Tichys Einblick
Der Westen am Scheideweg

»Dekadenz ist der Normalfall«

Josef Kraus ist Bestsellerautor. Der streitbare Publizist kämpfte als Lehrerverbandspräsident gegen verirrte Bildungspolitik an. 22 Jahre lang war er Berater für die innere Führung der Bundeswehr. Jetzt hat er ein neues Buch vorgelegt: »Im Rausch der Dekadenz«. Josef Kraus im Gespräch mit Roland Tichy

Tichys Einblick: Herr Kraus, was ist denn diese Dekadenz? Wir erinnern uns alle an die Worte der alten Griechen, wonach es mit der jeweiligen Jugend immer schlechter wird.

Josef Kraus: Die Klage über die Jugend war die ganze Menschheitsgeschichte hindurch so eine Klage der Älteren, der vermeintlich Schlaueren. Was die Dekadenz-Analyse betrifft, haben wir eine zweieinhalb Jahrtausende lange Geschichte. Aristoteles hat sich Gedanken gemacht, frühe Christen ebenso. Das Christentum hat natürlich eine große Rolle gespielt mit der Vision von der Apokalypse. Wissenschaftlich und halbwissenschaftlich ist das Thema Ende des 19. Jahrhunderts groß geworden. Oswald Spengler hat den „Untergang des Abendlandes“ dann in zwei Bänden 1918 und 1922 beschrieben, beeindruckt auch vom Ersten Weltkrieg, vielleicht auch in Anspielung auf den Untergang der „Titanic“. In der Chronologie der Menschheitsgeschichte sind viele Gesellschaften und Kulturen verschwunden. Man denkt immer nur an das römische Reich, vergisst allerdings, dass dieses Reich über 500 Jahre in Blüte stand. Das ägyptische Reich ist verschwunden, das spanische Weltreich, zuletzt die Sowjetunion. In China sind machtvollste Dynastien verschwunden, wie auch die großen Reiche Südamerikas nur noch steinerne Geschichte sind. Es ist ein roter Faden der Menschheitsgeschichte, dass Gesellschaften verblühen und durch andere ersetzt werden. Dekadenz ist der Normalfall.

Und jetzt sind wir dran? Im Untertitel formulieren Sie: „Der Westen am Scheideweg“.

Was die globale Entwicklung betrifft, gerät der Westen ins Hintertreffen, beispielsweise gegenüber China, wirtschaftlich, aber gleicherweise auch, was die expansiven kulturpolitischen und militärischen Absichten der Chinesen betrifft. Ansonsten ist für mich eines der Merkmale der verschwundenen Kulturen und Reiche: das Vergessen dessen, was das Eigene ist, was einen groß gemacht hat. Und genau das beobachte ich am Westen, wobei ich darunter Europa verstehe, aber auch Nordamerika und jene Teile der Welt, die westlich geprägt sind wie Australien, Neuseeland und Teile Südamerikas. Dort kann man den Verzicht auf das Eigene und sogar die Verteufelung des Eigenen beobachten. Ich nenne das einen Retroexorzismus.

Also Teufelsaustreibung im Rückblick?

Ja. Alles dreht sich darum: Wie böse waren und sind wir Europäer? Wir haben über die Welt nur das Allerschlimmste gebracht. Das ist Retroexorzismus.

Vergessen, was das Eigene ist und was uns groß gemacht hat – da klingelt ja sofort bei jedem von uns etwas. Straßennamen werden ausgetauscht, die Geschichte wird umgeschrieben, und es wird uns jeden Tag erklärt, dass alles, was unsere Vorfahren gemacht haben, böse war. Wir haben andere Menschen ausgebeutet, Blut klebt an allem, was wir besitzen. Wir sind irgendwie Sexisten, Faschisten, Nazisten, Kolonialisten. So wird uns die Vergangenheit ausgetrieben. Ist dieses Austreiben der Vergangenheit also Dekadenz?

Mutiges Grundlagenwerk historischer Forschung
Ein amerikanischer Politologe verteidigt den Kolonialismus
Wir treiben uns die Vergangenheit selber aus, indem wir geschichtsblind beiseite schieben, welche großen Errungenschaften kultureller, wissenschaftlicher und technischer Art wir als Europäer, als Westen der Welt geschenkt haben – übrigens auch Afrika geschenkt haben. Es wird gesagt, wir wären die Erfinder der Sklaverei, was Unsinn ist. Egon Flaig, einer der bekanntesten Historiker, der sich vor allem mit der Geschichte der Sklaverei beschäftigt hat, sagt, dass der Sklavenhandel in Arabien viel ausgeprägter war. Wir werfen uns vor, dass wir andere Länder ausgebeutet haben. Das ist auch nicht ganz zu verneinen. Aber wir übersehen, dass wir gleichzeitig mit den europäischen Fortschritten in der Medizin, dass wir durch die Gründung von Krankenhäusern, Missionsstationen und Schulen, durch den Bau von Eisenbahnen und Krankenhäusern in den Kolonien schon auch sehr viel Positives bewirkt haben.

