Ed West, der Autor des Buches, das hier besprochen werden soll, ist einer der Herausgeber des Blogs Unherd, zuvor hatte er als Journalist für unterschiedliche konservative Medien gearbeitet, darunter den Catholic Herald und den Daily Telegraph. Sein Buch „Small Men on the Wrong Side of History: The Decline and Unlikely Return of Conservatism“ ist ein Abgesang auf den englischen respektive britischen Konservativismus.
Auf den ersten Blick mag ein solcher Nachruf erstaunen. Haben die Tories nicht eben noch einen großen Wahlsieg über Labour errungen? Haben nicht die linksliberalen urbanen Eliten und das kosmopolitisch-linke Lager insgesamt im Kampf um die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU eine krachende Niederlage hinnehmen müssen? All das überzeugt West jedoch nicht, vielmehr sieht er in seinem Land ähnliche Entwicklungen wie in anderen europäischen Ländern: nur noch ältere Wähler über 60 halten konservativen Positionen wirklich die Treue und anders als früher werden jüngere Männer und Frauen nicht mehr im Laufe ihres Lebens konservativer, indem sie etwa traditionelle Familienstrukturen verteidigen und stärker für „Law and Order“ eintreten. Diese Entwicklung, so West, gäbe es nicht mehr. Statt dessen sei es im akademisch gebildeten Milieu – ein Milieu, dem immer mehr Menschen angehörten – kaum noch möglich, konservative Positionen zu vertreten, ohne zum Außenseiter zu werden, unabhängig davon, ob es sich nun um Fragen wie die Immigrationspolitik, den Schutz nationaler Souveränität oder die Ansicht handele, dass Geschlechtsunterschiede bis zu einem gewissen Grade naturgegeben seien und nicht nur eine kulturelle Konstruktion.
Die Erosion konservativer Milieus in der Gesellschaft
Ähnlich wie in Deutschland sind in Großbritannien die Milieus, in denen konservative Lebenshaltungen verwurzelt waren, in den letzten 30 Jahren stark erodiert, nicht zuletzt durch den drastischen Rückgang kirchlicher Bindungen. West, der selber überzeugter Katholik ist, sieht diese Entwicklung mit besonderer Besorgnis. Sie mag in Deutschland einstweilen noch nicht ganz so ausgeprägt sein wie in England, aber auch hier stellen kirchlich gebundene Wähler unter den Jüngeren zunehmend eine Minderheit dar.
Folgt man West, dann verfolgte Cameron freilich als Premier eine ähnliche Linie wie Merkel, auch deshalb, weil es in der Tat nicht einfach ist, erfolgversprechende Alternativen zu einer solchen Politik zu finden. Noch mögen Parteien, die sich ein konservatives Profil bewahrt haben, ältere und weniger gebildete Wähler für sich mobilisieren und noch stärker gilt das oft für sogenannte „populistische“ Protestbewegungen von rechts, aber auf Dauer werden die Älteren verschwinden und die Jüngeren, die andere Werte vertreten, werden ihren Platz einnehmen, das zumindest glaubt West. Dazu kommt ein weiterer Punkt: Während früher die weibliche Wählerschaft konservativer orientiert war als die männliche, hat sich dies heute umgekehrt. Frauen der jüngeren Generation – und diese Feststellung dürfte für Deutschland genauso gelten wie für Großbritannien – wählen eher links. Das gilt besonders für unverheiratete Frauen; da die Tendenz, überhaupt noch eine Ehe einzugehen selbst im Fall einer Mutterschaft aber abgenommen hat (eine Entwicklung, die in England noch deutlich ausgeprägter ist als in Deutschland), nimmt diese Wählergruppe deutlich zu. West ist, obwohl selber ein Konservativer, überzeugt, dass die Zukunft von den gebildeten Eliten bestimmt wird, nicht von den „Abgehängten“ und dass auch Frauen für diese Zukunft eine besonders große Rolle spielen, denn schließlich sei auch das Christentum ursprünglich in den ersten Jahrhunderten seiner Entwicklung eher eine Religion der Frauen gewesen.
Die Politisierung der Zivilgesellschaft als Problem
Ob dieses Argument stichhaltig ist, darüber ließe sich streiten, ein anderer Punkt ist vielleicht wichtiger: Während es früher eine ganz Reihe gesellschaftlicher Institutionen sowohl im Bildungswesen als auch im Vereinswesen und auf dem Gebiet der Fürsorge für Ärmere und Benachteiligte gab, die politisch einigermaßen neutral waren, hat sich heute diese Landschaft sehr viel stärker politisiert. An den Universitäten dominieren zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften eindeutig linke oder linksliberale Positionen. Mag sein, dass sich diese Disziplinen, die sonst leicht in die Gefahr gerieten, als überflüssig zu gelten, durch politischen Aktivismus auch eine Legitimation verschaffen wollen, die ihnen heute die Bewahrung nationaler Erinnerungen und eines Kanons großer Werke der Hochkultur nicht mehr zu geben vermag. Durch die zunehmende Feminisierung dieser Disziplinen, die teils ein Resultat einer staatlich verordneten Quotenpolitik, teils aber auch das Ergebnis eines deutlichen Rückzuges männlicher Studierender aus diesen Fächern (besonders ausgeprägt in der Literaturwissenschaft) ist, verstärkt sich diese Tendenz offenbar noch. Wer von herrschenden linken Positionen an der Universität abweicht, ist viel mehr als sagen wir vor 40 Jahren ein Außenseiter, in Großbritannien wohl noch mehr als in Deutschland. Hat er noch keine leidlich unkündbare Stellung, ist das riskant, weil damit das berufliche Scheitern unausweichlich werden kann.
