Tichys Einblick
Der autoritäre Terror

Der Inbegriff von Freiheit ist das Wort „Nein!“

Ben Shapiro ist Gründer und Chefredakteur der konservativen Nachrichtenseite „The Daily Wire“ und zählt zu den führenden Intellektuellen der Vereinigten Staaten. In seinem neuen Buch setzt er sich mit Meinungsautoritarismus auseinander. Im Folgenden lesen Sie Auszüge aus dem Vorwort

Schenkt man den machthabenden Institutionen Glauben, so stellt der Autoritarismus eine ernsthafte Gefahr für die Vereinigten Staaten von Amerika dar. Die Social-Media-Freaks und Technik-Geeks, die Unternehmensbosse und Uniprofessoren, die Demokratische Partei, die Hollywood-Schickeria und die sogenannten Establishment-Medien, die als voreingenommene Förderer eines bestehenden Systems des Regierens und des Denkens auf Kosten objektiver Perspektiven wahrgenommen werden – sie alle stimmen darin überein, dass die autoritäre Bedrohung unmittelbar von der politischen Rechten ausgeht.

Diejenigen, deren Glaubenssätze weite Teile des amerikanischen Lebens bestimmen, sind sich auch darin einig, dass sich die autoritäre Bedrohung an einem ganz bestimmten Tag am eindrücklichsten offenbart hat. Dieser Tag war der 6. Januar 2021.

An jenem Mittwoch fand ein Sturm auf das Kapitol in Washington statt. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Randalierer setzten sich von einer sehr viel größeren Gruppe friedlich demonstrierender Trump-Unterstützer ab und verschafften sich gewaltsam Zutritt zum Parlamentsgebäude. Viele von ihnen hegten das Ziel, den Kongressabgeordneten und dem Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Mike Pence, Gewalt anzutun. Sie erhofften sich, dadurch den Senat und das Repräsentantenhaus an der formellen Bestätigung des Sieges von Joe Biden bei der Präsidentschaftswahl 2020 zu hindern und Donald Trump auf diese verfassungswidrige Weise zur Fortsetzung seiner Präsidentschaft zu verhelfen. […]

Alle Amerikaner guten Willens – aus allen politischen Lagern – verurteilten die Ausschreitungen des 6. Januar. Nachdem Sicherheitskräfte das Kapitol wieder geräumt hatten, wurde die Sitzung fortgesetzt, und Vizepräsident Pence persönlich beaufsichtigte die Auszählung der Stimmen bis zum Ende. […]

Aber für die politische Linke stellten die Aufstände des 6. Januar nicht nur eine allgemein verurteilte kriminelle Handlung dar. Sie verkörperten den Gipfel des rechten Autoritarismus. […]

Eine unverzichtbare Streitschrift
Wie der Westen im Zeitalter der Unvernunft bestehen kann
Doch was wäre, wenn die größte autoritäre Gefahr für Amerika nicht von den bösen Verschwörungstheoretikern, Schwachköpfen und Kriminellen ausginge, die das Kapitol gestürmt hatten? Was, wenn die größte autoritäre Gefahr für das Land nicht eine verfemte Gruppe von Agitatoren wäre, die sich alle lächerlich machten, als sie sich, in Camouflage kostümiert und in Büffelfell gewickelt, in den heiligen Hallen der amerikanischen Demokratie austobten? Was, wenn die größte autoritäre Gefahr für die amerikanische Freiheit von ganz woanders herkäme?

Was, wenn die unmittelbarste Bedrohung ausgerechnet von denen da oben ausginge, den Institutionen, den Mächtigen, den Meinungsbildnern, den Entscheidern, den respektierten Journalisten, die für renommierte Zeitungen schreiben, den Akademikern, die in strahlenden Elfenbeintürmen sitzen, den Hollywood-Größen, die in glitzerbunten Büros Geschäfte machen, den IT-Nerds, die im Silicon Valley in die Tasten hauen, und den CEOs, die in den Chefetagen der Unternehmensgiganten regieren?

Autoritarismus der Machthabenden

Was, wenn die größte autoritäre Gefahr in Wirklichkeit von einer Herrscherklasse ausginge, die die Werte von halb Amerika verachtet, und von den Institutionen, die diese Klasse kontrolliert? Was, wenn der schleichende Autoritarismus der Machthabenden sich seit Jahren langsam ausgeweitet hätte, unbemerkt?

