Die Militärgeschichte wird in der deutschen Medienlandschaft stiefmütterlich behandelt. Das umfasst die Ereignisgeschichte genauso wie bedeutende Felder der Technikgeschichte und der Alltagsgeschichte des Krieges. Während deutsche Historiker in der Analyse von politischer Geschichte stark sind, die sich vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zugetragen hat, und in der Aufarbeitung von Holocaust und anderen Naziverbrechen, hapert es mit der Aufarbeitung des Alltags an der Front.
Das ist zu bedauern, weil wir die Möglichkeit gehabt hätten, aus erster Hand Millionen von Soldaten über ihre Erfahrungen zu befragen. Zeitzeugen von Schlachten und Kriegsschauplätzen wurden viel zu selten eingebunden in die Vermittlung des Krieges. Historiker anderer Nationen referieren über Militärgeschichte – einschließlich der deutschen – aus dem Effeff.
In anderen Ländern gelingt etwas, was hierzulande immer noch als höchst problematisch angesehen wird: die Unterscheidung zwischen Soldaten und Verbrechern. In Deutschland schämen wir uns oder haben Angst, Teile der Geschichte anzusprechen, weil wir gewohnt sind, alles sofort in Schuld oder Unschuld einzusortieren. Das hemmt auch alle Bestrebungen, eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur aufzubauen. Der Historiker Christian Hardinghaus versucht, diese Lücke zu füllen, und hat Soldateninterviews geführt.
Tichys Einblick: Nun jährt sich am 22. Juni 2021 zum 80. Mal der Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion. Am 22. Juni 1941 startete das „Unternehmen Barbarossa“. Warum wurde dieser Name gewählt?
Christian Hardinghaus: Ab Januar 1941 tauchte der Deckname „Fall Barbarossa“ in Wehrmachtsakten auf. Barbarossa, zu Deutsch „Rotbart“, ist der italienische Spitzname für Friedrich I., der von 1155 bis 1190 als Kaiser das römisch-deutsche Reich regierte. Zwar werden immer wieder Spekulationen darüber angestellt, wer sich den Namen für die Operation ausgedacht hat, aber eine schlüssige Herleitung liegt bis heute nicht vor. Das ist nachvollziehbar, denn der einzige Sinn von Decknamen ist es schließlich, den Gegner zu verwirren. Ähnlich war es mit Bezeichnungen wie „Fall Weiß“ für den Angriff auf Polen, „Fall Rot“ für den auf Frankreich, „Weserübung“ für die Besetzung Norwegens oder „Sonnenblume“ für die Verlegung deutscher Truppen nach Nordafrika.
Am 24. August 1939 war es, noch vor dem Überfall auf Polen, zum „Hitler-Stalin-Pakt“ gekommen, dem Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Dennoch hatte Hitler ab 1940 den Überfall auf die Sowjetunion vorzubereiten begonnen. Am 22. Juni 1941 stand ein Ostheer mit drei Millionen Soldaten dafür parat. Konnte Stalin überrascht sein?
Die meisten dieser Soldaten hatten bis zum Schluss gehofft, sie seien Teil eines Einschüchterungs- oder Täuschungsmanövers. Der Hitler-Stalin-Pakt passte ja gar nicht zu dem Angriff, obwohl die Welt bereits von Hitler völlig überrascht worden war. Und es gibt Berichte von kampfbereiten deutschen Soldaten, die sich, schon in Lauerstellung zum Angriff, noch darüber wunderten, dass an den Grenzen friedlich gehandelt wurde. Volle russische Getreidegüterzüge passierten, wie zwischen Hitler und Stalin ausgehandelt, unbehelligt die Grenzen zwischen sowjetischem und deutsch besetztem Gebiet.
Die meisten Historiker gehen heute davon aus, dass sich Stalin tatsächlich überrumpeln ließ. Er ignorierte nachweislich sämtliche Warnungen von Geheimdiensten, die über den Angriff – sogar in Details – informiert waren. Warum er das tat, ist nicht ganz klar. Dass er selbst den Krieg zu diesem Zeitpunkt wollte und absichtlich alles so geschehen ließ, ist unwahrscheinlich. Stalin wusste allerdings, dass es auf lange Sicht eine kriegerische Auseinandersetzung mit Deutschland geben würde, seine Rote Armee war im September 1941 aber nicht schlagkräftig genug. Wahrscheinlich ist, dass Stalin Hitler völlig falsch einschätzte. Er hatte den deutschen Diktator wohl nicht für verrückt genug gehalten, einen Zweifrontenkrieg zu riskieren, und hatte sich möglicherweise als wichtigen Rückhalt für Hitlers Pläne, das „kapitalistische“ England zu besiegen, betrachtet. Erst am 3. Juli rief Stalin sein Land zum „Großen Vaterländischen Krieg“ auf.
Wie rechtfertigte Hitler diesen Schritt vor der deutschen Bevölkerung?