Die Aussichten sind somit recht düster. Vielleicht so West, werde eines Tages der letzte Konservative das Zeitliche segnen, und damit eine bestimmte politische Richtung ganz von der Bildfläche verschwinden, denn wenn man heute ein reflektierter „anständiger“ Mensch („a decent thoughtful person“, S. 277) und jünger als sagen wir 50 sei, dann sei man fast automatisch einigermaßen links, es sei denn, man besitze religiöse Bindungen, was aber nur noch bei einer kleinen Minderheit der Fall sei.
Sind konservative Politikentwürfe wirklich obsolet geworden?
Ist dieses deprimierende Bild, so zutreffend es auf den ersten Blick im Einzelnen auch sein mag, insgesamt überzeugend? West bringt selbst einige Einwände dagegen vor. Die stärkere Individualisierung der Gesellschaft und zugleich ihre Tribalisierung lasse eben auch neue Subkulturen entstehen und zum Teil auch solche, die sehr stark geschlechtsspezifisch seien. Daher gebe es jetzt auch eine eigene Subkultur alleinstehender junger Männer, die sich im herrschenden linken Diskurs, der in der Regel alle traditionellen Männlichkeitsideale ablehne, nicht wiederfänden. Solche Männer könnten dann die Basis für neue politische Protestbewegungen seien. Allerdings haben solche Bewegungen, man denke an den Kern der Trump-Wählerschaft oder an Parteien wie die Schwedendemokraten, eine starke Tendenz zur Selbstradikalisierung. Ein Bündnis bürgerlicher Konservativer mit solchen Bewegungen ist schwierig, zumal man sich dadurch leicht im Milieu der Gebildeten und sozial Etablierten endgültig diskreditiert.
Dennoch zeigt ja gerade das Beispiel der Tories in Großbritannien – wo man freilich auch mit 40 Prozent der Stimmen oder noch weniger eine haushohe Mehrheit im Unterhaus gewinnen kann –, dass mit dem Wegbrechen alter Wählergruppen konservativ orientierte Parteien durchaus auch neue Wähler gewinnen können. Allerdings nur, wenn sie bereit sind, sich neu zu orientieren. Nach 1945 profilierten sich bürgerlich-konservative Parteien in ganze Europa vor allem dadurch, dass sie auf Wirtschaftswachstum im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung setzten. Für Europa geht die Epoche ständigen Wirtschaftswachstums aber mit Sicherheit zu Ende, schon wegen der wachsenden Umweltprobleme, aber auch wegen der Überalterung der Bevölkerung in den meisten europäischen Staaten, die auch Massenimmigration nicht adäquat wird kompensieren können. Für die EU- und besonders die Euro-Länder, zu denen Deutschland im Gegensatz zu Großbritannien gehört, kommt hinzu, dass der Euro als artifizielle, dysfunktionale Währung mit seinen unkontrollierten Umverteilungseffekten zwischen den Staaten, aber auch von den weniger Wohlhabenden zu den Besitzern von Sachwerten mit einer marktwirtschaftlichen liberalen Wirtschaftsordnung schwer kompatibel ist. Er fördert eher eine Form der Planwirtschafts mit üppigen Subventionen, wie sie in gewisser Weise dem französischen Wirtschaftsmodell entspricht.
Wenn konservativ orientierte Parteien neue Wähler gewinnen wollen, müssen sie diese Herausforderung annehmen, ihre wirtschaftsliberale Agenda aufgeben oder zumindest in den Hintergrund treten lassen und akzeptieren, dass diejenigen Wähler, die überhaupt noch bereit sind, konservativ zu wählen, einen stabilen Sozialstaat erwarten, auch wenn der Preis dafür höhere Schulden und Steuern sind. Zusätzlich müssen konservative Parteien aber bereit sein, auf jene neuen Milieus zuzugehen, in denen der Widerstand gegen die Agenda von Wokeness, offenen Grenzen, Diversität und radikalisiertem Feminismus wächst. Das Kunststück wird dabei sein, nicht selber in einen Strudel der Selbstradikalisierung hineingezogen zu werden, in dem populistische Protestbewegungen oft untergehen.
Jedenfalls gibt es bürgerlich-konservative Parteien, denen eine gewisse Neuorientierung gelungen ist. Die ÖVP in Österreich wäre dafür ein gutes Beispiel, bis zu einem gewissen Grade und trotz aller Vorbehalte, die Ed West vorbringt, am Ende auch die britischen Tories. Dass Ähnliches der CDU gelingen könnte, ist allerdings eher unwahrscheinlich, schon deshalb, weil dafür das notwendige Personal vollständig fehlt. Wer von den führenden Leuten in der heutigen CDU hat irgendwelche intellektuellen Ambitionen oder ein Konzept für die Zukunft der Partei? Sicherlich niemand. Dazu kommt der Umstand, dass es den meisten Mitgliedern der CDU reichen wird, irgendwie an der Macht zu bleiben, d. h. den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen. Welche Politik man dann aus dieser Machtposition heraus macht, ist ihnen an sich gleichgültig. Und den Anspruch auf die Macht wird man durchsetzen können, solange man stärkste Partei bleibt und solange es keine klare Mehrheit für eine rein linke Koalition gibt. Letzteres könnte sich allerdings namentlich dann, wenn die EZB-Politik weiter zu einer starken Umverteilung von unten nach oben führt, auch rasch ändern, aber das werden nur die allerwenigsten in der CDU erkennen.
Für Deutschland gibt es somit wohl keine Hoffnung für die Erneuerung des Konservativismus. Ob Ed Wests pessimistische Diagnose für Großbritannien und andere europäische Länder wirklich das letzte Wort ist, das hingegen ist eine ganz andere Frage.
Ed West, Small Men on the Wrong Side of History: The Decline and Unlikely Return of Conservatism, London 2020, 426 S.