Tichys Einblick
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Das Feuer einer Inflation ist nur schwer zu löschen

Massive Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel schüren die Angst vor Inflation. Hans-Werner Sinn, langjähriger Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, über Ursachen und möglicherweise katastrophale Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft

Tichys Einblick: Herr Professor Sinn, Sie zitieren zu Beginn Ihres neuen Buches „Die wundersame Geldvermehrung“ Stefan Zweig mit folgendem Satz: „Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.“ Sehen Sie die Gefahr von Inflation derart dramatisch?

Hans-Werner Sinn: Ich prognostiziere nicht, dass sich die Geschichte wiederholt. Aber auch als nüchterner und an Zahlen orientierter Ökonom muss man sich bei wirtschaftlichen Entwicklungen vor Augen halten, welche katastrophalen Konsequenzen die Inflation schon einmal hatte. Sie greift tief in unser Leben ein; sie kann im schlimmsten Fall ganze Gesellschaften zerstören. Stefan Zweig hat sehr plastisch beschrieben, wie sich die große Inflation des Jahres 1923 auf das tägliche Leben der Menschen auswirkte, wie das Kleinbürgertum verarmte und wie zermürbend es war, wenn die Frauen den Männern an den Werkstoren die Lohntüten abnahmen, um möglichst schnell Lebensmittel einzukaufen, weil die Inflation so rasend war, dass schon wenige Stunden später der Lohn nichts mehr wert war. Aber nochmal: Das steht uns so nicht unmittelbar bevor, doch sehe ich am Horizont genug Gefahren.

Was besorgt Sie dann?

Das Feuer einer Inflation ist nur schwer zu löschen, wenn es erst einmal über einen bestimmten Punkt hinaus angewachsen ist, denn es kann sich von selbst verstärken. So kaufen die Leute langlebige Konsumgüter, um weiteren Preissteigerungen vorzugreifen, und das heizt die Inflation noch mal an. Auch verlangen die Gewerkschaften höhere Löhne zur Kompensation der Inflation, und das erzeugt dann wieder einen neuen Preisschub. Das Feuer der Inflation muss man sofort austreten, wenn es anfängt, denn Inflationserwartungen und tatsächliche Inflation können sich gegenseitig aufschaukeln.

Hat denn schon ein Feuer zu brennen begonnen?

Und wie! Wir hatten im Oktober 4,5 Prozent Inflation bei den Konsumgüterpreisen gegenüber dem Vorjahresmonat, und die Bundesbank rechnet mit sechs Prozent zum Jahresende. Vor allem haben wir heute schon eine starke Inflation bei den gewerblichen Erzeugerpreisen, die sich zuletzt Monat für Monat verstärkte. Der Index der gewerblichen Erzeugerpreise erfasst die Preise der zahlreichen Zwischenstufen der Produktion, die bis zum fertigen Produkt notwendig sind, und zwar netto, ohne die Mehrwertsteuer.

Dieser Preisindex hat einen gewissen Vorlauf zu dem, was wir als Konsumenten bezahlen. In Deutschland stieg er im Oktober im Vergleich zum Vorjahresmonat schon um 18,4 Prozent. Das war der höchste Wert seit 1951, also innerhalb eines Lebensalters. Selbst der maximale monatliche Anstieg während der Ölkrisen der 1970er-Jahre, der 16,4 Prozent betrug, wird dadurch in den Schatten gestellt.

Für andere Länder haben wir bislang nur die September-Werte, aber auch die sind bereits alarmierend. So kam Frankreich auf eine Inflation der gewerblichen Erzeugerpreise von zwölf Prozent, Italien von 16 Prozent, Finnland von 18 Prozent, Holland von 21 Prozent und Spanien von 24 Prozent. Es handelt sich also um ein gesamteuropäisches, ja weltweites Phänomen.

Sendung 02.12.2021
Tichys Ausblick Talk: „Inflation kommt plötzlich“ – Hans-Werner Sinn im Gespräch
Der Anstieg der Zwischenproduktpreise wird nicht eins zu eins zu einer Inflationsrate der Konsumgüterpreise führen. Aber wenn die Vorstufen der Produktion so viel teurer werden, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Endstufen deutlich teurer werden, wenn auch längst nicht so stark, weil die Anbieter auf den Endstufen die Verteuerung zum Teil auffangen. So oder so deuten alle Signale auf eine sehr hohe Inflation hin, die mit erschreckender Wucht zugange ist. Das Feuer brennt schon, und zwar kräftig. Es ist Zeit zu handeln.

