Deutschland will ein geradezu militant friedliches Land sein. Weite Teile der Bevölkerung und der Politik verweigerten sich nach 1945 einer „Wiederbewaffnung“. Über 1949 hinaus zählte ein moralisch hochwertiges „Nie wieder!“ Bald ging die Angst vor einem „Atomtod“ und vor dem „NATO-Doppel-Beschluss“ um. Mit Beginn der 1990er Jahre freilich schien eine „feindlose Demokratie“ obsiegt zu haben. Geschichte schien an ihrem Ende angekommen, weil 1990 weltweit ausschließlich liberale Ordnungen gesiegt hätten. Gerade der pazifistischen, postheroischen deutschen Gesellschaft ist damit aber ganz offenbar das Verständnis für die Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie abhandengekommen. „Das Deutschland von heute steht gern als scheinbar Unparteiischer auf einem sicheren, moralischen Feldherrnhügel“, schreibt Ex-Brigadegeneral Erich Vad Anfang 2020.
In kaum einem anderen Land der Welt wird der Pazifismus denn auch so brav exerziert wie in Deutschland. Das hat auch damit zu tun, dass immer weniger Abgeordnete mit Militär bzw. Bundeswehr zu tun hatten. Von den 709 Bundestagsabgeordneten der Wahlperiode 2017 bis 2021 hatten 25,9 Prozent in ihrer Biographie mit Militär zu tun; in der Legislaturperiode von 1969 bis 1972 waren es 63,9 Prozent gewesen. Allein mit dem wachsenden Anteil an weiblichen Abgeordneten ist dieser drastische Rückgang nicht zu erklären. In kaum einem anderen Land der Welt ist denn auch der Unwille so groß, gegebenenfalls für das eigene Land zu kämpfen, wie in Deutschland. Eine Studie des Gallup-Instituts aus dem Jahr 2015 belegt dies: In 68 Ländern wurde unter einer jeweils repräsentativen Stichprobe die Frage gestellt: „Wären Sie bereit, für Ihr Land zu kämpfen?“ Deutschland liegt mit 18 Prozent auf Platz 66, knapp hinter Österreich (21 Prozent) und Italien (20 Prozent).
Folge ist auch, dass die Bundeswehr heruntergewirtschaftet wurde, man 2011 die Wehrpflicht aussetzte, die Bundeswehr im Koalitionsvertrag von 2018 auf drei von 177 Seiten versteckte und phasenweise von Ende 2013 bis Mitte 2019 an die Spitze des Verteidigungsministeriums eine Politikerin setzte, die zwar ständig nach immer noch höheren Ämtern Ausschau hielt, aber vor allem mit Inkompetenz und mangelndem Verständnis für die Truppe glänzte: Ursula von der Leyen, die ihr Unwesen nun als von niemandem gewählte Präsidentin der EU-Kommission treibt. Alles übrigens mit aktiver Unterstützung oder zumindest gleichgültiger Duldung einer Kanzlerin Merkel, die im Verteidigungsfall Oberbefehlshaberin gewesen wäre!
Die Folgen für die Bundeswehr sind noch lange spürbar. In dem im Juni 2020 veröffentlichten amtlichen Bericht zur „Materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr“ steht unter anderem zu lesen: Die Einsatzbereitschaft aller 68 Hauptwaffensysteme liege „bei knapp über 70 Prozent“.
An anderer Stelle ist wörtlich ist von einer „materiellen Einsatzbereitschaft zwischen 30 bis 93 Prozent“ die Rede. Hubschrauber sind nur zu 40 Prozent einsatzbereit.
Die Bundeswehr wird versteckt
Seit 1980 finden Gelöbnisse junger Rekruten zwar wieder öffentlich statt. In den Jahren zuvor traute sich die Bundeswehrführung das nicht. Bei der ersten Gelegenheit in Bremen gab es denn auch gleich einen Eklat. Mehrere Tausend Demonstranten versuchten, die Zeremonie zu stören. Einige lieferten sich Straßenschlachten mit Polizei und Feldjägern. Unter dem Titel „GelöbNix!“ protestierten ab 1996 diverse autonome Gruppierungen gegen öffentliche Gelöbnisse – auch am 20. Juli. Ab 1999 fanden Gelöbnisse teilweise am Bendlerblock statt, um zu verhindern, dass Protestgruppen stören konnten. 2008 wurde ein Gelöbnis erstmals vor den Reichstag verlegt.
