Auch für den religiös Musikalischen ist es schwer zu verstehen: Die ambitionierte Philosophin bricht ihrer betagten Mutter das Herz, weil sie in den Karmel zu Köln, das Kloster der unbeschuhten Karmelitinnen, eintritt. Der Eintritt in den Orden der besonders strengen Observanz bedeutet, dass der Kontakt zur Außenwelt nur noch per Brief oder durch ein doppeltes Kreuzgitter im Besuchsraum möglich ist. Der Tag beginnt um halb fünf in der Frühe und ist von Betrachtungen, Stundengebeten, Arbeit und der heiligen Messe geprägt. Die Mutter wird Edith Stein nicht wiedersehen, sie erhält auch keinen Brief mehr von ihr.
Für Edith Stein, welcher der erfahrene Biograph Klaus-Rüdiger Mai sein neues Buch widmet, war es der folgerichtige und für das Erdenleben ersehnte Abschluss eines langen Weges. 1891 war sie in eine kinderreiche jüdische Holzhändlerfamilie in Breslau hineingeboren worden. Der Vater starb an einem Hitzschlag, als sie eineinhalb Jahre alt war. Die patente Mutter Auguste führte das Geschäft aus den Miesen und sorgte für ihre Kinder. Sonderlich religiös wurde Edith nicht erzogen. Sie entwickelte aber schon früh eine sittliche Strenge, was auch ihre Umwelt zu spüren bekam.
Politisch galt sie als Suffragette, die Gleichberechtigung der Frau waren ihr ein Anliegen, gegenüber dem Kaiser und Preußen war sie kritisch eingestellt, dabei war sie freilich – wie konnte es damals anders sein – durchaus Patriotin. Nach dem Abitur studierte sie in Breslau bei dem Psychologen William Stern und dem Neukantianer Richard Hönigswald. Psychologie und Erkenntniskritik befriedigten sie nicht, sie wollte zu den Sachen selbst vorstoßen, und dafür stand die aufstrebende phänomenologische Bewegung um Edmund Husserl. Also ging sie nach Göttingen, wo Husserl lehrte.
Der Dank blieb aus: Als sie sich bei Husserl habilitieren wollte, wies dieser das naheliegende Ansinnen seiner auch von ihm für talentiert gehaltenen Schülerin brüsk ab: Für ihn seien Frauen für Heim und Ehe bestimmt. Auch anderenorts scheiterten ihre Bemühungen um die Erlangung der venia legendi, Vorurteile gegenüber der jüdischen Frau spielten dabei eine Rolle.
Wie viele Phänomenologen näherte sich Edith Stein dem christlichen Glauben an. Die Taufe von Husserls Schüler Adolf Reinach und seiner Frau Anna beeindruckte sie sehr, der Tod Reinachs an der Front erschütterte sie tief. Der Einfluss des in dieser Zeit katholischen Max Schelers mit seiner personalistischen Anthropologie und objektiven Wertlehre ist unübersehbar: der Mensch als ens amans, als liebendes Wesen, an der Spitze der objektiven Wertrangordnung steht der Wert des Heiligen.
1922 wurde sie schließlich in die katholische Kirche aufgenommen. Beruflich arbeitete sie in einer Lehrerinnenausbildungsanstalt der Dominikanerinnen in Speyer, dabei vertiefte sie sich in das Studium Thomas von Aquins und legte eine Schrift über dessen aristotelisch inspirierten Potenz- und Akt-Lehre vor, die als Habilitationsschrift aber erneut scheiterte. Von der Politik hatte sie inzwischen Abstand genommen. Als Mitgründerin der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) hatte sie erkannt, dass sie kein Talent für das schmutzige Geschäft besaß.