Was macht Inflation so gefährlich? In den vergangenen Jahren galt sie als besiegt, und die Europäische Zentralbank bemühte sich, sie wenigstens auf zwei Prozent zu steigern. Wo ist das Problem für die Gesellschaft? Trifft Inflation denn nicht alle gleichmäßig?

Das sind zunächst einmal die Umverteilungseffekte. Die Gläubiger verlieren einen Teil ihrer Forderungen. Das betrifft alle, die sparen oder Lebensversicherungsverträge besitzen. Von Letzteren gibt es in Deutschland knapp 90 Millionen. Die Sparer und Versicherten kriegen dann nur entwertetes Geld zurück. Verlierer sind auch Lohnbezieher mit festen Arbeitsverträgen in der Privatwirtschaft oder beim Staat, jedenfalls so lange, bis ihre Löhne angepasst werden. Bei der Inflation vor hundert Jahren wurden sie kaum angepasst; viele Menschen verarmten. Das hat sie politisch radikalisiert. Ich sage nicht, dass uns so etwas jetzt bevorsteht. Ich warne aber davor, darauf zu hoffen, dass das Feuer der Inflation von allein wieder ausgeht.

Welche gesellschaftlichen Gruppen trifft denn nun eine kräftige Inflation besonders hart?

Am härtesten betroffen sind die Menschen in der Mitte der Gesellschaft, früher nannte man sie Kleinbürger im Gegensatz zum Großbürgertum. Sie werden von zwei Seiten in die Zange genommen: Die Arbeitseinkommen der Arbeiter und Angestellten verlieren an Wert, und ihr Vermögen, das sie bar, in Form von Sparbüchern und Lebensversicherungen halten, schmilzt dahin.

Es sind auch die kleinen Gewerbetreibenden, die so für ihr Alter vorsorgen wollten und die plötzlich mit leeren Händen dastehen. Gleichzeitig entstehen auch große Vermögenszusammenballungen, weil Leute mit vielen Schulden und hohen Realvermögen wie Immobilien und Aktien reich werden.

Könnte man aber nicht hoffen, dass das Wirtschaftswachstum durch eine Inflation angeregt wird?

Das Gegenteil ist wahrscheinlich. Inflation hat ja auch den Nachteil, dass das Geld seine Funktion als Orientierungsmaßstab für den Tausch von wirtschaftlichen Leistungen und Gütern verliert. Der Gläubiger weiß nicht, wie viel er in realer Rechnung später einmal zurückkriegt, und der Schuldner weiß nicht, was er real wird zahlen müssen. Diese Unsicherheit belastet die langfristigen Kreditverträge. Die Inflation führt dazu, dass solche Verträge erodieren. Man braucht aber langfristige Kreditverträge, um auch langfristige Investitionen zu finanzieren, die Wachstum bewirken.

Geld muss stabil sein. Wenn es nicht stabil ist, dann bricht alles Mögliche zusammen. Das kann im Extremfall bis hin zu dem Umstand gehen, dass man dem Geld überhaupt nicht mehr traut, wie es eben in der großen Inflation in Deutschland der Fall war, die Stefan Zweig beschrieben hat. Oder man tauscht Zigaretten. Dann ist man wieder beim Realtausch angekommen, wie zu Beginn der menschlichen Kultur. Man fiele also in eine archaische Wirtschaftsweise zurück. Im Extremfall zerstört die große Inflation Wohlstand und Wachstum und unsere Form des Wirtschaftens an sich. Aber nochmal, wir sind da noch nicht. Damit wir auch nicht dorthin kommen, muss die Feuerwehr jetzt ausrücken.

Kritiker werfen der Europäischen Zentralbank vor, sie habe durch den massenhaften Ankauf von Staatsverschuldungstiteln insbesondere der südlichen Eurostaaten zu viel Geld in Umlauf gebracht und damit erst die Voraussetzung für Inflation geschaffen. In Ihrem Buch nennen Sie das „wundersame Geldvermehrung“. Können Sie die noch einmal erklären?