Von der Atombombe bis zum Handy – kaum eine Erfindung, die nicht aus dem europäisch geprägten Kontext stammt, keine jedoch aus dem islamisch-afrikanischen. Ist es das, was wir als Erbe der christlich-abendländischen Kultur verstehen? Oder hätten die Afrikaner das auch erfinden können, wenn man sie nur gelassen hätte, statt sie zu unterwerfen?

Steile These, die man durch nichts widerlegen, aber auch durch nichts untermauern kann. Aber die Voraussetzungen für diese Errungenschaften sind ein Menschen- und Gesellschaftsbild, und zwar das abendländisch-christliche Menschen- und Gesellschaftsbild. Ein Menschenbild, das die Würde des Menschen im Sinne von Gottes Ebenbildlichkeit des Menschen anerkennt, ein Menschenbild, das von der Gleichberechtigung vor dem Gesetz ausgeht und vom freien Willen des Menschen; ein Menschenbild, in dem Freiheit vor Gleichheit und Eigenverantwortung vor Bevormundung rangieren. Das ist das, was uns eigentlich ausgemacht hat und was wir jetzt vergessen sollen.

Aber sie postulieren: Wenn man diese Basis des christlichen Abendlandes verlässt, landet man nicht beim Islam als Fortschritt, sondern als Rückschritt.

Es ist ein Rückschritt von der Warte des christlich-abendländischen Menschenbildes her. Mit Freiheit, Gleichheit, Eigenverantwortung, mit Würde des Menschen, Gleichberechtigung von Mann und Frau – gemessen daran ist das islamische Menschenbild ein Rückschritt.

Das ist also jetzt eine Art Kulturkampf. Wir raffen uns wieder auf und sagen: Weil wir diese Werte vergessen haben, lassen wir das düstere Mittelalter des Islam triumphieren. Das ist ja im Grunde genommen auch die Kernthese von Samuel Huntington, dessen bekanntestes Werk den Titel „The Clash of Civilizations“ trägt – auf Deutsch als „Kampf der Kulturen“ erschienen. Herr Kraus, leben wir in einem Krieg der Zivilisationen? Hier das christliche Abendland und Amerika, dort die schwarze, düstere Revolution der Mullahs, am schrecklichsten vielleicht in Afghanistan umgesetzt, wo Frauen wie Hühner gehalten werden?

Wobei interessanterweise Huntington sagt: Europa oder der Westen mit seinen Werten verschwindet nicht, weil er von außen verdrängt wird, sondern er verschwindet wegen der inneren Schwäche. Und genau das nenne ich Dekadenz. Kulturen sterben nicht nur durch äußere Einflüsse, sondern sie sterben, weil sie Suizid begehen.

Und wie zeigt sich dieser Suizid?

So wird ein Niemand zum Jemand
Warum fühlen sich Westeuropäer schuldig für ihre Geschichte?
Das Wegschmeißen dessen, was Generationen vor uns errungen haben, ist ein entscheidendes Merkmal. Dazu kommt – und das können wir schon im alten Rom feststellen – die nachlassende Verteidigungsbereitschaft und die Unlust, Kinder zu zeugen.

Nun haben Sie ja sehr viele Punkte aufgeführt, woran sich diese Dekadenz als Selbstaufgabe und Selbstverschlampung festmacht. Was sind die wichtigsten Punkte? Was offenbart diesen dekadenten Rausch des Aufgebens am deutlichsten?

Der europäische und deutsche Sündenstolz!

Was muss ich mir denn unter Sündenstolz vorstellen?

Die ständige Wiederholung: Wir waren die Schlimmsten in der Weltgeschichte, wir haben nur Übel über die Welt gebracht, und es wäre alles ein Paradies, wenn wir nicht gewesen wären.

Das müssen Sie uns bitte genauer erklären.

