Grill, lange Jahre Korrespondent für Afrika der Wochenzeitung „Die Zeit“ und seit 2013 für den „Spiegel“ tätig, widmet sich in seinem jüngsten Buch „Wir Herrenmenschen“ der deutschen Kolonialgeschichte. Er sieht sie, das verrät bereits der Untertitel, als „unser rassistisches Erbe“. Der Vorzug von Grills Buch ist, das vorab, dass es die deutsche Kolonialgeschichte erstmals umfassend journalistisch erzählt. Der geneigte Leser, die geneigte Leserin, muss sich hier nicht durch historische Beschreibungen mit vielen Fußnoten quälen. Grill verwebt die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika, China und der Südsee mit persönlichen Erlebnissen. Auch sein Großvater kommt vor, der alte Bartholomäus Grill.
Der Autor und Enkel Grill fragt nun: „Wie prägen uns koloniale Denkweisen und Verhaltensmuster bis heute?“ Damit trifft Grill natürlich mitten in die Debatte um die Bewusstwerdung des deutschen Kolonialismus. Wir hätten begriffen, dass jede Form von Kolonialismus auf Unrecht beruht. Aber unsere „kolonialen Denkmuster“ hätten wir, bei aller Weltoffenheit, noch nicht überwunden. Als einen Beleg zitiert Grill schon im ersten Kapitel seines Buches den Afrika-Beauftragten der Bundeskanzlerin Günter Nooke. Der wolle in Afrika Wirtschaftssonderzonen einrichten, in denen Migranten ansiedeln könnten. Für Grill verwendet Nooke „Denkfiguren der Kolonialära“. Grill schließt aus Nookes Vorschlag, dass dieser Teile Afrikas wieder unter Kuratel stellen will. Man müsse nur die Bezeichnung ändern und „Schutzgebiet“ durch „Sonderzone“ ersetzen. Grill erwähnt nicht, dass der Vorschlag von Nobelpreisträger Paul Romer stammt, den Nooke lediglich zitiert hat.
Man kann die Idee nun gutheißen oder nicht, als Beleg für eine „paternalistische Haltung“, gar ein „rassistisches Erbe“ taugt sie nicht. Grill überhöht sich moralisch. Der „alte Kolonialromantiker“ Großvater Grill war eben noch nicht so weit. Leider ist aber der Zeitgenosse Nooke auch noch auf dem Stand des „Durchschnittsbürgers“ und nicht so weit (wie Grill, der die Denkmuster durchschaut hat).
Grill schildert Unterdrückung und die Grausamkeit deutscher Kolonialherrschaft. Doch es gelingt ihm, in seiner Reise durch die Kolonialgeschichte, Unterschiede in der Führung der einzelnen Kolonien herauszuarbeiten; so lassen sich durchaus gutwillige Gouverneure und Missionare erkennen. „Graf von Zech legte auch Wert darauf, dass der allgemeine Bildungsstand der Afrikaner verbessert wurde. Die drei größten Missionsgesellschaften im Lande [Togo] unterrichteten über 10000 Kinder, allein die katholische Steyler Mission betrieb 178 Schulen, die evangelische Norddeutsche hatte 133 aufgebaut.“ Er erwähnt auch, dass die Kolonien zwar ausgebeutet werden sollten, dem Reich aber ein Vielfaches mehr kosteten, als erwirtschaftet wurde.
Die kurze deutsche Kolonialgeschichte war kein harmloses Zwischenspiel. Aber ich habe in vier Jahren in Kamerun häufig Menschen getroffen, die sich gerne – vermutlich vom Hörensagen in der Familie – an die autoritäre Ordnung der Kolonialzeit erinnern, weil sie zumindest den Schein von Gerechtigkeit bot. Die hässlichen Seiten des kolonialen Alltags mit ihren rassistischen Diskriminierungen, die Praxis des Arbeitszwanges und der Strafjustiz werden ausgeblendet oder sind nicht mehr bekannt.
Grill beherrscht die Phraseologie des Zeitgeistes, wenn er schreibt: „Es ist der koloniale Blick, der unsere Sicht der Welt bis heute prägt.“ Auch von einigen Kolonialhistorikern und Medien wird das schmerzvolle und tief verwurzelte afrikanische Trauma der Kolonialzeit bemüht. Afrikanische Politiker, oft von deutschen Gesinnungsethikern unterstützt, führen die Misere in ihren Ländern ausschließlich auf die Kolonialzeit zurück, um sich als Opfer von ihrem eigenen Versagen abzulenken.
Mein französischer Kollege in Jaunde ärgerte sich häufig, dass Missstände nicht uns, sondern nur den Franzosen, die nach dem Ersten Weltkrieg die Herrschaft im größten Teil des Landes übernahmen, angelastet wurden. Aber auch das „Trauma“ der französischen Kolonialzeit (1919 bis 1960) ist offenbar nicht tief verwurzelt. Wie anders wäre zu erklären, dass jeder gut situierte frankophone Afrikaner selbstverständlich seine Kinder auf Schulen oder Universitäten nach Frankreich schicken möchte und die Visaerteilung durch Frankreich in allen Ländern, in denen ich tätig war, ein viel diskutiertes Thema ist?
Erfreulich, dass Grill noch einmal auf seine Recherchen zur Frage des Völkermordes in Namibia eingeht. Im Juni 2016 war im Spiegel sein Report unter der Überschrift „Gewisse Ungewissheiten“ erschienen, der scharfe Reaktionen seitens der Vertreter der Genozid-These auslöste. Er war zu dem Schluss gekommen „was tatsächlich geschah und was nur erfunden ist, lässt sich kaum beurteilen“. Grill bemängelt, „dass der Terminus Völkermord stetig ausgeweitet und immer unschärfer gebraucht wird“. Ein echter Diskurs scheine mittlerweile unmöglich geworden zu sein. Zwei Auffassungen stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Die Political Correctness ganz durchzuhalten, fällt offenbar auch Bartholomäus Grill schwer. Vielleicht ist sein schönstes Beispiel das des Hamburger Unternehmers Detlev Woermann, der nicht gerne über die „dunklen Seiten der Vorgeschichte“ seines Handelshauses spreche. Wider Erwarten empfängt er Grill und erzählt ihm von seinem herzlichen Empfang bei den Bamum in Kamerun. Beide Seiten möchten, dass der Kontinent durch gute Handelsbeziehungen vorankommt.
Volker Seitz, der Autor dieses Beitrags, war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe erschien im September 2018. Volker Seitz publiziert regelmäßig zum Thema Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika und hält Vorträge.
Das hier besprochene Buch von Bartholomäus Grill trägt den Titel „Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte“ und erschien im März 2019 bei Siedler.