Im Bendlerblock in Berlin (und nicht allgemein zugänglich) wurde „Den Toten unserer Bundeswehr“ ein Ehrenmal errichtet. Gewürdigt werden damit die seit Gründung der Bundeswehr mehr als 3200 militärischen und zivilen Angehörigen der Bundeswehr, die im Dienst ihr Leben verloren. Sichtbarer wäre ein Denkmal in der Nähe des Reichstagsgebäudes und damit des Bundestages gewesen, ganz im Sinne der „Parlamentsarmee“«. Denn: Für dieses Volk haben diese zumeist jungen Menschen ihr Leben gelassen. Ebenfalls hanebüchen war die Entscheidung, in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in Geltow bei Potsdam, dem Standort des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, einen „Wald der Erinnerung“ zu errichten. Dieser „Wald“ war von Familienangehörigen und Kameraden initiiert und 2014 eingeweiht worden, er soll Angehörigen von Gefallenen eine Möglichkeit geben, Bäume zum Gedenken zu pflanzen. Der ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestages Reinhold Robbe (SPD, im Amt von 2005 bis 2010) hatte den Standort der Gedenkstätte als „beschämend“« bezeichnet. Dieses Land scheint sich eben für seine Soldaten und Gefallenen zu schämen oder sie nicht hinreichend vor Randalierern schützen zu wollen.
Im Dezember 2009 forderten ein „Büro für Antimilitaristische Maßnahmen (BamM)“ sowie der Berliner Landesverband der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) dazu auf, jeden gefallenen Bundeswehrsoldaten mit einem Saufgelage am Ehrenmal der Bundeswehr im Bendlerblock zu feiern. Das Motto lautete: „Man soll Feste feiern, wie sie fallen!« Schließlich sei der Tod eines deutschen Soldaten ein weiterer Schritt »zur Abrüstung – wieder einer weniger“. Folgen? Keine!
Die Spitze der Stänkerei gegen die Bundeswehr und ihre Jugendoffiziere stellen einzelne Schulen dar, die sich rühmen, der Bundeswehr die Schultore zu versperren. Im Jahr 2013 zum Beispiel wurden zwei „Schulen ohne Bundeswehr“ mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet, und zwar das Robert-Blum-Gymnasium in Berlin und die Käthe-Kollwitz-Schule in Offenbach. Sie hatten Jugendoffizieren den Zutritt verwehrt. Dem Verein „Aachener Friedenspreis“ gehören unter anderem an: die Stadt Aachen, der DGB NRW, die katholische Organisation Misereor, der Diözesanrat der Katholiken des Bistums Aachen, der evangelische Kirchenkreis Aachen, der SPD-Unterbezirk, der Kreisvorstand der Grünen. Eine interessante Konstellation: Linke und Kirchen in einem Boot! Folgen? Keine!
Man will Vollkaskosicherheit, aber diskreditiert „law and order“
Der deutsche Michel will zwar vollkaskomäßig abgesichert sein, aber den Einrichtungen, die für seine Sicherheit sorgen, misstraut er. Schnell ist er dabei, vor „law and order“ zu warnen: vor Polizei, Bundeswehr, Nachrichtendiensten. Solche Einrichtungen seien strukturell militant und „rechts“. Die drei linken Parteien mischen dabei kräftig mit.