Was, wenn es nicht nur einen Autoritarismus gäbe, sondern viele – und was, wenn er, wie ein Virus, verschiedene Stämme hätte und der ansteckendste davon nicht die Angst, die Paranoia wäre, die sich gelegentlich auf der Rechten breitmacht, sondern die unverdient selbstbewusste moralische Tugend auf der Linken? Mehr als sechs von zehn Amerikanern geben an, dass sie Angst haben, das zu sagen, was sie denken, und zwar eine Mehrheit der Liberalen, 64 Prozent der Moderaten und 77 Prozent der Konservativen.

Allein die Umfrage-Teilnehmer, die sich selbst als „sehr liberal“ bezeichnen, fühlen sich heutzutage sicher und selbstbewusst genug, frei und offen ihre Meinung kundzutun. Linksautoritär zu sein bedeutet heute, sich in der Sicherheit des Anti-Konventionalismus zu wiegen, eine Leidenschaft für die Top-Down-Zensur zu haben und den Nervenkitzel der revolutionären Aggression zu spüren.

Tichys Lieblingsbuch der Woche
Wehren wir uns im aktuellen Kulturkampf, der Freiheit und Leben bedroht
Für die Übrigen von uns ist eine linksautoritär geführte Gesellschaft außerordentlich beschwerlich. Es bedeutet, von institutionellem Hass umgeben zu sein. In Amerika konservativ – oder auch nur nicht links – zu sein bedeutet, dass der Hass deutlich spürbar ist. In der akademischen Welt wird man gehasst. In den Medien wird man gehasst. In den Fußballstadien, in den Kinos, auf Facebook und Twitter wird man gehasst. Vom eigenen Chef wird man gehasst, von den Kollegen auch – oder zumindest wurde denen gesagt, dass die Sie hassen sollten.

Die hassen Sie, weil Sie falsch denken. Vielleicht liegt es ja daran, dass Sie regelmäßig zum Gottesdienst gehen.

Vielleicht ist das Problem aber auch, dass Sie einfach nur Ihre Arbeit machen und in Ruhe gelassen werden wollen. Oder hasst man Sie, weil Sie Ihre Kinder mit traditionellen gesellschaftlichen Werten erziehen wollen? Es könnte auch daran liegen, dass Sie glauben, dass das männliche und das weibliche Geschlecht existieren oder Polizisten im Allgemeinen keine Rassisten sind oder Kinder eine Mutter und einen Vater haben sollten oder harte Arbeit sich auszahlt oder die amerikanische Flagge für Freiheit, nicht Unterdrückung steht oder ungeborenes Leben nicht getötet werden soll und Menschen nach ihrem Charakter beurteilt werden sollten.

Gehört die Zukunft den Linken?

Vielleicht ist das Problem, dass Sie kein schwarzes Quadrat auf Ihrer Facebook-Seite gepostet haben, um Ihre Solidarität mit Black Lives Matter zu bekunden. Oder dass Sie während der Nationalhymne keinen Kniefall machen oder wenigstens denen zujubeln, die sich hinknien. Es könnte auch daran liegen, dass Sie Ihr Pronomen nicht in Ihr Twitter-Profil geschrieben haben, um sich mit nichtbinären Menschen zu solidarisieren, oder Sie haben nicht das neueste Pride-Symbol für den neuesten Anlass gehashtagt oder ganz einfach das falsche Emoji in Ihren jüngsten SMS genutzt.

Aber vielleicht liegt es ja auch daran, dass Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte von Ihnen eine beliebige Regel in diesem Dickicht von kulturellen Standards verletzt haben, die uns von den vermeintlich moralisch Überlegenen auferlegt wurden. Sippenhaft – genauso belastend und vernichtend wie Schuld durch Tun oder Nichtstun.

Es gibt unendlich viele Gründe, warum die Sie hassen, und diese Gründe ändern sich von Tag zu Tag – ohne Sinn und Verstand, ohne Verlässlichkeit, ohne Beständigkeit. An einem Tag könnten Sie mit großem Tamtam als Verfechterin von Schwulen- und Lesbenrechten gefeiert werden. Und schon am nächsten Tag könnten Sie wie in der Serie „The Twilight Zone“ wie jeder, der keine fröhlichen Gedanken hat, ins jenseitige Kornfeld verbannt werden, weil Sie sich wie eine transfeindliche, genderkritische TERF (trans-ausschließende radikale Feministin) geriert haben.

So ist es der Tennislegende Martina Navratilova und der „Harry Potter“-Schöpferin J. K. Rowling ergangen. An einem Tag könnten die Intellektuellen Sie wegen Ihrer zynischen Bemerkungen über Religion als Held feiern. Und schon am nächsten Tag könnte man Sie zum Bösewicht erklären, weil Sie die unerhörte Sünde begangen haben zu behaupten, dass Cancel Culture zu einer Radikalisierung der Gesellschaft führt. So ist es dem Philosophen Sam Harris und dem Psychologen Steven Pinker ergangen.

