300.000. Das ist die Startauflage des neuen Romans von Michel Houellebecq. Von den letzten Büchern des Autors wurden in Frankreich mehr als vier Millionen Exemplare verkauft. Das sind Regionen, in denen sich sonst nur Barbara Cartland, Steven King oder Rosamunde Pilcher bewegen – Autorinnen und Autoren, die manchmal unterhaltsame quick reads produzieren. Houellebecqs Romane hingegen verlangen konsequentes deep reading. Bei ihnen handelt es sich um Kunst.
Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Denn dass es sich um ein Phänomen handelt, steht außer Frage. Kein anderer ernst zu nehmender europäischer Autor erzielt vergleichbare Auflagen. Keinem anderen wird zu Lebzeiten eine solch prächtige Werkausgabe zuteil, wie sie Flammarion für Houellebecq herausgegeben hat. Kein anderer zieht so viel mediale Aufmerksamkeit auf sich wie jener schrullige Kettenraucher, der sich an keine der von den Medien aufgestellten Regeln hält.
Um die Frage nach dem Phänomen Houellebecq zu beantworten, reicht es nicht aus, nach einer einzigen Antwort zu suchen. Das Phänomen Houellebecq ist multikausal begründet. Verschiedene Aspekte greifen ineinander. Die drei wichtigsten lassen sich mit hinreichender Klarheit beschreiben.
Autoren hießen früher Dichter und Poeten. Ihr Blick reichte weiter als der des durchschnittlichen Menschen. Autoren galten als Propheten. Der poeta vates ist der gottbegnadete Seher, dessen Inspiration übermenschliche Züge annimmt. Er lässt uns Dinge sehen und ahnen, die dem gemeinen Auge nicht zugänglich sind. Homer, der blinde Dichter, ist das Urbild des poeta vates. In dieser Tradition stehen auch Klopstock, Rimbaud, Edgar Allen Poe, Hamann, Baudelaire und andere.
Schonungsloser Realismus
In diese Reihe reiht sich nun auch Houellebecq ein. Seine Romane haben prophetischen Charakter, weil sie die hyperrealistisch beobachteten Merkmale der Wirklichkeit zu einer voraussehenden Bilanz unserer Epoche verdichten: In der »Ausweitung der Kampfzone« thematisiert er den Konflikt von Ökonomie und Sexualität im Wirtschaftsliberalismus, in den »Elementarteilchen« den Untergang der Scholastik und den Triumph des Materialismus, eine These, die in »Plattform« fortgeschrieben wurde. In der »Möglichkeit einer Insel« wird der Transhumanismus vorhergesehen, in »Karte und Gebiet« zieht Houellebecq die Konsequenzen, die der Nihilismus auf die Kunstproduktion hat. »Unterwerfung« entwirft das Bild eines islamistisch geprägten Europas. »Serotonin« benennt die Depression als das Signum unseres Zeitalters, und »Vernichten« schließlich (ein Buch, dessen Titel korrekt übersetzt eher »Auslöschung« oder »Auslöschen« hätte heißen müssen, wenn das nicht von einem Werk eines anderen Dichter-Sehers, Thomas Bernhard, schon belegt worden wäre) fasst die Themen der vorhergehenden Romane in einer spektakulären Engführung als einen universalisierten Lebensekel des Protagonisten zusammen.
Ein episches Werk
In den mehr als zwanzig Jahren epischer Produktion ist es Houellebecq gelungen, sich den Status eines prophetischen Dichters zu erarbeiten, in dessen Emanationen wir das Schicksal unseres Zeitalters als ein dekadentes Fin de Siècle wiedererkennen. Die unglaubliche Konsequenz, mit der Houellebecq dieses niederschmetternde, an Hieronymus Bosch gemahnende Fresko durchgeführt hat, die innere Logik, mit der er seine Romane motivisch miteinander verzahnt, verleiht dem Ganzen seiner epischen Produktion eine von keinem lebenden Autor auch nur annähernd erreichte, nicht-hinterfragbare Härte.