Es geht um 4000 Milliarden Euro an Zentralbankgeld, die über Käufe von Staatspapieren aus den physischen und elektronischen Druckerpressen des Eurosystems in den Umlauf gekommen sind. Das ist viel, wenn man es vergleicht mit der Geldmenge, die vor der Krise von 2008 und der großen Finanzkrise ausgereicht hat, die europäische Wirtschaft zu versorgen. Das waren nämlich nur 880 Milliarden Euro. So viel Schmiermittel hatte für die reibungslose Funktion der Eurozonenwirtschaft ausgereicht.

Zweijährige Untersuchungsphase
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Jetzt sind also allein vier Billionen oder 4000 Milliarden noch hinzugekommen durch den Kauf dieser Staatspapiere. Etwa 1,2 Billionen kamen auch noch durch andere geldpolitische Maßnahmen der Notenbanken in Umlauf. Insgesamt liegt die Zentralbankgeldmenge heute bei 6,1 Billionen Euro. Das Geld wird meistens gehortet. Es liegt im Safe oder auf den Konten, die die Geschäftsbanken bei den nationalen Notenbanken unterhalten. Wehe, wenn das Geld wirklich in Umlauf kommt und für Kredite und Güterkäufe verwendet wird. Der Geldüberhang ist ein Benzinkanister in der Nähe des Feuers.

Wie entfernt man ihn?

Die EZB müsste das viele überschüssige Geld heute schon einsammeln. Knapp fünf Billionen von 6,1 Billionen Euro sind gemessen an dem, was relativ zur Wirtschaftsleistung ausreicht, überflüssig. Dazu müssten die Notenbanken die vielen Staatspapiere, die sie gebunkert haben, wieder verkaufen.

Das aber werden sie nicht tun wollen, weil dann die Zinsen steigen und die Kurse fallen. Die Staaten der Eurozone, die sich wegen der niedrigen Zinsen, die die EZB bot, in den letzten Jahren massiv zusätzlich verschuldet haben, kämen in Schwierigkeiten. Außerdem zögern sie, weil die Kurse der Staatspapiere fallen würden und sie selbst sowie die Banken, die ähnliche Papiere in ihren Büchern haben, riesige Abschreibungsverluste hätten. Eine große Bankenkrise wäre die Fol­ge.

Alternativ könnten sich die Notenbanken bei den Geschäftsbanken verschulden oder, was dasselbe ist, hohe Zinsen auf Einlagen bezahlen. Das hätte etwas andere Wirkungen, doch letztlich würden auch dann die Kurse fallen. Außerdem hätte das Notenbanksystem unmittelbare Zinsverluste zu verkraften, weil es die Staaten für jedermann sichtbar mit den von ihr selbst aufgenommenen Krediten subventionieren würde.

So oder so könnte eine Beseitigung des großen Geldüberhangs das Eigenkapital der Zentralbanken vernichten, was die Staaten der Eurozone nach Aussagen des deutschen Verfassungsgerichts und auch der EZB selbst zwingen würde, die nationalen Notenbanken mit staatlichen Mitteln zu rekapitalisieren. Die EZB hat ja eine gute Begründung für die Geldschwemme. Sie sagt, nur so wäre die Wirtschaft angekurbelt worden. Die Sparer verlören vielleicht wegen der Nullzinsen Geld, aber hätten wenigstens ihren sicheren Job. Die Rechnung ging nicht auf, denn der Löwenanteil des vielen Geldes, das durch die Staatspapierkäufe ausgegeben wurde, landete ja in den Horten, wo es nicht nachfragewirksam wurde.

Die Zinssenkungen bis in die Gegend von null waren vor dem Beginn der Käufe im Jahr 2015 schon fast erreicht. Damit waren die Zinsen fast schon am Anschlag, und das Geld, das durch die Staatspapierkäufe in Umlauf kam, wanderte in die Liquiditätsfalle, wie die Ökonomen eine Situation nennen, in der die Horte neu geschaffenes Zentralbankgeld absorbieren. Die Politik der Füllung der Liquiditätsfalle durch die Staatspapierkäufe hat nicht gewirkt, als sie hätte wirken sollen, und sie behindert heute die Inflationsbekämpfung.