An einem Tag könnten Sie ein angesehener Meinungsmacher sein, der für seine komplexe Lesart wirtschaftlicher und soziologischer Themen geschätzt wird. Und schon am nächsten Tag könnte man Sie zum privilegierten weißen Mann abstempeln, den man exkommunizieren sollte. So ist es dem Journalisten Matthew Yglesias und dem Filmproduzenten David Shore ergangen.

Das ist keine Frage der Parteizugehörigkeit. Keiner der zuvor genannten Prominenten würde sich als Republikaner bezeichnen, geschweige denn als Konservativer. Die unterschiedlichen Persönlichkeiten, die in unserem tobenden Kulturkampf anscheinend weggesperrt gehören, haben nur eine Sache gemein: die Verweigerung. Wie in Herman Melvilles Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ folgt auf die Verweigerung der Zwang. Normen, Werte sind nicht so wichtig wie die einfache Botschaft: Du wirst dich fügen, und es wird dir gefallen.

Aus dem Maschinenraum des Nonsens
Konservativer Philosoph dekonstruiert die Lieblingstheorien der Linken
Die Konsequenzen für jene, die sich nicht fügen, sind sehr real. Als prominenter Konservativer warne ich immer alle, die nicht auf soziale, kulturelle und familiäre Rückschläge vorbereitet sind, sich besser nicht mit mir in der Öffentlichkeit zu zeigen. Einen Konservativen wie einen Menschen zu behandeln hat nämlich Konsequenzen. Aus diesem Grund amüsiert es mich auch, wenn Liberale mir jedes Jahr herzliche Geburtstagswünsche per SMS schicken – aber nicht auf öffentlichen Kanälen wie Twitter. Es überrascht mich aber nicht, denn schließlich könnte die bloße Erkenntnis, dass ein Konservativer tatsächlich auch ein Mensch ist, schon genug sein, um abgrundtiefe Verachtung hervorzurufen. […]
Es wird Zeit, sich zu wehren

Man gönnt Ihnen keinen Aufschub: Ihr Chef verlangt von Ihnen, dass Sie einen Treueschwur auf woke Prinzipien leisten. Unternehmen verlangen von Ihnen, dass Sie ihre politischen Prioritäten widerspiegeln. Die Medien behandeln Sie wie einen primitiven Barbaren.

Man gönnt Ihnen auch keine Ablenkung: Hollywood macht sich über Ihre Moralvorstellungen lustig und verdammt Sie für deren Einhaltung. Die Sportwelt besteht darauf, dass Sie die populären Perversitäten, die gerade angesagt sind, nachäffen, bevor Sie fliehen dürfen. Die sozialen Medien kontrollieren den Informationsfluss, den Sie sehen können, und halten Sie gleichzeitig davon ab, Ihre Meinung kundzutun. Und mit jedem neuen Tag wundern Sie sich, ob das nun der Tag sein wird, an dem der Pöbel Sie in die Finger bekommt.

Mein Buch erzählt, was zu diesem autoritären Moment geführt hat. Es erzählt von der Übernahme unserer mächtigsten Institutionen durch eine Gruppe von Radikalen und von dem giftigen Hass und den verheerenden Konsequenzen, welche die Amerikaner ertragen müssen, wenn sie sich für bislang unumstrittene Prinzipien einsetzen.

Aber dieses Buch bietet noch mehr. Es erklärt, wie man sich richtig wehren kann.

Denn der Autoritarismus birgt eine große Schwachstelle: seine Unsicherheit. Wenn die Autoritären eine breite, tiefreichende Unterstützung genießen würden, dann bräuchten sie nicht mit Zwang zu arbeiten und die Menschen unter Druck zu setzen. Das schmutzige Geheimnis unserer woken Autoritären ist, dass sie in der Minderheit sind. (…)

In Wirklichkeit verhält es sich doch so: Millionen von Amerikanern haben Angst zuzugeben, dass sie ganz Ihrer Meinung sind. Aber jetzt ist die Zeit reif, unser Schweigen zu brechen. Wir werden es mit einem einfachen, kleinen, aber starken Wort tun – einem Wort, das seit Anbeginn der Zeit der Inbegriff der Freiheit ist: Nein!


Ben Shapiro, Der autoritäre Terror. Wie Cancel Culture und Gutmenschentum den Westen verändern. LMV, 324 Seiten, 28,00 €


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