Tichys Einblick
BENEDIKT XVI. ZUM 95. GEBURTSTAG

„Den Glauben leben“

Als junger Professor stieg er raketengleich zum neuen Stern am Himmel der Theologie auf. Mit 35 Jahren wurde er Spindoctor des Konzils, das erst durch seine Initiativen die katholische Kirche in die Moderne katapultierte. Er selbst verstand sich als Pontifex zwischen den Zeiten. Von Peter Seewald

Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy bemerkte einmal, sobald die Rede auf Ratzinger komme, beherrschten „Vorurteile, Unaufrichtigkeit und sogar die glatte Desinformation jede Diskussion“. Der frühere Präfekt der Glaubenskongregation war nicht ganz schuldlos daran. Seine gelegentlich rigide, unvermittelte Kommunikation wirkte provozierend. Als Protagonist eines traditionellen Katholizismus war er freilich schon aufgrund seiner Linie der neben Karol Wojtyła am meisten bekämpfte Kirchenführer, speziell in seinem Herkunftsland – und wurde dennoch, oder genau deshalb, zu einer der herausragendsten Persönlichkeiten unserer Zeit.

Joseph Ratzinger hat Geschichte geschrieben. Kirchen- und Weltgeschichte. Als Mitgestalter des Konzils, als Erneuerer der Theologie, als Glaubenshüter, der an der Seite Karol Wojtyłas dafür Sorge trug, dass im Sturm der Zeit das Schiff Kirche auf Kurs blieb. Und als erster Deutscher, der seit der Kirchenspaltung durch Luthers Reformation wieder den Stuhl Petri einnahm.

An Superlativen besteht kein Mangel. Er ist der meistgelesene Theologe der Neuzeit. Als Kirchenführer stand er mit drei Jahrzehnten Dienst im Vatikan so lange an der Spitze der größten, ältesten und geheimnisvollsten Institution der Welt wie niemand sonst; und er war der erste Papst überhaupt, der mit seinen drei Jesus-Bänden eine Christologie vorlegte. Allein der Akt seiner Demission, der ersten eines wirklich regierenden Papstes, macht Ratzinger zu einer herausragenden Figur in der 2000-jährigen Geschichte der Kirche.

Packend erzählte Lebens- und Zeitgeschichte
Katholisches Epochenbrausen: Wie aus Joseph Ratzinger Benedikt der XVI. wurde
Unvergesslich die Tage im Frühjahr 2005. Niemand glaubte daran, der „Großinquisitor“ hätte auch nur den Hauch einer Chance, Papst zu werden. Was für ein Beben, als dann Kardinaldiakon Jorge Arturo Medina Estévez am Abend des 19. April vom Balkon des Petersdoms in die Welt rief: „Annuntio vobis gaudium magnum – Ich verkünde euch eine große Freude … Habemus papam – Wir haben einen Papst.“ Um dann unter dem frenetischen Beifall fortzufahren: „Josephum … Cardinalem … Ratttzingerrrrr …, der sich den Namen Benedikt XVI. gegeben hat.“

Un papa tedesco – ein deutscher Papst! 100.000 Menschen hüpften in die Luft, lagen sich mit Freudentränen in den Armen. Vielleicht hätte auch der neue Oberhirte am liebsten Tränen vergossen. In seiner Rührung über die Zuneigung des großen Gottes, der dem kleinen Joseph aus dem kleinen Marktl am Inn, diesem nach seinem Selbstbild so schwächlichen Menschen, am Ende seines Lebens die gesamte Herde anvertraute. Er sei nur „ein einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn“; ihn tröste aber „die Tatsache, dass der Herr auch mit ungenügenden Werkzeugen zu arbeiten und zu wirken weiß“.

„Ich habe geweint“

„Ich habe geweint“, gestand Rocklegende Patti Smith, die inmitten der Menge stand: „Selbst aus großer Entfernung konnte man die Menschlichkeit dieses Mannes spüren. Ich weiß, dass er nicht jedermanns Geschmack ist, aber ich denke, er ist eine gute Wahl. Ich mag ihn, sehr sogar.“ Jorge Bergoglio, der nachmalige Papst Franziskus, sollte später bestätigen: „In diesem Moment der Geschichte war Ratzinger der einzige Mann mit der Statur, der Weisheit und der notwendigen Erfahrung, um gewählt zu werden.“