Aber wird dann nicht wenigstens der Aufschwung umso schneller kommen?

Paradebeispiel für falsche Wirtschaftspolitik
Hinter dem Fachkräftemangel steht die Produktivitätskrise
Dazu müssen erst einmal die Lockdowns behoben und die Lieferengpässe überwunden werden. Helmut Schmidt hatte während der Ölkrisen schon in den 70er-Jahren gesagt: Fünf Prozent Inflation seien ihm lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit. Er hat dann allerdings beides erhalten – Inflation plus Arbeitslosigkeit. Ich schätze Helmut Schmidt sonst sehr, aber wegen seiner Politik der Staatsverschuldung ist die Schuldenquote des Staats von 20 auf 40 Prozent gestiegen, und statt der Beschäftigung entstand Inflation. Am Ende des inflationären Jahrzehnts hatte Westdeutschland 800.000 Arbeitslose mehr als am Anfang. Man nannte diese Situation Stagflation.

Sehen Sie Parallelen zu heute?

Ja, fast so wie heute war auch damals die FDP in der Regierung und hat gesagt: Steuererhöhungen wird es mit uns nicht geben. Aber dann war die SPD dran und sprach von vielen neuen Aufgaben in der Sozialpolitik; man wollte Freibäder bauen können, in die lokale Infrastruktur investieren und die Sozialleistungen verbessern. Nur woher nehmen, wenn nicht stehlen? Der Staat borgte sich das Geld, das er nicht hatte. Das geschah, während das Angebot der Unternehmen sich verknappte. Weil die Saudis den Ölhahn zugedreht hatten, gab es eine recht heftige Inflation, und zugleich entstand Arbeitslosigkeit. Die Nachfrage ist wegen der umfangreichen Staatshilfen riesengroß, während zugleich der Materialmangel das Angebot begrenzt.

Das Ifo-Institut schätzt, dass wegen des Materialmangels allein im Jahr 2021 das Sozialprodukt um 40 Milliarden Euro kleiner ist, als es sonst gewesen wäre. In dieser Situation ist es ratsam, die Staatsschulden zu tilgen, anstatt sie weiter zu erhöhen, auch wenn die EZB die Zinsen bei null hält. Normalerweise sorgt der nach einer Staatsverschuldung steigende Zins dafür, dass andere Nachfrager verzichten und Teile des Sozialprodukts dem Staat überlassen. Doch wenn die EZB nicht mitspielt, dann werden andere Nachfrager stattdessen über steigende Preise verdrängt. Genau das ist heute die Situation in der Eurozone.

Sie sagen also, Ölverknappung plus Staatsverschuldung waren der Anstoß für die Inflation der 70er-Jahre und die damalige Arbeitslosigkeit? Heute erleben wir wieder eine dramatische Energieverknappung und -verteuerung.

Wir hatten in den 70er-Jahren zwei Ölkrisen: 1972/73 und 1978/79 waren die Höhepunkte, und im Mittel der Jahre 1970 bis 1980 war die durchschnittliche Preissteigerungsrate pro Jahr 5,1 Prozent, also erheblich höher als das, was wir in den letzten Jahren hatten. Damals fehlte nur das Öl.

Interview
Hans-Werner Sinn: „Das wird kein gutes Ende nehmen“
In der Zukunft wollen wir aus umweltpolitischen Gründen nicht nur auf das Öl verzichten, sondern auch auf die Steinkohle, die Braunkohle und die Kernkraft. Wir wollen temporär mit Gas zurande kommen, aber bereits in 24 Jahren, also 2045, soll ja auch damit wieder Schluss sein. Das heißt, es ist beschlossen, all die traditionellen und gleichzeitig billigen Energiequellen sukzessive abzuschalten. Ersetzt werden sollen sie durch den Wind- und Sonnenstrom, bei dem noch völlig unklar ist, wie man das Problem der zum Teil ausgiebigen Dunkelflauten lösen könnte, ohne zugleich für die Erstellung von Speichern horrende Energiekosten zu produzieren.