Deutschland tut sich zudem schwer mit soldatischem Heldentum – und mit Gefallenen. Ihre Denkmäler werden geschändet oder sie verschwinden. Die Erde sähe freilich anders aus, gäbe es unter den Menschen kein Heldentum und keinen Wettbewerb. Wettkampf, Wissensdurst, Explorations- und Expansionstriebe, die Eroberung von Welt und Weltall durch Wissenschaft und Technik, Rationalität anstelle von Mythos – all das gäbe es nicht ohne den agonalen Charakter, den Wettkampf als Teil des Strebens. Es war kein geringerer als der große Baseler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, der die Bedeutung des über zwei Jahrtausende hinweg gepflegten agonalen Prinzips insbesondere europäischer Menschen hervorhob und der Friedrich Nietzsche, seinen Baseler Schützling, damit zu Gedanken über den „Willen zur Macht“ inspirierte. Das Agonale freilich, das ja auch das Männliche/Väterliche ist, tritt kaum noch in Aktion. Vor allem in Deutschland, mehr und mehr auch in ganz Europa entwickelt sich ein androgyner Antiheroismus, ist eine wohlfühlige, aber im Kern autoaggressive Bußfertigkeit angesagt. In Deutschland kommt eine postpatriotische, bisweilen sogar illusionäre militant-pazifistische Grundstimmung hinzu. Mit einer solchen Grundhaltung aber ist keine Zukunft zu machen. Wenn Deutschland und Europa nicht weiter zurückfallen wollen, muss die Bereitschaft zum Agonalen, zum Wettkampf wiederbelebt werden.
Und die Wörter „siegen“ oder „Sieg“ gelten ohnehin als politisch inkorrekt, führen die Autoren Parviz Amoghli und Alexander Meschnig in ihrem Buch „Siegen – oder vom Verlust der Selbstbehauptung“ aus. Wer diese Begriffe in die Mund nimmt, gilt schon des Rechtsradikalismus oder des Sozialdarwinismus verdächtig. Aber Siegen oder Siegen zu wollen oder andere auch nur übertreffen zu wollen ist eine anthropologische Grundkategorie. Es hat mit Identität und mit Selbstbehauptung zu tun. Da aber setzt voraus, „dass es überhaupt eine Unterscheidung zwischen einem ‚Wir‘ und einem ‚Sie‘ gibt. Der Begriff des Politischen bringt es mit sich, dass eine ‚Differenz von Eigenem und Anderem, Freund und Feind, existiert, auch wenn letztere Kategorie inzwischen moralisch diskreditiert ist und als ‚Hate speech‘ gilt. Was aber, wenn ein ‚Anderer‘ gar nicht mehr gedacht werden kann, da alle bestehenden Unterschiede zwischen Gruppen, Nationen, Ethnien, Kulturen sich in einem moralischen Universalismus auflösen, der nur noch den ‚Menschen an sich‘ kennt? In Deutschland hat das Unvermögen, Politik anders als in Kategorien der Moral zu denken, die paradoxe Existenz eines neuerlichen Sonderbewusstseins hervorgebracht …“
Vor diesen Hintergründen sollte man sich gelegentlich daran erinnern, was über Jahrtausende galt: Si vis pacem, para bellum. (Frei übersetzt: Wenn du den Frieden willst, rüste dich für einen möglichen Krieg.) Arnold Toynbee (1889 – 1975, britischer Universalhistoriker) meinte: Pazifistische Staaten sind jenen, in denen der Pazifismus nicht obsiegt hat, hilflos ausgeliefert. Folge wäre, „dass die gewissenlosesten Regierungen und die rückständigsten Militärstaaten sich zu Herren der Welt machen würden.“ Der vormalige Sozialist George Orwell meinte 1942: Pazifismus sei ein Luxus, den sich nur Leute leisten können, deren Sicherheit garantiert ist – „entweder durch genügend Kanonen oder durch genügend Entfernung vom Kriegsschauplatz.“
„Alle Soldaten sind Mörder“?
Deutsche lassen sich zudem von dem sogar gerichtlich abgesegneten Tucholsky-Satz „Soldaten sind Mörder“ und von schrägen Darstellungen der Wehrmacht blenden. Tucholsky hatte diesen Satz am 4. August 1931 in der „Weltbühne“ in einer Glosse geschrieben. Der verantwortliche Redakteur Carl von Ossietzky (gegen den Willen der Nationalsozialisten Träger des Friedensnobelpreises 1935) wurde nach der Veröffentlichung dieses Satzes 1932 wegen „Beleidigung der Reichswehr“ angeklagt, aber freigesprochen, weil das Gericht in dem Zitat keine konkreten Personen angegriffen sah.