Joseph Ratzinger lässt niemanden kalt, ob man ihn nun für den Leuchtturm der Catholica hält, einen Sterndeuter aus dem Morgenland unserer Hoffnung, oder für einen Reaktionär, der sich jeder Reform der Kirche in den Weg stellt. Als ehemaliger Kommunist und „Spiegel“-Autor stand ich dem als „Panzerkardinal“ verschrienen Präfekten der römischen Glaubenskongregation nicht unbedingt nahe. Umso überraschter war ich, bei unserem ersten Treffen im November 1992 einem Menschen zu begegnen, der so gar nichts von einem Kirchenfürsten an sich hatte, und von einem Panzertypen am allerwenigsten. Alles an ihm wirkte bescheiden, unkompliziert und uneitel. Luxus schien ihm so wenig zu liegen wie irgendeine Hofhaltung.

Ich war aus der Kirche ausgetreten, aber mir imponierte, wie mein Gesprächspartner beispielsweise Glaube und Vernunft unter einen Hut brachte. Oder den Primat der Liebe unterstrich. Wobei dann, ein Bein lässig über die Stuhllehne geworfen, sein Geist in höchste Höhen schwebte. Seine Art zu überzeugen erinnerte mich an spirituelle Meister, die nicht durch eitle Lektionen lehren, sondern durch leise Gesten und versteckte Hinweise – und durch das eigene Beispiel, zu dem Integrität, Treue, Courage und eine gehörige Portion Leidensbereitschaft gehören.

Einsatz für die einfachen Gläubigen

Vielleicht war es ein Spleen, dass er auf Reisen häufig zwei gleich gepackte Koffer mitnahm, aus Angst, einer könnte ihm abhandenkommen. Aber ich mochte seinen trockenen Humor, seine Noblesse, seinen Einsatz für die einfachen Gläubigen, deren Frömmigkeit er gegen die kalte Religion seiner Professorenkollegen verteidigte. Mit einer differenzierten Analyse legte er den Finger in die Wunden der Gesellschaft. Dass er es mit seiner Diskretion bisweilen übertrieb, konnte eine Nervenprobe sein.

Vom Wesen des Christentums
Ratzingers Vision von der Kirche der Zukunft
Nie verließ Ratzinger der Mut, sich gegen das „man“ zu stellen. Gegen das, was „man“ zu denken, zu sagen und zu tun habe. Dem Aussprechen einer Wahrheit auch dann, wenn sie unbequem war, fühlte er sich so verpflichtet wie dem Widerstand gegen alle Versuche, aus der Botschaft Christi eine Religion nach den Bedürfnissen der „Zivilgesellschaft“ zu machen. Es sei ein grandioser Irrtum, mahnte er, zu denken, man müsse sich nur ein anderes Mäntelchen umhängen, schon werde man wieder von den anderen geliebt und anerkannt. Erst recht in einer Zeit, in der viele schon gar nicht mehr wüssten, wovon man spreche, wenn man von katholischem Glauben rede.

Durch seine Beiträge galt Ratzinger als der weltweit führende
Intellektuelle des Christentums

Ratzinger klagte nicht. Dabei lag unter der scheinbar harten Schale eine zartbesaitete Seele. Im Trommelfeuer der Angriffe tröstete er sich mit einem Wort aus der Bergpredigt Jesu, der seine Jünger selig pries, „wenn sie euch ausstoßen und schmähen und euren Namen in Verruf bringen um des Menschensohnes willen“. Dialog war ihm wichtig. Legendär sein Disput mit dem linken Soziologen Jürgen Habermas. Freunde beschrieben ihn als Schöngeist, einen Poeten, der Theologie in eine musikalische Sprache brachte und auch von Musik selbst einiges verstand. „Er bot uns eine sehr konkrete, tiefe Analyse der 9. Sinfonie von Bruckner, die wir dort gespielt hatten“, schwärmte der Stardirigent Kent Nagano noch Jahre nach seinem Vatikan-Auftritt mit dem Bayerischen Staatsorchester.