Afrika ist arm, weil wir Afrika nicht helfen, weil wir Afrika ausgebeutet haben. Aber Volker Seitz, lange Jahre Botschafter in Afrika, zuletzt in Kamerun, einer ehemaligen deutschen Kolonie, sagt: Afrika wird armregiert, die Hilfen versickern in der Korruption. Aber wir verpulvern weiter sinnlos Milliarden. 22 Milliarden für den Ausbau von Stromnetzen in Südafrika oder ein paar Dutzend Millionen für den Bau von Radwegen in Peru. Und wir glauben, wenn wir noch ein paar Millionen flüchtende Schutzbefohlene nach Deutschland holen, dann würden wir Afrika retten. Übrigens: Der Kontinent Afrika wächst jedes Jahr um 70 Millionen Einwohner, fast die Bevölkerung der Bundesrepublik.

Sie schreiben vom „Islam und tausendundeiner Demutsgeste“. Was ist das?

Eine Anspielung auf die Märchen aus „Tausendundeine Nacht“. Aber wenn ich mir anschaue, was wir an Demutsgesten zeigen in Deutschland, immer unvereinbar mit unserem Grundgesetz, das ist unglaublich! Kinderehen, Verwandtschaftsehen, Vielehen, Verschleierung der Frau, Rücksichtnahme auf muslimische Feiertage bis hinein in die Schulen: keine Schulausflüge oder Prüfungen im Ramadan. Das sind Gesten der Unterwerfung.

Aber woher kommt das? Woher kommt es, dass man nicht stolz ist, sondern sich schuldig fühlt? Woher kommt es, dass wir uns selbst beschimpfen und uns von irgendeiner Primitivkultur überrollen lassen, statt selbstbewusst zu sagen: Macht es uns erst mal nach!

Das hat zu tun mit der Neigung des abendländischen Menschen, sich ständig zu hinterfragen.

Das, was ihn stark gemacht hat, war also, alles infrage zu stellen?

Tichys Lieblingsbuch der Woche
Konservatismus in der Zeit der großen Transformation
Ich zitiere Friedrich Nietzsche, der ja sinngemäß gesagt hat: Europa wird an der Mitleidsmoral des Christentums zugrunde gehen. Da wird das christliche Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ vereinseitigt zu „Liebe nur den Übernächsten“. Die Fernsten-Liebe ist wichtiger geworden als die Liebe zu sich selbst, die ja auch ein christliches Gebot wäre. Und darauf sind wir auch noch stolz und befeuern das mit immer neuen Schuldbekenntnissen.

Und woher kommt das, diese Gleichzeitigkeit? Sie schreiben in ihrem Buch zu Recht: In den USA ist es nicht viel anders, in Großbritannien so ähnlich, Frankreich ist ein dem Untergang geweihtes Land, in dem jeden Tag Kirchen brennen und Menschen abgestochen werden, ähnlich wie in Deutschland. Woher kommt diese Gleichzeitigkeit der Selbstzerstörung?

Weil es im Westen, ausgehend von den Vereinigten Staaten, keine bürgerliche Intelligenz mehr gibt, sondern sich seit 50, 60, 70 Jahren nur linke Intelligenz durchsetzt: in den Medien, in den Wissenschaften. Alles, was bei uns ankommt – als Wissenschaft, als Medienhaltung – ist angelegt in den amerikanischen Universitäten und in den linken Medien. Das waren die Vorbilder für die Achtundsechziger, das waren die Vorbilder für die Sprachregelung der Political Correctness, das waren dann die Vorbilder für Cancel Culture und „critical whiteness“: alles autoaggressiv, letztendlich ohne zu sehen, was dieser Verlust bedeutet. Der britische Philosoph Roger Scruton …

… bei Scruton möchte ich darauf hinweisen, dass Tichys Einblick dessen Bücher nach Deutschland gebracht hat.

 Richtig, sehr verdienstvoll. Roger Scruton schreibt, wir erleben einen Verlust des Verlustes. Wir merken den Verlust gar nicht mehr. Der neue Mensch wird gemacht. Es ist ein Machbarkeitswahn. Der Mensch ist zu allem konditionierbar. Man stellt sich im Grunde genommen vor, ein neuer Mensch wird gemacht, der Mensch macht sich zum Schöpfer seiner selbst. Das steckt hinter den ständigen Belehrungen und Vorschriften und erhobenen Zeigefingern, die jeden Lebensbereich transformieren sollen und wollen.

Aber ist das nun unausweichlich? Stolpern wir jetzt unweigerlich in den Untergang? Oder können wir noch „Stopp!“ rufen? Wie fangen wir uns wieder, wie bremsen wir das?