Zu Beginn der 1990er Jahre kam es erneut zu Gerichtsprozessen im Zusammenhang mit „Soldaten sind Mörder.“ Im November 1995 schließlich bekräftigte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), dass die Verwendung des Tucholsky-Zitats unter bestimmten Voraussetzungen keine Beleidigung darstelle und deshalb nicht bestraft werden dürfe. Der Erste Senat betonte, das Tucholsky-Zitat sei so lange vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt, wie es sich um eine allgemeinpolitische Aussage handele. Der Historiker Egon Flaig hat es wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wer damals politische Urteilskraft besaß, musste die verheerenden Auswirkungen dieser Urteile antizipieren.“
Thema „Wehrmacht“: Das überwältigende Gros der Wehrmachtsoldaten war nicht in Verbrechen verwickelt, aber die Millionen von (meist unfreiwilligen) Soldaten bleiben öffentlich geächtet. Dabei spielten die sehr umstrittenen zwei sogenannten Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung eine Rolle. Die erste dieser Wanderausstellungen gab es von 1995 bis 1999 unter dem Titel „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Nach Kritik an der ersten Ausstellung folge eine zweite von 2001 bis 2004 mit dem Titel „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 bis 1944“. Rund 800.000 Besucher in 33 Städten in Deutschland und Österreich sahen die vorübergehend ausgesetzte Ausstellung, weil Verfälschungen nachgewiesen werden konnten. Am Ende aber blieb eine Verunglimpfung und Pauschalverurteilung ehemaliger deutscher Soldaten im Gedächtnis der Öffentlichkeit. Der nicht gerade als rechtskonservativ geltende Fernsehjournalist Rüdiger Proske hat die Ausstellungen gar als „raffinierteste Darstellung historischer Irreführung in unserem Lande seit dem Dritten Reich“ bezeichnet.
So gesehen ist es wichtig und zugleich mutig, wenn der junge Historiker Christian Hardinghaus (*1978) Anfang 2020 anhand von authentischen und glaubwürdigen Gesprächen mit 13 ehemaligen Wehrmachtssoldaten überzeugend belegt, dass die 18 Millionen Soldaten der Wehrmacht eben zum allergrößten Teil keine Kriegsverbrecher waren. Was Hardinghaus schrieb, gilt für die allermeisten Soldaten – für unsere Väter und Großväter, die Soldaten sein mussten: „Wenn man alle Menschen zwischen 1933 und 1945 als Nazis bezeichnet…, so werden auf der einen Seite die Verbrechen der Nazis verharmlost, auf der anderen Seite völlig unbelastete Menschen mit Schuld überhäuft, die sie nicht auf sich geladen haben.“
Dass in dem von der damaligen Verteidigungsministerin von der Leyen im 2018er Traditionserlass für die Bundeswehr ein weiter Bogen um die Wehrmacht geschlagen wird und dass die Ministerin „Säuberungen“ (sic!) zur Entfernung von alten Helmen, historischen Waffen und Modelle aus Vitrinen und Traditionsecken anordnete, bedarf keiner Kommentierung. Der Bildersturm machte nicht einmal Halt vor einem Porträt von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, das ihn als jungen Leutnant der Wehrmacht zeigt. Pikanterweise hing das Bild in der nach ihm benannten Bundeswehr-Universität in Hamburg. In Hammelburg wurde ein Wandbild des nach dem 20. Juli zum Selbstmord getriebenen Generalfeldmarschalls Erwin Rommel übermalt; und im Bundeswehrkrankenhaus Westerstede wurde die letzte Rotkreuzflagge des Zweiten Weltkriegs über Berlin entfernt. Ergebnis dieser „Säuberungen“: 41 „Andenken“ an die Wehrmacht wurden gefunden. Der pazifistische deutsche Michael durfte wieder ruhigen Gewissens schlafen.
Um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Josef Kraus, Der deutsche Untertan. Vom Verlust des eigenen Denkens. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 24,00 €.