Das Leben des Joseph Ratzinger schrieb eine Jahrhundertbiografie. Die hautnahe Erfahrung des Nationalsozialismus prägte seine Wachsamkeit gegenüber jedweder Manipulation der Massen und einer menschlichen Selbstherrlichkeit, die im Leben ohne Gott die Voraussetzung für Freiheit sieht. Widerstandskämpfer wie der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer wurden ihm Vorbild bei dem Ziel, Priester zu werden

Als junger Professor stieg er raketengleich zum neuen Stern am Himmel der Theologie auf, ein frischer Geist, der eine nicht gekannte Sprache und Intelligenz im Erkennen der Geheimnisse des Glaubens verkörperte. Ein guter Theologe, befand er, brauche den „Mut des Fragens“, aber genauso die „Demut, auf die Antworten zu hören, die uns der christliche Glaube gibt“. Mit 35 Jahren wurde er Spindoctor des Konzils. Erst durch seine Initiativen konnte das Zweite Vatikanum zu jenem öffnenden, wegweisenden Konzil werden, das die katholische Kirche in die Moderne katapultierte. Wie Johannes XXIII., den er verehrte, kämpfte er für eine Erneuerung nach den Erfordernissen der Zeit, aber wie der Konzilpapst bestand er darauf, dass die Suche nach dem Zeitgemäßen niemals zur billigen Anpassung an das gerade Aktuelle führen dürfe.

Als Theologe plötzlich verfemt

Mehrfach stand er vor dem Untergang. Als Habilitand, weil er sich mit einem der Gutachter, dem Dogmatikprofessor Michael Schmaus, zerstritten hatte. Als Theologe, der plötzlich verfemt war, weil er sich der Umwertung des Konzils entgegenstellte. In den 1980er und 1990er-Jahren übernahmen Journalisten mit der Legende von der Wende Ratzingers vom Progressiven zum Reaktionär und Kampfbegriffen wie „Großinquisitor“ die psychologische Kriegsführung, die von Hans Küng befehligt wurde, um den ehemaligen Kollegen ins Abseits zu befördern.

Er ist (sich) immer treu geblieben
Vom virtuellen Konzil der Medien zum marxistischen Messianismus
Wer Ratzinger kannte, konnte darüber nur den Kopf schütteln. In Wahrheit sei der Präfekt ein Mann, befand der liberale Münchner Religionsphilosoph Eugen Biser, bei dem sich „Scharfsinn mit Einfühlungsvermögen und der Einsichtnahme in die Denkweise anderer“ verbänden. Ratzinger sei schon deshalb „eine die anderen Kurialen weit überragende Persönlichkeit“, weil er sich „nie mit seinem Amt ganz zu identifizieren gesucht hat, sondern immer er selbst zu bleiben versucht“.

Im Grunde rannte kein Kirchenmann so vehement gegen den Mangel an Lebendigkeit im Glauben an wie der Präfekt der Glaubenskongregation. Schon als blutjunger Theologe provozierte er mit der Forderung nach Entweltlichung, der Rückbesinnung auf die Wurzeln. Die veränderte Situation von neuen Heiden, die nun nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der Kirche zu finden seien, erfordere eine Intensivierung der Katechese.

Als Kardinal warf er dem katholischen Establishment in Deutschland vor, es habe die „Dynamik des Glaubens“ abgewürgt durch Geschäftigkeit, Selbstdarstellung und ermüdende Debatten um Strukturfragen. Den Streit um die Kirche betrachtete er dabei als Normalzustand. Der christliche Glaube sei nun mal die stete Provokation für ein rein weltlich-materielles Denken und Handeln. Im Übrigen habe es der Kirche noch nie geschadet, ihre Güter aufzugeben. Letztlich sei das nachgerade die Voraussetzung, um ihr Gut zu bewahren. Gerade diejenigen, „die die Erfahrung der Moderne ganz durchgestanden haben“, könnten erkennen, beruhigte er, dass in der scheinbar sklerotisierten katholischen Kirche „etwas Frisches und auch Kühnes, Großmütiges wartet“.

Um Zukunft gestalten zu können, braucht es visionären Mut. Aber auch den Blick auf die Lehren der Vergangenheit – und ein Bewusstsein, das erprobte Werte aus den Testamenten der Menschheit nicht leichtfertig eintauscht gegen Moden, die schon morgen als gestrig gelten. In seiner Jugend musste Ratzinger erleben, wie der Wahn, eine Welt ohne Gott und einen „neuen Menschen“ schaffen zu wollen, in Terror und apokalyptischer Verwüstung endete. In Bezug auf die Kirche schrieb sich dem Jungen eine Grunderfahrung ein, dass „die bloße institutionelle Garantie nichts nützt, wenn nicht die Menschen da sind, die sie aus innerer Überzeugung heraus tragen“.

