Was macht der Verfassungsschutz? Er liest und wird dann interpretatorisch tätig. Zum Beispiel las dieses Jahr das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz drei Monate lang Tichys Einblick (online) und erhob dann öffentlich den – inzwischen zurückgenommenen – absurden Vorwurf, TE verbreite „im Rahmen der russischen Auslandspropaganda Narrative des Kremls“. Da fragt man sich: Wer braucht wozu den Verfassungsschutz? Matthias Brodkorb (geb. 1977), früher Wissenschafts- und Finanzminister (SPD) von Mecklenburg-Vorpommern, stellt diese Frage grundsätzlich in seinem aktuellen Buch: „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik“.
Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert. Kapitel 1 und 2 behandeln die Aufgaben des Verfassungsschutzes und seinen Einsatz als politisches „Kampfinstrument“. Den Hauptteil (Kapitel 3 – 8) bilden die sechs Fallstudien: Zwei gehören zum Beobachtungsbereich „Linksextremismus“ (Bodo Ramelow, Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner) und sind gerichtlich abgeschlossen. Den „Rechtsextremismus“ betreffen drei noch laufende Gerichtsverfahren, nämlich Martin Wagener (Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung), das – bis Mai 2024 bestehende – „neurechte“ Institut für Politik in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) und die Partei AfD.
Die sechste Fallstudie ist dem 2021 vom Verfassungsschutz-Präsidenten Thomas Haldenwang eingeführten neuen Beobachtungsbereich „Delegitimierung des Staates“ gewidmet. Das Schlusskapitel stellt (auf S. 195) die berechtigte Frage, „ob die Schäden, die der Verfassungsschutz in zunehmendem Maße verursacht, nicht zu groß sind, als dass eine gefestigte liberale Demokratie sie auf Dauer zu ertragen bereit sein sollte.“
Wofür ist der Verfassungsschutz zuständig? Vereinfacht gesagt, nicht für Taten, sondern für Gedanken, genauer: politische Gedanken, die sich in Worten äußern und denen Taten folgen könnten. Nach §3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes ist seine Hauptaufgabe „die Sammlung und Auswertung von Informationen … über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung [der Bundesrepublik Deutschland] … gerichtet sind.“ Hierzu prüfen das Bundesamt und die 16 Landesämter für Verfassungsschutz in erster Linie Texte (Programme, Reden, Äußerungen u. Ä.) und stufen deren Urheber als „Prüffall“, „Verdachtsfall“ oder „gesichert extremistisch“ ein.
Über Ergebnisse seiner Arbeit berichtet der Verfassungsschutz regelmäßig in der Öffentlichkeit (die jährliche Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes des Bundes ist inzwischen ein Medienereignis) und mit ausdrücklicher Nennung von Personen und Organisationen, die er beobachtet. Für die Betroffenen hat dies eine Prangerwirkung. Man kann sich zwar gegen die Bewertungen des Verfassungsschutzes gerichtlich wehren, aber das kostet – wie die Fallstudien von Brodkorb zeigen – viel Geld und, vor allem, viel Zeit: Zum Beispiel brauchte der spätere thüringische Ministerpräsident (2014, 2020 – z. Z. geschäftsführend) Bodo Ramelow zehn Jahre, bis schließlich 2013 das Bundesverfassungsgericht seine Beobachtung durch den Verfassungsschutz als „nicht gerechtfertigt“ und „unverhältnismäßig“ erklärte.
Ramelow (geb. 1956) wurde 27 Jahre lang vom Verfassungsschutz beobachtet. Rolf Gössner (geb. 1948), der als Rechtsanwalt sich beruflich in einem, laut Verfassungsschutz, „gesichert linksextremistischen“ Milieu bewegte (Kontaktschuld!), stand sogar vier Jahrzehnte lang unter Beobachtung. 2005 erhob er dagegen Klage, der Rechtsstreit dauerte dann über drei Instanzen fünfzehn Jahre und endete 2020 durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, das diese Beobachtung als „unverhältnismäßig“ und „unangemessen“ bewertete.
Wer soll diese Papierflut lesen und richtig verstehen? Die „Verfassungsfeinde“ – neuerdings auch „Demokratiefeinde“ genannt – sagen ja nicht direkt, dass sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sind. Der Verfassungsschutz muss dies aus ihren Äußerungen erschließen, also zwischen den Zeilen lesen. Dazu braucht es einen sprachkritischen Umgang mit Texten, über den er nicht verfügt. Kurzum: Die sprachbezogene Argumentation des Verfassungsschutzes ist – wie das folgende Beispiel zeigt – dilettantisch.
Als einen Hauptbeleg für den Rechtsextremismus der AfD führt der Verfassungsschutz deren Verwendung des Ausdruckes „deutsches Volk“ an: Sie verstehe darunter nicht nur die Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen (Staatsvolk), sondern auch eine „ethnische“ Gemeinschaft und diskriminiere damit die Deutschen mit Migrationshintergrund.
Sprachgeschichtlich ist diese Argumentation abwegig: Das deutsche Staatsvolk gibt es erst seit 150 Jahren, durch die Gründung des Deutschen Reiches von 1871, dessen Staatsziel laut Reichsverfassung (Präambel) „die Wohlfahrt des Deutschen Volkes“ war. Der Volksname „deutsch“ ist aber eintausend Jahre älter, und der Ausdruck „deutsches Volk“ lange vor der Reichsgründung geläufig, zum Beispiel bei Goethe, der 1813 sagte: „Ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist“. Goethe konnte damals unter „deutsches Volk“ noch nicht das Staatsvolk (griechisch Demos) verstehen, sondern meinte eine Bevölkerung mit kollektiver Identität (griechisch Ethnos), die auf gemeinsamer Sprache, Kultur und Geschichte beruht.
Dieser ethnische Volksbegriff ist 1871 durch den politischen nicht verdrängt worden, sondern besteht sprachlich daneben weiter: Die Mehrheit der heutigen „Deutschen“ sind ethnisch und politisch deutsch. Es gibt aber auch ethnische Deutsche, zum Beispiel die Angehörigen der deutschen Minderheit in Belgien, Ungarn oder Rumänien, die keine deutschen Staatsbürger sind, und andererseits deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund, die sich ethnisch als „Französin“, „Türke“, „Afghane“ usw. bezeichnen (und häufig zusätzlich die Staatsangehörigkeit ihres Herkunftslandes besitzen). Fazit: Das deutsche Staatsvolk (Demos) ist ethnisch vielfältig, und die Wörter „(deutsches)Volk“ bzw. „Deutsche(r)“ haben eine ethnische und/oder politische Bedeutung.
Nicht behandelt werden von Brodkorb die Kosten des Verfassungsschutzes. Allein das Bundesamt für Verfassungsschutz (4500 Bedienstete) kostete 2023 knapp eine halbe Milliarde Euro. Das Geld könnte für nützlichere Zwecke verwendet werden.
Mathias Brodkorb, Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien. zu Klampen Verlag, Hardcover mit Überzug, 248 Seiten, 25,00 €.