Hitler hatte öffentlich erklärt, dass die Sowjetunion alle Vereinbarungen des Grenz- und Freundschaftsvertrags massiv gebrochen und Deutschland verraten habe. Das Deutsche Reich sei demnach zu einem Präventivschlag gezwungen, da sonst ein Angriff der Sowjetunion unmittelbar bevorstünde. Das wurde auch den kämpfenden Soldaten über den Generalstab eingeimpft. So lässt sich der so häufig über die Feldpost geäußerte Satz „In der Fremde schützen wir unsere Heimat“ erklären. Heute wissen wir, dass Hitlers Ziele von Anfang darin lagen, „Lebensraum im Osten“ zu erobern und dafür die Völker der Sowjetunion zu versklaven. Die Mordtaten der hinter der Wehrmacht operierenden Einsatzgruppen des SD und der SIPO kennend, sprechen wir heute richtigerweise von einem Vernichtungsfeldzug, wenn wir den gesamten Krieg in der Sowjetunion bewerten.
Sie haben für Ihr Buch „Die verdammte Generation“ mit Soldaten gesprochen, die diesen Angriff miterlebten. Wie haben die sich an den 22. Juni 1941 erinnert? Euphorisiert? Besorgt?
Auf die anfängliche Überraschung folgten Blitzkriege, wie man sie schon aus den Feldzügen gegen Frankreich oder Polen kannte. Die Rote Armee schien kaum eine Chance zu haben. Aus diesen unfassbar schnellen Erfolgen entwickelte sich unter den einfachen Soldaten eine Zuversicht, auch diesen Krieg schnell für sich entscheiden zu können. Dazu kam die Indoktrination, der russische Mensch sei minderwertig.
Als im Herbst 1941 der Vormarsch ins Stocken geriet und dann im Dezember vor Moskau völlig zum Erliegen kam, änderte sich die Einstellung innerhalb der Wehrmacht. Man bemerkte, dass sowjetische Soldaten zäh, tapfer und clever kämpften, und erkannte darin einen Widerspruch zur NS-Propaganda. Bis Ende 1941 waren schon etwa 300.000 deutsche Soldaten gefallen. In die Trauer um die gefallenen Kameraden mischte sich bei einigen Soldaten zunehmend Mitleid mit den Soldaten der Roten Armee, die von der eigenen Armeeführung wie Kanonenfutter verheizt wurden. Aber es nutzte nichts, wer in die Schusslinie geriet, wurde erschossen.
Diese Berichte der Zeitzeugen sind sehr beeindruckend. Für sie wurde das Töten zur Routine. Über Stunden und Tage mussten sie mit Maschinengewehren oder Artillerie in Trauben von Feindsoldaten feuern, die, wenn sie zurückwichen, nicht selten von den eigenen Kommissaren von hinten erschossen wurden. Hinterlassen wurden Felder, die übersät waren mit Toten. In den folgenden Jahren, während der Krieg auch über deutschen Städten ausgetragen wurde, gesellte sich zu der Barbarei auf Russlands Feldern die Sorge um die Angehörigen zu Hause. Werde ich sie wiedersehen? Vor wem muss ich sie schützen?
Eines der grausamsten Schicksale musste Leningrad, das frühere und heutige St. Petersburg, während der endlos langen Belagerung vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 erfahren. Die Heeresgruppe Nord hätte Leningrad erobern können. Warum wollte Hitler das nicht?
Da, wo die Zivilbevölkerung unverschuldet zwischen die Fronten geriet, zeigte sich der Krieg von seiner schrecklichsten Seite. Die Menschen in Leningrad wurden zum Spielball zweier hässlicher Ideologien: Hakenkreuz und Sowjetstern. Der Krieg hatte sich zu einem erbitterten, persönlichen Machtkampf auch seiner Führer entwickelt. Weder Hitler noch Stalin waren bereit, nur einen Schritt zurückzuweichen.
Das „Unternehmen Barbarossa“ wird zeitlich datiert vom 22. Juni 1941 bis zum 5. Dezember 1941? Warum diese Eingrenzung?
„Barbarossa“ war im Dezember 1941 nach der Schlacht um Moskau gänzlich gescheitert. Nun mussten neue Strategien entworfen werden, die entsprechend andere Decknamen erhielten, wie das „Unternehmen Blau“ – der erste Teil der deutschen Sommeroffensive, während derer die Wehrmacht strategisch äußerst wichtige Gebiete zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer besetzen konnte. Spätestens mit der Niederlage von Stalingrad und dem Scheitern des „Unternehmens Wintergewitter“ taumelte die Wehrmacht von einem verlorenen Rückzugskampf in den nächsten. Natürlich versah auch die Sowjetarmee ihre Offensiven mit Decknamen. Eine der verheerendsten für die deutsche Wehrmacht war die „Operation Bagration“, während der ab dem 21. Juni 1944 die Stadt Minsk rückerobert wurde und dabei beinahe die gesamte, riesige Heeresgruppe Mitte vernichtet worden wäre. Innerhalb von nur drei Wochen fielen fast 30.000 deutsche Soldaten, über 260.000 gerieten in Gefangenschaft.
Wie ist es zu erklären, dass Hitler sich derart verkalkulierte?
