Der Weg nach Bethlehem führt vorbei an Jerusalem. Dort herrscht gerade der blanke Terror. Herodes ist schwer krank und lässt jeden potentiellen Rivalen aus dem Weg räumen. Er säubert regelmäßig seinen eigenen Hofstaat, sogar seine Familie. Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Es kann jeden treffen, der in Verdacht gerät, nicht ganz loyal zum König zu stehen. Das Klima in der Stadt und in ganz Judäa ist so unbeschwert und besinnlich wie in Paris während des jakobinischen Terrors der Französischen Revolution oder in Moskau während der stalinistischen Säuberungen.
Unsere Informationen über diese Chaosjahre verdanken wir Josephus, der etwa hundert Jahre später einen ausführlichen Bericht verfasst. Josephus behauptet, von den Makkabäern abzustammen – also dem Clan, dessen führende Köpfe Herodes umgebracht hatte. Kein Wunder, dass Josephus ihn nicht besonders mag. Allerdings stellt er Herodes nicht als reines Monster, sondern als zutiefst gespaltene Persönlichkeit dar:
«Wenn man nämlich die Freigebigkeit und Wohltätigkeit in Erwägung zieht, die er allen Menschen gegenüber bewies, so kann auch selbst der, welcher nicht besonders gut auf ihn zu sprechen ist, nicht leugnen, dass er von Natur überaus gutherzig war. Betrachtet man dann aber die Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit, womit er seine Untergebenen und seine nächsten Verwandten behandelte, und bedenkt man die Härte und Unbeugsamkeit seines Gemütes, so muss man allerdings gestehen, dass er ein allem menschlichen Empfinden abgeneigtes Ungeheuer war.»
Aber die niederen Instinkte dominieren: «Da er nämlich sehr ehrgeizig und dieser Leidenschaft ganz ergeben war, neigte er zu prunksüchtiger Freigebigkeit, sobald er hoffen konnte, augenblickliche Anerkennung oder besonderen Nachruhm zu finden. Weil aber seine Ausgaben ihm schließlich über den Kopf wuchsen, war er genötigt, gegen seine Untertanen hart und grausam aufzutreten.»
Gerade die Feierlichkeiten und Prachtbauten, die Herodes im Rest der Welt viel Bewunderung einbringen, sorgen bei den überwiegend bodenständigen Juden für Verbitterung. Schließlich müssen sie einen Großteil davon zahlen. Auch verübeln sie Herodes, dass er in seinen griechisch-römisch orientierten Städten mehrere Tempel für fremde Gottheiten baut.
In den Jahren vor seinem Tod drehte sich die Abwärtsspirale immer schneller. Dabei hatte er kurz zuvor noch auf dem Zenit seiner Macht gestanden. Er galt als Lieblingsverbündeter des Augustus und als zweitmächtigster Mann im Mittelmeerraum. Er finanzierte die Olympischen Spiele, war so etwas wie der informelle Präsident eines antiken «Internationalen Olympischen Komitees» und feierte seine Neugründung Cäsarea mit einem rauschenden Fest: Es gab Musikwettbewerbe, Sportdarbietungen, Pferderennen, Gladiatorenkämpfe. Herodes bemühte sich laut Josephus, «alles zu überbieten, was früher in dieser Hinsicht geleistet worden sei». Augustus soll das Superlativ-Spektakel mit den Worten kommentiert haben, das Reich des Herodes sei für dessen Prachtliebe offenbar zu klein, es müssten eigentlich noch Syrien und Ägypten hinzukommen. Anscheinend wird ihm sein Handlanger allmählich zu unabhängig und eigensinnig.