Indem wir uns darauf besinnen, was uns stark und frei gemacht hat. Und das ist unsere Tradition, die im Lauf der Jahrhunderte entstanden ist – aus dem Judentum, aus dem Christentum und aus der Antike. Das Menschenbild der Individualität, der Würde des Menschen, der Freiheit des Menschen, der freien Entscheidungsfähigkeit des Menschen, der Verantwortung des Menschen gegenüber einem höheren Wesen, aber natürlich auch gegenüber der Gemeinschaft.

Und auch im Bewusstsein der Einzigartigkeit und Überlegenheit des Menschen?

Ja, die Würde des Menschen rekurriert im Grunde genommen auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen.

Am Schluss Ihres Buches widmen Sie sich einem Satz, der in der Überschrift lautet: „Lebt nicht mit der Lüge“. Was meinen Sie damit?

Einförmigkeit, Ungleichheit und Ausgrenzung
Wendt ist ein Aufklärer auf der Gegenposition zur Ideologie
Das hat mit Rausch zu tun, deshalb der Titel „Im Rausch der Dekadenz“. Wir sind besoffen von dieser Entwicklung und fantasieren uns in eine wunderbare Welt hinein – und da bin ich Psychologe, der fachlich einiges mit Rauschzuständen und mit Abhängigkeiten und Alkoholismus zu tun hatte. Wir sehen nicht mehr klar. Wir sind euphorisch, ohne Blick auf die Realität.

Wir brauchen aber wieder ein nüchternes, ein mündiges Wahlvolk. Ein Wahlvolk, das Rechte wahrnimmt, und zwar nicht nur alle vier, fünf Jahre. Die Leute sollen aufstehen, auf die Straße gehen gegen andere, regierungsfreundliche Demonstrationen. Ein Wahlvolk, das protestiert, protestiert, protestiert – bei den Intendanten, bei den Mitgliedern des Rundfunkrats. Ein Volk, das sagt: Ich zahle meine Zwangsgebühren nicht mehr. Also das stelle ich mir als zivilen Ungehorsam vor.

Also erster Punkt: ziviler Ungehorsam. Und zweitens?

Eine Rückbesinnung auf das, was bürgerlich ist. Der Begriff Bürgerlichkeit kommt von „Burg“, und eine Burg ist etwas relativ Homogenes, in sich Geschlossenes, was sich gegen außen wehrt. Bürgerlichkeit in dem Sinne ist auch das Beharren auf Standpunkten, das Abwehren von Forderungen und Interaktionen, die man nicht mag. Wir haben nur eine Chance als Festung „Westen“, als intellektuelle Festung, aber wohl auch als strategisch militärische Festung.

Dritter Punkt?

Bildung. Wir brauchen ein Bildungssystem, das Menschen nicht indoktriniert in Richtung Diversity und queer, sondern ein Bildungssystem, das zuallererst Leistung verlangt.

Das ist ja ganz altmodisch jetzt!

Ja. Und dazu kommt Anstrengungsbereitschaft. Die muss schon in der Familie beginnen. Die Kinder dürfen nicht nur verwöhnt werden, sondern müssen sich auch etwas erarbeiten, Verzicht lernen, Triebaufschub lernen – weil das die Ausstattung ist, mit der man dann eines Tages andere Herausforderungen bewältigt. Schluss mit dem Verwöhnen! Solche Kinder sind nicht zukunftsfähig, und das gilt nicht nur für die Schule. Wenn wir die Kinder, die jungen Leute nur mit besten Zeugnissen ausstatten, gaukeln wir ihnen etwas vor, belügen wir sie, und sie werden scheitern.

Zur Bildung gehört noch mit dazu: konkrete Inhalte statt irgendwelcher Kompetenzen für Verhalten oder Anweisungen zum Download. Ich möchte wieder konkretes Wissen und Können, vor allem in Geschichte, in den Naturwissenschaften und in der Mathematik, vermittelt sehen. Gerade Geschichte ist ein ideologiefeindliches Fach, weil junge Leute mit breitem Geschichtswissen erkennen können, wenn vielleicht Irrwege eingeschlagen werden. Aber wir schlittern in einen historischen Analphabetismus hinein, und die Folgen sehen wir schon jetzt.

Josef Kraus, Im Rausch der Dekadenz. Der Westen am Scheideweg. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 24,00 €.


Mit Ihrem Einkauf im TE-Shop unterstützen Sie den unabhängigen Journalismus von Tichys Einblick! Dafür unseren herzlichen Dank!!>>>
Die mobile Version verlassen