sozialstaats-Untertan gewichen. Die einst marktwirtschaftlich geprägte Bundesrepublik verkommt langsam aber sicher zu einer ‚DDR-light‘.“
Liebe Leute, es ist Zeit für Ludwig Erhard 4.0. Mindestens.
Teil 1 lesen Sie hier und Teil 2 da.
Wolfgang Prabel: Der Bausatz des Dritten Reiches: Die deutsche Kulturrevolution 1890 bis 1933 [Kindle Edition], 686 Seiten. edition:freiheit, Deutscher Arbeitgeberverband.
Autor Dr. Wolfgang Prabel ist Bürgermeister von Mechelroda in Thüringen und betreibt ein Geschäft für Antiquitäten und Geschenke. Prabel ist Ingenieur und gehörte 1989 zu den aktiven Mitbegründern des Demokratischen Aufbruchs. Mit Freunden zusammen organisierte er erfolgreich den Generalstreik zur Auflösung der Stasi. Prabel publiziert auf einem eigenen Blog und bei anderen. Sein Interesse gilt den Widersprüchen zwischen Dichtung und Wahrheit.
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