Doch am Ende des Lebens von Herodes geht so ziemlich alles schief. Auf den kometenhaften High-Rise folgt der katastrophale Meltdown. Herodes macht einen politischen Fehler nach dem anderen. Er zettelt einen Krieg an mit dem Nachbarvolk, den Nabatäern, sehr zum Unmut der Römer. Seine Untertanen, allen voran die Pharisäer, werden aufmüpfiger. Sein Unterleib verursacht höllische Schmerzen. Vergeblich sucht er Linderung am Toten Meer, wo dem Wasser heilende Wirkung nachgesagt wird.
Herodes plagt die Sorge, welcher seiner übriggebliebenen Söhne ihn beerben soll. Er kennt die Hoffnungen frommer Juden, die auf einen Messias warten. Doch wenn es schon so eine Erlöserfigur gibt, dann soll diese wenigstens aus seiner eigenen Familie kommen.
Während Maria und Josef nach Süden marschieren, ahnen sie nicht, dass ihr ungeborener Sohn dieselbe Route auf dem Weg zu seiner Passion gehen wird. Bereits der Weg nach Bethlehem hat es in sich. Er führt durch das gefährliche Samariterland, wo es regelmäßig zu Überfällen kommt. Kurz vor Jerusalem geht es steil hinauf, die «Stadt des Friedens» liegt 800 Meter über dem Meeresspiegel. Die beiden Jungverheirateten treffen auf andere Reisende, passen aber auf, dass sie im Gespräch nicht zu viel von sich preisgeben. Denn Herodes hat überall seine Spione. «Überall, in der Stadt wie auf den Landstraßen», berichtet Josephus, «gab es bestimmte Menschen, die alle Zusammenkünfte auszuforschen suchten.»
Die jüdische Hauptstadt, der sie sich nähern, hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert. Aus der beschaulichen Bergstadt ist die Glitzermetropole des Nahen Ostens geworden. Der Tempel ist von weitem sichtbar. Aber Maria und Josef schlängeln sich nicht durch die mit Pilgern, Handwerkern, Priestern, Hofbürokraten gefüllte Stadt. Sie umgehen Jerusalem, steuern das zehn Kilometer südlich liegende Bethlehem an. Von weitem sehen sie die vier hohen Türme des neuen Herodes-Palasts, des «Herodions».
Wenn das große Jerusalem der Schauplatz der stolzesten Momente Israels ist, dann erinnert das kleine Bethlehem an dessen romantischste Episoden. Die Jesus-Eltern passieren das Grab, in dem Rahel, die Lieblingsfrau des Patriarchen Jakob, beerdigt wurde.
Irgendwann nach ihrer Ankunft lassen sich Maria und Josef registrieren, geben ihre Besitzverhältnisse an, vielleicht leisten sie bei dieser Gelegenheit den gewünschten Eid.
Und dann setzen die Wehen ein.
Lukas verweist darauf, dass die Niederkunft in einem Stall stattfindet – aus Platzmangel. Die volkstümliche Vorstellung, Maria und Josef wären bei den lokalen Pensionen abgeblitzt, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. In einem kleinen Ort wie Bethlehem gab es kein professionelles Hotelgewerbe. Gäste wohnten bei Verwandten.
Warum Josef, dessen Vorfahren ja aus Bethlehem stammten, dennoch bei keinen Onkeln oder Vettern unterkam, bleibt eine offene Frage. Vielleicht gab es in deren Häusern, die oft nur aus einem einzelnen Wohnraum bestanden, tatsächlich keinen freien Platz. Das widerspricht aber der hohen Bedeutung, die Gastfreundschaft damals hatte. Für eine Geburt hätten auch entfernte Verwandte ganz selbstverständlich vorübergehend ihre eigenen Zimmer zur Verfügung gestellt. Aber vielleicht war ja der Stall unter allen Alternativen die beste.
Jesus kommt jedenfalls an einem Ort zur Welt, der ärmlicher kaum sein könnte, in dem es übel riecht, der aber reich an Symbolik ist. Der Mann, der sich später selbst als «Brot des Lebens» bezeichnen wird, stößt seine ersten Lebensschreie in einem Futtertrog aus. Später wird er von sich beim ersten Abendmahl sagen: «Dies ist mein Körper, der für euch gegeben wird.»
