Für Hegels Bemerkung, großes geschichtliches Geschehen würde sich sozusagen zweimal ereignen, fand Marx den feinsinnigen Zusatz: „Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Ob es sich bei dem hier zu betrachtenden Verhalt um das eine oder das andere Mal handelt, ist derzeit schwer zu entscheiden. Die Rede ist von einem soziologischen Mysterium, dessen furcht- wie ehrfurchtgebietender Faszination Dichter und Denker ebenso erlagen wie Prälaten und Politiker: die Massen.
Menschen sonder Zahl, die immer wieder Richtung und Tempo der Zeitläufte beeinflussen; verehrt und verachtet, umgarnt und umjubelt, bedroht und belogen: Ohne Massen (auch: Volksmassen) weder Religionen noch Revolutionen, weder Weltkriegswahn noch Wirtschaftswunder. Ob als massa damnata des Heiligen Augustinus die zu ewigen Höllenqualen verdammte Masse, ob als von der Idee ergriffene Masse, die Karl Marx zufolge die Theorie zur materiellen Gewalt werden lässt: ohne Masse kein Move. Die Bewegung der Massen wurde besungen und beschworen in Kampfhymnen der Arbeiterklasse wie „Internationale“ oder „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“: Apotheosen der „Verdammten dieser Erde“ und imaginierter „Millionen“, deren Zug „endlos aus Nächtigem quillt“.
Vom Albtraum zur Traumblüte
Corona hatte sie alle geleert: Fußballstadien und Kongresshallen, Konzerthäuser und Opernsäle, Bahnhöfe und Flughäfen, Einkaufszentren und Hotelanlagen. Was Ortega 1930 als Albtraum beschrieb, gleicht 2020 nach wenigen Wochen viraler Vollbremsung dem Odeur einer Traumblüte: „Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf der Straße, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; Theater und Kinos, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern, die Badeorte von Sommerfrischlern.“
Ob Massen die Geschichte machen, mag umstritten sein. Dass ohne Massen keine Geschäfte zu machen sind, ist es nicht. Doch mit den mittlerweile mühsam ausgehandelten Lockerungen lassen sich die Sehnsüchte nach dem einst kochenden Konsumgebrodel nicht ansatzweise stillen. 30 Jahre liegen sie jetzt zurück, die goldenen Zeiten östlichen Massenansturms auf die westliche Warenwelt. Stefan Heym sah damals „eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef“. Damit endeten für den ostdeutschen Schriftsteller „die großen, die erhebenden Momente“ der historischen Veränderungen. Indes: Von einem „Pathos der Distanz“ als Ausdruck vornehmer Überlegenheit, wie es der späte Nietzsche propagierte, kann man angesichts der mittels Markierungen segregierten Supermarktkunden auch heute schwerlich schreiben.
Die Umstände erfordern Abstände
Aber die Umstände erfordern weiterhin Abstände, was wiederum die entsprechenden Zustände zeichnet. Wenn es bei diesen Zuständen zu „mengenhaften Vernunfttrübungen“ kommt, wie sie der deutsch-niederländische Sozialpsychologe Kurt Baschwitz in seinem Buch „Du und die Masse“ (1938/1951) diagnostizierte, ist das angesichts der auch vor Corona diesbezüglich nicht gerade ungetrübten Lage kaum verwunderlich. Dass mit anrührender Banalität beseelte Sätze der Bundeskanzlerin nicht unbedingt von Massen, aber von Massen-Medien exegetisch durchforscht und in nachgerade byzantinischer Verzückung immer wieder zitiert werden, ist ja kein neues Phänomen.
Dazu passt der Vorwurf an Ex-Volksbühnen-Intendant Frank Castorf, er habe „sich ideell zu den Aluhüten und Rechtsradikalen gesellt, die vor seiner früheren Spielstätte, der Volksbühne in Berlin, gegen irgendwie alles demonstrieren“. So die Berliner „taz“ anlässlich eines „Spiegel“-Interviews mit dem Regisseur, in dem dieser den Wunsch formulierte, er möchte sich „von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung.“ Nun, immerhin gehört das öffentliche Händewaschen seit Pontius Pilatus zum Instrumentarium subtil-symbolischer Machtgebärden. Vor dem Griff ins Weihwasserbecken wird indes weiter ausdrücklich gewarnt: Zur Abwendung von Infektionen empfiehlt die Deutsche Bischofskonferenz neben Handkommunion und Verzicht auf Körperkontakt „eine Zurückhaltung bei der Nutzung des Weihwasserbeckens in den Kirchen“.
Unvernunft der großen Zahl
Zurück zum Thema: Als am „Revolutionären 1. Mai“ in Berlin-Kreuzberg der linksradikale Aktivismus, dem Seuchenbann trotzend, in Massen „aus Nächtigem quillt“, ist das für einschlägige Medien kein Anlass für Kritik an „kruder Mischung“ oder „Irrsinn“. Denn laut „taz“ wird die radikale Linke „dringend gebraucht – erst recht, wenn es zu Verteilungskämpfen kommen sollte“. Sind 18 verletzte Polizisten ein Vorgeschmack auf diese Kämpfe? Oder eher ein zu vernachlässigender Kollateralschaden? Schließlich, so das Blatt, gab es „Zeiten, da waren es 500 verletzte BeamtInnen; aber auch die liegen schon über ein Jahrzehnt zurück“. Für das linksextreme Netzwerk „Indymedia Linksunten“ folgt derweil aus der Corona-Krise die drängende Mission, „unseren revolutionären Beitrag zu den Ausbrüchen von Wut, Ärger, Protesten, Plünderungen und Unruhen zu leisten“.
Es ist gleichermaßen Segen und Fluch der Masse, dass sie die Überzeugung des von ihr umschlossenen Einzelnen stärkt, die Überzeugung, auf der Seite der Wahrheit zu wirken. Was durchaus auch für die virtuelle Masse gilt, die immer wieder der Herden- und Hordenmentalität in den sogenannten sozialen wie auch in den redaktionellen Netzwerken erliegt. Verdikte, dass Überzeugungen „gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen“ sind (Nietzsche) oder dass die Mehrheit „der Unsinn“ ist (Schiller), sollte man immer als Variablen mit auf der Rechnung haben. Bei Massen (versammelt oder virtuell) ebenso wie bei Massen-Medien.
Dieser Beitrag von Ingolf Bossenz erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.
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