Nun sagt aber die EZB, dass wir derzeit nur einen einmaligen Kostenschub haben, Corona-bedingt. Im kommenden Jahr wird es schon wieder besser, und dann stören auch Energiepreissteigerungen nicht so sehr.

Die momentane Angebotsverknappung entstand durch eine Verknappung von Produkten im Energiebereich und Lieferschwierigkeiten. Chips werden nicht geliefert, Aluminium kriegt man kaum, weil Aluminium mit Magnesium legiert wird, um stabile Werkstoffe entstehen zu lassen, die man zum Beispiel im Motoren- und Fahrzeugbau braucht. Denken Sie nur an die E-Autos, die zur Kompensation der schweren Batterien viele Teile aus Aluminium benötigen. Das Magnesium kommt vor allem aus China, aber China liefert nicht. Jedenfalls stauten und stauen sich die Frachter vor den Häfen in Südchina. Davon ist eine Vielzahl von Vorprodukten betroffen. Warum? Weil man Angst hat vor dem Virus.

Die Mannschaften, die ihre Frachter jetzt anlanden, bringen vielleicht das Virus mit, und dann macht man sicherheitshalber gleich den ganzen Hafen dicht. Das war im Schiffsverkehr immer so in der Geschichte. Das Schiff, das von anderen Erdteilen kam, musste erst einmal in die Quarantäne. Und dieses normale Vorgehen wird jetzt extensiv interpretiert von den Chinesen, vielleicht auch aus politischen Gründen, weil die Amerikaner ja doch eine harte Gangart in der neuen Konfrontation der Blöcke gewählt haben.

Vielleicht wollen sie es uns mal zeigen. Aber offensichtlich liegt der Haupteffekt in der Epidemie selbst. Betroffen sind nicht nur die Chinesen. Lockdowns haben auch hierzulande die Produktion und damit das Angebot reduziert. Sie haben nicht die Nachfrage reduziert, denn es gab und gibt Kurzarbeitergeld. Das ist alles erklärbar und logisch nachvollziehbar. Aber die Konsequenz ist, dass wir eine Angebotsverknappung haben bei einer stabilen Nachfrage, die durch Staatsverschuldung aufrechterhalten und sogar ausgeweitet wird. Das ist die Kombination von Faktoren, die Inflation auslöst. Und zum Bremsen müsste die EZB die Geldhorte einsammeln, was sie aber nicht will, um hoch verschuldete Staaten und unterkapitalisierte Banken zu schützen.

Die EZB spricht von einem „Inflationsbuckel“, der im kommenden Jahr wieder zurückgeht.

Ja, da hat sie teilweise recht. Die Lieferengpässe werden sich im Verlaufe des nächsten und übernächsten Jahres hoffentlich auflösen, wenn größere Teile der Welt geimpft sind. Aber auch ein temporärer Buckel ändert die Inflationserwartungen. Darauf hatte ich eingangs hingewiesen. Wenn erwartet wird, dass es Inflation gibt, dann fangen die Leute an zu hamstern und ziehen die Käufe langlebiger Gebrauchsgüter wie Autos und Kühlschränke vor. Wer mit dem Hauskauf liebäugelt, wagt plötzlich alles, weil er noch höhere Preise erwartet.

Tichys Lieblingsbuch der Woche
Mit der Energiewende entschlossen in ein grünes Nirwana
Man möchte den erwarteten Preissteigerungen zuvorkommen, und indem man das tut, steigen die Preise erst recht. Auch die Gewerkschaften werden die heute bereits stattfindenden und für die Zukunft noch erwarteten Preissteigerungen auf ihre Lohnforde­rungen draufpacken, weil sonst die Mitglieder meutern. Dadurch steigen die Lohnkosten schneller als die Produktivität in den Firmen. Die Firmen müssen das wiederum weitergeben in die Preise. Die Inflation entwickelt sich dann in einer Art selbsterfüllender Prophezeiung. Es gibt eine Lohn-Preis-Spirale. Und dann gibt es auch noch andere Anstoßeffekte.

Was meinen Sie damit?

Zum Beispiel die grüne Energiewende. Weil Energie weltweit knapp bleiben wird und wir in Deutschland und Europa die Energie künstlich verteuern, gibt es einen weiteren Kostenschub für die Unternehmen, der die Inflation befeuert.