Er ist ein Naturalist von Gottes Gnaden, und das ist der zweite Aspekt des Phänomens Houellebecq. Wie das seherische, so hat auch das realistische Schreiben – das unerbittlich realistische Schreiben wohlgemerkt – kaum noch Anhänger unter den Gegenwartsautoren, die sich lieber in intellektuelle Konstruktionen oder ideologische Eskapaden flüchten. Realismus steht unter Kitsch-, ja unter Faschismusverdacht. Ein ästhetischer Idealismus dominiert die Szene, in dem das Bewusstsein das Sein bestimmen soll.
Nihilistischer Naturalismus
Und so konnte es passieren, dass uns erst Houellebecq wieder sehen lernte, indem er den erzählerischen Blick rücksichtslos auf die unappettitlichsten und beunruhigendsten Ereignisse des Lebens lenkte, wie es im Kino Lars von Trier tut. Man darf sich bei Houellebecq – wie übrigens auch bei Zola – nicht über die Abwesenheit von »Stil« als einer eigenständigen ästhetischen Qualität wundern oder diese ihm gar als Mangel vorwerfen. Diese Form sprachlicher Selbstverwirklichung interessiert Houellebecq nicht. Sie gehört nicht zu seinem Programm. Sprache ist genauso Materie wie das Leben selbst. Sprache ist sterblich geworden wie die Literatur. Sie hat keine Bedeutung mehr in einer Zeit, in der Messenger-Dienste und Emojis die Kommunikation bestimmen.
Eine schmerzende Sehnsucht
Bleibt der dritte Grund. Und mit diesem hat es nun eine ganz besondere Bewandtnis. Denn vielleicht – vielleicht! – ist es gar nicht die Lust am Untergang unserer materialistischen, digitalisierten, ent-individualisierten, sexbesessenen und zur Liebe komplett unfähigen Welt, die uns masochistisch an diesen Texten fesselt. Vielleicht ist es etwas ganz anderes, etwas diesem Zusammenbruch und diesem Niedergang vollständig Entgegengesetztes, das als ganz schwaches Licht in der Dunkelheit des Houellebecq’schen Universums leuchtet und sich kaum gegen die übermächtig scheinende Finsternis behaupten kann. Cécile, die Schwester des Protagonisten Paul Raison aus dem neuen Roman, ist eine praktizierende Katholikin, der es sogar gelingt, ihren eher skeptischen Bruder zur Weihnachtsmesse in die Dorfkirche im Beaujolais mitzunehmen.
Diese kleinen katholischen Motive gibt es in jedem der Romane Houellebecqs, und sie korrespondieren mit Aussagen, die er als Person gemacht hat. Er berichtete über wiederholte Versuche, zum Katholizismus zu konvertieren, die alle vergebens blieben. Er beklagt die Abwesenheit einer universalen und unangreifbaren Instanz, die im Besitz der Wahrheit ist. Und in einem Interview aus dem Jahr 2019 bekundete Houellebecq: »Zu den Zeiten, als der Islam verborgen war, wo es einen Islam im Keller gab, da lief alles gut. Jetzt machen die Muslime Probleme. Weil man ihnen sagt, sie könnten sichtbar sein. Um das zu regeln, wäre es besser, die katholische Religion würde stärker werden.«
Auf der Suche nach Ordnung, nach Moral?
Vielleicht war das pure Provokation, aber ich denke, eher nicht. Ohnehin greift der Versuch, Houellebecq als reinen agent provocateur abzukanzeln, viel zu kurz. Es handelt sich bei dieser Aussage vielmehr um den nachvollziehbaren Wunsch nach Sinn-Ordnung, nach Sortierung der Realien, nach Moral, ja nach Erlösung. Vielleicht sogar nach Erlösung von der Literatur selbst. Jedenfalls brennt tief in den Grüften der Houllebecq‘schen Untergangslandschaften eine Kerze, deren Schein immer wieder durch die düsteren Texturen hindurchleuchtet. Und möglicherweise ist dieser schwache Hoffnungspunkt das wirkliche Faszinosum seiner Romane.
Dieser Beitrag von Dr. Alexander Pschera erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Michel Houellebecq, Vernichten. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. DuMont Literaturverlag. Hardcover mit Schutzumschlag, 624 Seiten, 28,00 €.