Tichys Einblick
Ein im positiven Sinn provokantes Buch

Der Westen braucht Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung

Nur als „Europa der Nationen“ und nicht als EU-Staat über allen Nationalstaaten hat Europa eine Chance gegen den islamischen Globalismus und den chinesischen Nationaldarwinismus, schreibt Heinz Theisen in seinem mutigen Buch zur Lage der Welt, Europas und Deutschlands.

Wer im Moment ein Sachbuch zur globalen Lage und im Besonderen zur Situation Europas und Deutschlands schreibt, geht ein Wagnis ein. Denn mit dem Erscheinen des Buches, ja oft schon mit der Abgabe des Manuskripts, kann letzteres teilweise schon überholt sein. Siehe die COVID-19-Pandemie, den Abzug des Westens aus Afghanistan, den Überfall Russlands auf die Ukraine, die Wahlen in Frankreich … Dennoch ist es gut, wenn kundige Leute dieses Wagnis eingehen – selbst auf die Gefahr hin, dass so mancher kundige Leser bei der Lektüre eines neuen Buches das eine oder andere Kapitel schon als überholt ansehen muss.

Der international tätige Politikwissenschaftler und Publizist Heinz Theisen ist einer, der mit seinem jüngsten Buch das beschriebene Wagnis eingegangen ist. Der Titel seines Buches lautet: „Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen.“ Dieses Buch ist Ende 2021 fertiggestellt worden und wenige Tage nach Putins Überfall vom 24. Februar 2022 auf die Ukraine um ein zehnseitiges Kapitel zur Ukraine ergänzt worden.

Vorweg ein Gesamteindruck: Es ist ein sehr umsichtiges Buch, das mit 389 Seiten auf alle wichtigen globalen Entwicklungen eingeht und diese historisch sowie kulturgeschichtlich unterkellert: Der „Westen“ wird definiert als ein Kulturkreis der Säkularität, Ausdifferenzierung, Rechtsstaatlichkeit, Freiheitsrechte des Individuums, vor allem auch der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Die Rolle der USA wird wohlwollend kritisch dargestellt, die islamische Welt problematisiert, der Rückfall Afrikas, samt seiner Gründe schonungslos beschrieben, Chinas Aufstieg analysiert; Israel spielt eine Rolle, ebenso die „re-islamisierte“ Türkei (die Heinz Theisen am liebsten aus der NATO entlassen sieht), die NATO als Verteidigungs- und Wertebündnis und vor allem die Europäische Union …

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Es ist ein mutiges Buch, das in erfreulicher Weise an vielen Stellen so gar nicht in den Mainstream (Theisen: „Gesinnungsoligarchie“ – alimentiert qua Rundfunkgebühren und Kirchensteuer) passen will. Die Globalisierung mit ihrem „blanken Illusionismus“ kommt nicht gut weg, das Asylrecht ebenso wenig. Den vom Konstruktivismus geprägten Geistes- und Sozialwissenschaften wirft der Autor Realitätsverkennung, Beschönigung der Welt und die Verdrängung selbst manifester Gefahren vor.

Zumal Deutschland mit seiner „Neigung zur romantischen Überhöhung der Wirklichkeit“, seiner Willkommenskultur, seiner Energiewende, seinem Genderparadigma, seiner Einebnung der Gewaltenteilung, der Islamophilie der Linken, dem Versuch einer Globalisierung typisch deutscher Ängste (Klimawandel!) seinem – vor allem historisch unterbelichteten – Führungspersonal und seinen „prekären Akademikerexistenzen“ kommt schlecht weg. Deutsche Sonderwege wieder einmal! Sonderwege allerdings auch, die Deutschland mit seiner Grenz-, Energie- und Außenpolitik zum Geisterfahrer des Westens gemacht haben. Am Rande: Was westliche Wertordnung betrifft, sind Südkorea und Japan westlicher als die Deutschen. Dort atomisiert man das eigene Volk nicht in ein Konglomerat an exaltierten, identitären Klein- und Opfergruppen.

Mutig ist das Buch auch in den Kapiteln, in denen die kulturelle und wissenschaftliche Überlegenheit des Westens der letzten tausend Jahre festgehalten wird. Die islamische Welt und auch das orthodoxe Europa seien dahinter zurückgefallen. Diese westliche Überlegenheit sei der ganzen Welt zugutegekommen. Siehe allein die Medizin! Nunmehr aber pflege der Westen, Deutschland voran, vor allem Selbstverleugnung. Das heißt, auch wenn es der Autor so nicht nennt: Der Verlust an Selbstachtung und der Verzicht auf Wehrhaftigkeit sind Anzeichen von Dekadenz. Kulturmarxismus à la Antonio Gramsci und Georg Lukács ist eben angesagt

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Wird sich Europa über Wasser halten? Unter dem Strich überwiegt bei Theisen die skeptische Betrachtung. Wörtlich bereits auf Seite 11: „Der Niedergang des Westens mag nicht mehr verhindert, aber doch um einige Zeit aufgeschoben und in erträgliche Bahnen gelenkt werden können (…) Mit einer Stabilisierung des besonders gefährdeten Europas und der freiheitlichen westlichen Kultur werden wir kommenden Generationen zumindest die Fristen verlängern, in denen sie Freiheit und Wohlstand für ein selbstbestimmtes Leben nutzen können.“ Wie kann das wenigstens für ein paar Generationen gelingen?