Aber einige sagen doch, die grüne Energie würde billiger.

Wenn es so wäre, würde sie sich auf den Märkten von allein durchsetzen und müsste von den Staaten nicht erzwungen werden. Dann würden ja Unternehmer, die Profit machen wollen, von alleine in diese Branchen hineingehen und viel Geld investieren in Erwartung der Gewinne, die sie machen können. Wenn der Staat etwas erzwingen muss, was die Leute nicht von alleine getan hätten, dann ist es teurer, nicht billiger. Angesichts der massiven staatlichen Intervention, die die Energiewende verlangt, ist die grüne Energie sogar sehr viel teurer. Schon heute hat Deutschland die höchsten Stromkosten aller Industrieländer.

Nun will Frankreich billigen Atomstrom erzeugen und Benzin- und Dieselpreise deckeln. In den USA wird darüber diskutiert, die nationalen Benzinreserven in den Markt zu kippen, um den Benzinpreis zu senken. Wir erhöhen im Januar noch einmal die Spritsteuer. Ist das vernünftig?

Die Amerikaner können gar nicht ohne das Öl zurechtkommen. Die Europäer denken, sie könnten es. Wir Deutschen setzen auf den extrem flatterhaften Wind- und Sonnenstrom, die Franzosen auf die Kernenergie. Durch EU-Verordnungen werden die Autohersteller gezwungen, die Verbrennungsmotoren mit ihren Tanks durch Elektromotoren mit Batterien zu ersetzen, von denen behauptet wird, sie hätten einen CO2 -Ausstoß von null, weil ja der Strom aus der Steckdose kommt. Die Grünen sagen: Wir sind Vorreiter der neuen Entwicklung. Und dann gibt es neue Marktchancen, und wir werden reicher.

Das ist Unsinn. Seriöse Vertreter dieser Politik wie Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut zum Beispiel sagen in aller Klarheit: Das kostet Geld. Es kann nicht sein, dass euer materieller Lebensstandard steigt durch das Abschalten der konventionellen Kraftstoffe. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Umweltschutz gibt es nicht zum Nulltarif. Seriös ist die Forderung, Kosten auf sich zu nehmen, um die Erderwärmung zu verlangsamen. Unseriös ist die Aussage, dadurch stiege auch noch der materielle Lebensstandard.

Gibt es noch weitere Inflationstreiber?

Es gibt ja weitere Effekte. Etwa dass die Amerikaner die Zinsen schneller erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen. Als Reaktion kaufen die Anleger Dollaranlagen und werten so den Euro ab. Die Konsequenz ist eine importierte Inflation. Und dann ist da noch die demografische Verwerfung.

Die Babyboomer, die um das Jahr 1964 geboren wurden, gehen bald in Rente und wollen konsumieren, ohne selbst zu produzieren. Sie kriegen das Geld über staatliche Umverteilungssysteme, und sie haben Ersparnisse, die sie auflösen. Ihre Nachfrage nach Gütern ist nach wie vor da, aber nicht mehr die Produktion.

Sie schreiben gegen Ende Ihres Buchs: „Selten fühlt man sich als Ökonom so hilflos wie heute gegenüber der sich anbahnenden Gefahr der Inflation.“ Sie als einflussreicher Ökonom fühlen sich hilflos angesichts der heraufziehenden Inflation?

Ich bin pessimistisch, weil ich bei der Europäischen Zentralbank nicht den Willen sehe, entschlossen gegen die Gefahren einer Inflation vorzugehen. Die Inflation wird kleingeredet; die sich selbst verstärkenden Effekte werden nicht gesehen. Auch die Wirtschaftspolitik hat offensichtlich ihr Inflationsgedächtnis verloren und hantiert leichtfertig mit einer Politik der versteckten Staatsverschuldung über Fonds, die genauso inflationstreibend ist wie eine offene Verschuldung. Ich sehe es als meine Aufgabe an, davor zu warnen.


Hans-Werner Sinn, Die wundersame Geldvermehrung. Staatsverschuldung, Negativzins, Inflation. Herder Verlag, 432 Seiten, 28,00 €.


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