Doch auch hinter den Mauern des Karmel machte die Herrschaft der Nationalsozialisten nicht halt. Edith Stein floh nach der Reichspogromnacht in ein Ordenshaus im niederländischen Echt. Als die niederländischen Bischöfe gegen die Deportationen der Juden protestierten und dies entgegen der Anweisung des Reichskommissars Arthur Seyß-Inquart von allen Kanzeln verlesen ließen, ordnete dieser aus Rache an, alle katholisch getauften Juden zu verhaften. Dies sollten heutzutage alle diejenigen zur Kenntnis nehmen, die selbstgewiss ein bestimmtes Verhalten der Kirche unter der NS-Herrschaft ex post einfordern. Auch an die Karmeltür klopfte die Gestapo an. Edith Stein trat mit ihrer Schwester Rosa hinaus und sagte leise: „Komm, wir gehen für unser Volk.“ Der Leidensweg führte die Schwestern nach Ausschwitz-Birkenau, wo beide 1942 ermordet wurden.
Bereits im April 1933 hatte Edith Stein mit flammenden Worten an Papst Pius XI. appelliert, die Stimme gegen die NS-Herrschaft zu erheben, die ihren Kampf nicht nur gegen das Judentum, sondern auch gegen den Katholizismus führe. Der Vatikan setzte zu dieser Zeit wie alle anderen Mächte noch auf Diplomatie, auf das Konkordat. Die unter ihrem Ordensnamen als Teresia Benedicta vom Kreuz firmierende Edith Stein wurde von Papst Johannes Paul II. 1987 selig- und 1998 heiliggesprochen.
Der Autor schildert nicht nur das Leben Edith Steins und ihren Denkweg, er skizziert immer wieder auch die politischen, literarischen und philosophischen Entwicklungen der Zeit. Mit der umfangreichen Sekundärliteratur setzt er sich eher implizit auseinander. Wie Edith Stein selbst konzentriert er sich dagegen auf eigene Beobachtungen. Dabei gelingen ihm wunderbare Bonmots: So bezeichnet er seine Protagonistin in ihrer Zeit als Dozentin am Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster zu Beginn der dreißiger Jahre als „berühmteste Unberühmte“. Luzide ist auch die Bemerkung über Husserls, seine Schülerschar entzweienden „Rückzug in den kritischen Transzendentalismus, dessen kompliziertes Begriffswerk letztlich ihm selbst die Illusion vermitteln sollte, nicht zu Immanuel Kant zurückgekehrt zu sein“.
Tatsächlich übernimmt in Steins Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein“, das erst nach dem Krieg publiziert werden konnte, und erst recht in ihrem letzten Werk „Kreuzeswissenschaft“ die Offenbarung die Führerschaft in der Hierarchie des Erkennens. Die Philosophie wird damit wieder wie in der Scholastik ancilla theologiae, Magd der Theologie. Für die Ordensfrau war nicht mehr Husserl der Meister, diese Rolle übernahm nun der große Mystiker ihres Ordens Johannes vom Kreuz.
Sympathie lässt Mai deutlich erkennen, wenn er Edith Steins Denken als Alternative zum Weg Martin Heideggers, ihres Nachfolgers bei Husserl, präsentiert. Beide gingen von Husserls Phänomenologie aus, Heideggers Weg führte vom Glauben weg, Steins Weg zu ihm hin. Bei Mai erscheinen beide philosophisch als ebenbürtig. Der genialische Max Scheler kommt dagegen, bei aller treffend beobachteten Eitelkeit, doch etwas zu schlecht weg.
Mai hat eine sehr gut lesbare Biographie vorgelegt, die einen atemberaubenden, tragisch endenden Lebensweg einer eigenständigen, aber auch schwierigen Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ihrem Weg vom Judentum zum Christentum, vom Kaierreich zur Republik, von der Universität in den Orden und von der Emanzipation zur Verfolgung packend schildert.
Prof. Dr. Peter Hoeres studierte Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaften und lehrt Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Klaus-Rüdiger Mai, Edith Stein – Geschichte einer Ankunft. Leben und Denken der Philosophin, Märtyrerin und Heiligen, Kösel Verlag, 22,00 €