Theisen scheut sich nicht, an verschiedenen Stellen seiner Ausführungen dreimal das seit Jahren diskreditierte Prinzip einer „Festung Europa“ ins Spiel zu bringen. Hier bemüht der Autor bewusst den Begriff „Bürger“, den er etymologisch auf „Burg“ zurückführt. Deshalb müsse Schluss sein mit der Entgrenzung Europas, das offenbar seine bedrohte Lage gar nicht mehr erkennen und keine Kulturen, keine Nationen und nur noch die „Eine Welt“ kennen wolle. Der Glaube an eine Universalisierbarkeit von Säkularität, Nationalstaatlichkeit, Demokratie, Zivilgesellschaft und individuelle Werte sei aber irreal.

Theisen setzt dagegen: Schluss mit Grenzenlosigkeit! „Selbstbehauptung und Selbstbegrenzung als postideologische Kategorien!“ De-Globalisierung! „Slowbalisierung“! Das heißt: Es müsse ein Ende haben mit einem europazentrierten Werteimperialismus, der im Kern nichts anderes sei als kultureller Relativismus nach innen und politischer, plump neoliberaler Universalismus.

Theisen setzt ferner dagegen: Es muss Schluss sein mit der Dekonstruktion des Christentums, mit dessen wohlfühlethischer, humanitaristischer Moralisierung, mit dessen Überwindung durch ersatzreligiöse Versatzstücke sowie mit dessen Ersatz der Nächstenliebe durch Fernstenliebe. „Opium für Intellektuelle“ nennt Theisen diesen Trend. Theissen erinnert stattdessen an das dem Christentum immanente Prinzip einer Trennung von geistigen und weltlichen Kategorien, an „gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“, an das benediktinische „ora et labora!“ Mit dieser Dualität sowie mit den Zehn Geboten und der christlichen Sozialllehre mit ihren Prinzipien der Personalität, Subsidiarität und Solidarität habe sich Europa in der Weltgeschichte an die Spitze gesetzt.

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Das ist alles richtig und mutig. Manchmal kann man anderer Meinung als Theisen sein. Das Narrativ, dass der Westen die Ukraine in eine Falle gelockt habe, damit in die russische Einflusssphäre eingedrungen sei und den Überfall Putins ausgelöst habe, muss man nicht teilen. Soll das auch für das Baltikum gelten? Und gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten nicht mehr? Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland mit der NATO-Russland-Akte von 1997 einer NATO-Osterweiterung zugestimmt hat – mit der Maßgabe eines Verzichts auf die Stationierung von Atomwaffen in den Beitrittsländern. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die NATO im April 2008 ein Beitrittsbegehren der Ukraine abgelehnt hat.

Nicht teilen muss man auch die Ansicht (auch wenn sie mit Samuel Huntington begründet wird), dass die Ukraine eigentlich östlich-orthodox und nicht westlich sei. Nein, die Ukraine hat in ihrer historischen DNA auch den Holodomor, den von Stalin zu Beginn der 1930er Jahre inszenierten millionenfachen Hungertod. Dieses Morden ist latent da und ein Keil zwischen der Ukraine und Russland. Auch die Anerkennung des Papstes durch die Ukrainisch-Orthodoxen muss mitbedacht werden. Aber zur Verteidigung des Autors: Das Buch wurde bereits in den ersten Tagen nach Putins Überfall auf die Ukraine abgeschlossen. Heute sieht man manches anders.

Was bleibt dem Westen? Kriege führen, um die ganze Welt zu demokratisieren? Nein, denn der Westen hat bislang in keiner fremden Kultur einen Krieg gewonnen. Weder in Afghanistan, noch in Vietnam, noch in Syrien, noch in Libyen usw. Freilich kann sich die westliche Führungsmacht USA da leichter aus der Affäre ziehen: Die USA sind von zwei Ozeanen geschützt; im Norden und im Süden haben sie keine militärischen Bedrohungen. Bedroht sind sie allenfalls durch den aus Mexiko kommenden Drogen- und Menschenhandel.

Und Europa? Für Theisen ist ein Paradigmenwandel vom europäischen Universalismus zur Koexistenz wichtig. Die Welt wird sich nicht noch einmal europäisieren. Eher wird sich die Welt ent-europäisieren. Auch Europa steht kurz vor einer (selbstgewählten) Ent-Europäisierung, wenn es sich nicht seiner Leitkultur und seiner Leitstrukturen besinnt. In diesem Sinne möchte Theisen Europa neu gedacht wissen: als „Europa der Nationen“ und nicht als EU-Staat über allen Nationalstaaten. Nur dann hat Europa eine Chance gegen den islamischen Globalismus und den chinesischen Nationaldarwinismus.

Alles in allem: Diesem Buch sind viele Leser zu wünschen. Hoffentlich auch in politischen Führungszirkeln. Denn es ist ein Buch, das Veränderungen auf der Welt ganzheitlich betrachtet und mit mehr als 400 Anmerkungen bzw. Quellen bestens belegt. Das Buch ist äußerst sachkundig, in der Bewertung markant, an manchen Stellen auch provokant. So stellt man sich ein erkenntnisgewinnbringendes politisches Buch vor.

Heinz Theisen, Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen. Edition Olzog im Lau-Verlag, 389 Seiten, 24,- €.


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