Nicht nur Hitler tat das. Die gesamte deutsche Generalität hatte Land und Gegner zu Beginn völlig unterschätzt. Die Wehrmacht war überhaupt nicht auf einen Abnutzungskrieg, nicht mal auf einen Winter vorbereitet. Man hatte offenbar unterschätzt, dass das riesige russische Hinterland nicht kontrolliert oder besetzt werden konnte. Und man hatte die Kampfkraft der Sowjetarmee völlig falsch eingeschätzt. Letztlich konnte Stalin den Krieg gewinnen, weil er für nahezu unendlichen Nachschub an Kämpfern sorgte, die, ob gut ausgebildet oder gar nicht, sich der Wehrmacht entgegenstellten. So erklären sich auch die wahnsinnigen Todeszahlen des Krieges, vor allem auf sowjetischer Seite.
Der Russland-Feldzug hat in der Sowjetunion etwa 25 Millionen Menschen, darunter sechs Millionen Soldaten, das Leben gekostet. Von den deutschen Soldaten an der Ostfront kamen 3,8 Millionen zu Tode. In Ihrem zweiten großen Zeitzeugenband „Die verratene Generation“ sprechen Sie mit zivilen deutschen Opfern, die nach dem Zusammenbruch der Ostfront ab Mitte Januar 1945 flüchten mussten. Gibt es verlässliche Zahlen darüber, wie viele hierbei ums Leben gekommen sind?
Eine unvorstellbare Zahl. Wie konnte es dazu kommen? Gab es Anweisungen von Stalin für diese Verbrechen?
Eine direkte Anweisung oder gar ein Befehl dafür ist uns nicht bekannt. Sicherlich spielte aber die sowjetische Propaganda, die unter der Bezeichnung „Schule des Hasses“ auch zur Rache an deutschen Frauen aufrief, eine Rolle. Oft wird heute im Zusammenhang mit den Vertreibungsverbrechen – wie auch mit den alliierten Bombenangriffen auf Zivilisten – ja kolportiert, dass dies aus Rache geschah. Das ist historisch nicht korrekt. Es gibt Studien darüber, dass an Orten, wo Soldaten der Roten Armee am brutalsten vorgingen, diese zuvor nie eine Erfahrung mit Deutschen gemacht hatten. Diese Männer waren nicht als Soldaten ausgebildet worden, sie wurden als Reserven von Stalin dort rekrutiert, wo die Wehrmacht nie gewesen war, aus Gebieten jenseits des Urals, vor allem aus der Mongolei. Dieses unzivilisierte Verhalten schreckte selbst russische Offiziere ab. Zur Wahrheit gehört auch, dass viele gut ausgebildete russische Panzersoldaten, die als Erste deutsche Ortschaften erreichten, die deutsche Bevölkerung vor der ihr nachrückenden „Soldateska“ warnten. Die ebenso einfache wie grausame Erklärung für diese Taten ist vermutlich jene, dass diese Männer vergewaltigen, brandschatzen und morden durften. Die Führung der Sowjetarmee ließ dies zu Beginn nicht ahnden. Als sie es nach der Kapitulation wieder tat, hörten die Übergriffe bald auf.
Für den Herbst 2021 ist der dritte Band Ihrer „Generationenreihe“ angekündigt, „Die verlorene Generation: Gespräche mit den letzten Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs“ (der ab Ende September auch im TE Shop erhältlich sein wird – Anm. d. Red.). Verraten Sie uns schon ein wenig?
Für das Buch habe ich mit denen gesprochen, die als Hitlers allerletzte Reserve gedacht waren. Das waren 15-jährige Luftwaffenhelfer, minderjährige Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS sowie Volkssturmjungen und Kämpfer von Hitlerjugend-Verbänden. Nachdem alle 16-Jährigen eingezogen worden waren, bemächtigte sich die Naziführung in den letzten Kriegswochen freiwilliger Hitlerjungen, aus denen eigene Bataillone, Brigaden und Kompanien geformt wurden, die reinen Selbstmordkommandos glichen. 15- und selbst 14-Jährige wurden innerhalb weniger Stunden im Umgang mit Handgranaten und Panzerfäusten geschult und vor sowjetische Panzer gedrängt. Allein in den letzten sechs Wochen des Krieges starben vermutlich über 60.000 dieser jugendlichen Kämpfer. Teilweise wurden die Männer, mit denen ich gesprochen habe, schwer traumatisiert. Besonders beeindruckt hat mich ein Gespräch mit einem damals 16-jährigen Volkssturmjungen, dem kurz nach Kriegsende von der polnischen Polizei untergeschoben wurde, einer Terrororganisation angehört zu haben. Er wurde zum Tode verurteilt und verbrachte zehn Jahre in Gefängnissen, bevor er begnadigt wurde. Er wurde regelmäßig aufs Schlimmste misshandelt. Die Gefängnisse waren voll mit solchen unschuldigen Deutschen. Mir ist wichtig, dass auch diese Männer Gehör finden.
Christian Hardinghaus, Die verdammte Generation. Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Europa Verlag, 328 Seiten, 20,- €