Führender Intellektueller

Durch seine Beiträge zur gesellschaftlichen Debatte galt Ratzinger als der weltweit führende Intellektuelle des Christentums, ein Vordenker, bedeutend genug, dass ihn der englische Historiker Peter Watson zu den „Genies der Deutschen“ zählte, neben Jahrtausendgrößen wie Beethoven, Bach und Hölderlin. Am Ende wird die Zeit darüber urteilen, welche Bedeutung Benedikt XVI. über den Tag hinaus zukommt. Unmöglich jedenfalls könnte ein seriöser Historiker behaupten, ohne Ratzinger wäre die Geschichte der Kirche genauso verlaufen wie mit ihm.

Fest steht: Mit seinem Beitrag zum Konzil, der Wiederentdeckung der Väter und der Verlebendigung der Lehre kann Ratzinger als ein Verteidiger und Erneuerer des Glaubens gelten, der, wie alle wahren Reformer, dazu beitrug, zum Kern des Christentums zu führen, nicht zu seiner Entkernung.

Ablenkungsmanöver Synodaler Weg
Moral ist Flankenschutz für die Liebe
Sein heute manchmal als nicht konsequent genug wahrgenommener Kampf gegen den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche legte die Grundlagen für Aufklärung, Prävention und Sühne. Reformen, für die Franziskus gerühmt wird, wurden von Benedikt in die Wege geleitet. Interreligiöser Dialog und die Beziehung zum Judentum erlebten eine neue Blüte. Enzykliken wie „Deus caritas est“ („Gott ist Liebe“) wurden als Neugestaltung päpstlicher Lehrschreiben gefeiert. Das Motu Proprio „Summorum Pontificum“ öffnete den Zugang zur klassischen Liturgie.

Vielleicht war es das Drama seines Lebens,
über Jahrzehnte hinweg aus der Defensive heraus zu agieren

Man muss nicht mit allen Positionen Benedikts einverstanden sein, aber niemand kann bestreiten, dass hier jemand mit allem, was er sagte, verlässlich der Botschaft des Evangeliums, der Lehre der Väter, der Schätze der Tradition und den Reformen des 2. Vatikanischen Konzils entsprach. Das gern verbreitete Bild vom verbohrten Kirchenfürsten jedenfalls ist in Kenntnis seiner Biografie und seines Wirkens nicht zu halten. Eher ist da ein Kirchendiener, ein aufklärender Denker – ein Gebender, der sich in seinem Geben ganz ausschöpfte.

Vielleicht war es das Drama seines Lebens, über Jahrzehnte hinweg aus der Defensive heraus agieren zu müssen, wie ein Wächter, der in der Nacht der Gefahr einsam das Haus Gottes bewacht. Andererseits war gerade das seine Stärke, seine Berufung: Gefahren zu erkennen, Korrekturen anzumahnen, Antwort zu geben auf die Fragen der Zeit und die Botschaft Christi zu bewahren, um sie auch nachfolgenden Generationen authentisch zur Verfügung zu halten.

„Ein großer Papst“

Ratzinger selbst verstand sich als der Pontifex zwischen den Zeiten. Als der letzte einer alten und der erste einer neuen Welt. Vermutlich, so analysierte er, werde das Christentum eher wieder im Senfkornzeichen sichtbar werden, „in scheinbar bedeutungslosen, geringen Gruppen, die aber doch intensiv gegen das Böse anleben und das Gute in die Welt hereintragen; die Gott hereinlassen“. Die Vernünftigkeit des Glaubens, das Beispiel der Heiligen, die Schönheit und Tiefe des liturgischen Lebens – all diese Geschenke des Himmels seien nicht einfach weggewischt, vorbei und vergessen durch die Abstimmung des Zeitgeists: „Haben wir den Mut, den Glauben zu leben“.

Das Vermächtnis des deutschen Papstes liegt dabei nicht nur in seinen Büchern, Homilien und Meditationen, sondern insbesondere auch in seinem Leben als Glaubenszeuge des 20. und 21. Jahrhunderts, der versuchte, in der Erneuerung zu bewahren, in der Bewahrung zu erneuern – und dabei eine Vision der Kirche der Zukunft zu entwickeln, die der Nachwelt hilft, Christentum auch in einer wieder heidnischen westlichen Welt zu leben.

Benedikt XVI. sei „ein großer Papst“, so würdigt ihn sein Nachfolger, „groß ob der Kraft seiner Intelligenz, seines Beitrags zur Theologie, groß ob seiner Liebe gegenüber der Kirche und den Menschen, groß ob seiner Tugenden und seines Glaubens“. Benedikts Geist, „wird von Generation zu Generation immer größer und mächtiger in Erscheinung treten“.

Peter Seewald, Benedikt XVI. Ein Leben. Droemer Knaur, 1184 Seiten, 38,00 €.


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