Die ersten Zeugen der Geburt bringen Platznot im Stall, aber kein Prestige. Die Hirten kommen vom Feld. Vermutlich fand die «Weihnacht» also nicht in der kalten Winterzeit statt, sondern im Frühling, als es bereits wärmer war, aber das Feld noch nicht abgeerntet. Weihnachten, so die ironische Konsequenz, fiele so gesehen tatsächlich in die Osterzeit.
Es gibt keinen Berufsstand in der Bibel, der insgesamt so positiv beschrieben wird wie die Hirtenbranche. Der unschuldig getötete Abel war Hirte, genau wie der Erzvater Jakob, der Befreier Mose, der Gottes-Liebling David, der Prophet Amos. Einer der berühmtesten jüdischen Lehrer im Jahrhundert nach Jesus, der Rabbi Akiva, war ursprünglich auch Hirte gewesen.
Allerdings war die soziale Wirklichkeit während der Zeitenwende eine völlig andere. Die meisten Hirten kümmerten sich nicht fürsorglich um ihre eigenen Zuchttiere. Vielmehr hüteten sie für einen kargen Tageslohn die Schafe von reichen Bauern. Manche dieser Miet-Hirten besserten ihr Einkommen mit kleinen Diebstählen oder sogar größeren Bandenüberfällen auf. Wenige Jahre nach der Geburt Jesu versuchte sogar ein besonders ehrgeiziger Hirte mit Namen Atronges, die jüdische Königswürde zu erobern.
Dann öffnet sich der Himmel, und ein riesiger Engelschor verfällt in lauten Jubel. Als das kosmische Spektakel vorbei ist, besuchen die Hirten den Stall und verbreiten anschließend die Kunde. Sie stoßen auf Verwunderung, vor allem aber auf taube Ohren. Eine Botschaft, die von Hirten in Umlauf gebracht wurde, galt als wenig glaubwürdig. Bis zum König Herodes sprach sich die Begebenheit jedenfalls nicht herum. Er wird auf andere Weise davon erfahren.
Für den Säugling Jesus geht es nach der Geburt vorschriftsmäßig weiter. Am 8. Tag wird er beschnitten, am 40. Tag im Tempel Gott dargebracht. Für die dazugehörige Opferzeremonie schreibt die Tora ein Lamm und eine Taube vor, für mittellose Eltern alternativ zwei Tauben. Maria und Josef können sich nur das Arme-Leute-Opfer leisten, zwei Tauben. Mehr ist nicht drin. (…)
Im Tempel, der immer noch eine Baustelle ist und erst viele Jahre später fertiggestellt sein wird, fallen sie in der Masse der Besucher erst einmal nicht weiter auf. Nur ein alter Mann, Simeon, und eine als Prophetin bekannte alte Witwe, Hanna, erkennen in dem kleinen Kind den versprochenen Retter. Simeon stimmt mit zittriger Stimme einen Lobgesang an. Für Maria hat er noch eine persönliche Zukunftsschau, die ziemlich düster ausfällt: «Durch deine Seele wird ein Schwert dringen», sagt er ihr voraus. Er weiß, dass der Kelch, den Maria («Bitteres Wasser») austrinken wird, wie Säure schmecken wird.
Für den Evangelisten Lukas endet die Geburtsgeschichte hier. Er lässt Maria, Josef und das Jesuskind unbeschadet nach Nazareth zurückkehren. Doch Matthäus berichtet von einem dramatischen und äußerst weiten Umweg, den die kleine Familie auf sich nehmen muss.
Geringfügig gekürzter Auszug aus:
Markus Spieker. Jesus. Eine Weltgeschichte. Fontis Verlag, Hardcover, mit goldfarbenem Vor- und Nachsatzpapier und Lesebändchen, 1004 Seiten, 30,00 €.