Einiges spricht dafür, dass der liberale Westen seine Fähigkeit zur Selbstoptimierung verloren hat. An vielen verschiedenen Stellschrauben haben nicht ideal oder nicht mehr zeitgemäß erscheinende Faktoren – Euro, Sozialstaat, Migrationspolitik, Parteiensystematik – zu einem System geführt, das aus Fehlern nicht mehr zu lernen imstande ist. Je mehr dieser Faktoren zu Tage treten, desto schneller wird das ganze System in einen Abwärtsstrudel gezogen.
Bevor man sich jedoch an eine Kritik des bestehenden Systems wagt, muss man zuvörderst das System in den Blick bekommen. Und das ist im liberalen Westen nicht einfach, denn die hohe Dichte an intellektuellen Mimikri-Spielen, die man unter dem Begriff Postmoderne zusammenfasst, hat dazu geführt, dass das System die Erkenntnis, dass es ein System ist, gar nicht erst zulässt. Es ist ähnlich wie mit dem Teufel: sein erstes Ziel ist es weiszumachen, dass es ihn gar nicht gibt.
Wurde der liberale Westen bis 2015 von Ländern wie den USA, Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien repräsentiert, so ist inzwischen die Repräsentanz auf Deutschland und Frankreich zusammengeschmolzen. Während in den USA und Italien Regierungen der Disruptivität an die Macht gewählt wurden, die sich durch eine deutlich autoritäre Sprache auszeichnen, hat Großbritannien in Form der Brexit-Volksabstimmung sein Unbehagen mit dem bestehenden System bekundet. Dass sich auch Frankreich in einem gehörigen Umbruch befindet, machen die momentanen Unruhen westlich des Rheins deutlich. Ob die Fünfte Republik den Aufstand der Gelbwesten überlebt, vermag mit Sicherheit niemand zu sagen.
Fünfzig Jahre nach 1968 schlägt also das Pendel in die entgegengesetzte Richtung zurück. Waren die Studentenunruhen noch der Revolutionslust einer elitär-universitären Bildungsklasse geschuldet, so gehen die heutigen Revolutionen von den sehr viel schlechter gebildeten Unter- und Mittelschichten aus. Der Reflex, den Unterschied zwischen damals und heute in einem emanzipatorischen (1968) und einem regressiven (2018) Gesellschaftsprojekt zu wittern, offenbart ein weiteres Mal die Unfähigkeit der intellektuellen Eliten ihre eigene reaktionäre Regressivität zu erkennen.
Dabei bewundern die meisten durchaus die auf der Party gereichten Speisen, immer deutlicher wird jedoch auch das Wissen der Zaungäste, dass sie selbst nie in den Genuss dieser Speisen kommen werden. Und wenn die herrschende Klasse dann die Benutzung von Diesel-Fahrzeugen – wegen Fahrverboten oder zu hoher Dieselpreise – verunmöglicht, ohne freilich auf den Hinweis zu verzichten, man könne doch auf E-Mobilität umsteigen, dann erinnert es in der Tat an den berühmten Satz vor Ausbruch der Französischen Revolution: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen.“
Auffällig ist vor allem, dass dieser zu tiefen Reformen nicht mehr fähige liberale Westen grundsätzlich auf ein Adjektiv zur Selbstbeschreibung zurückgreifen muss, dessen Außenseite gülden glänzt, dessen Innenseite jedoch den Atem der Verwesung verströmt. Es ist das Adjektiv „liberal“. Ohne jetzt historische Definitionen bemühen zu wollen, so hat sich der Begriff „liberal“ zu einem Synonym für tolerant, offen und tiefenentspannt gemausert. Vom Substantiv „Liberalismus“ hat sich „liberal“ vollständig abgekoppelt und hat sich damit maximal entpolitisiert.
Liberal ist so zu einer Geisteshaltung mutiert, die sich nicht mehr die Mühe machen muss, inhaltliche Auseinandersetzungen zu führen. Stattdessen erschöpft sich „liberal“ in der Stilfrage, wer am entspanntesten auf die momentanen Verwerfungen zu reagieren imstande ist. Wer jedoch noch auf Inhalte und Werte pocht und diese für unverhandelbar erklärt, gilt schon als reaktionär und zeigt einen politisch „schlechten Stil“.
Auch bei „liberal“ funktioniert das Mimikri-Spiel der Postmoderne aufs Vorzüglichste: man hat es erst gewonnen, wenn sich alles in allerschönster Beliebigkeit aufgelöst hat. Indem „liberale“ Werte wie Offenheit und Toleranz gepredigt werden, wird insinuiert, auch der liberale Westen hätte noch Werte. Nur: Offenheit ist kein Wert. Sie ist maximal eine Eigenschaft, öfter noch ein Defekt. Ähnlich verhält es sich mit der Toleranz. Man verzichtet schlicht darauf, zu konkretisieren, für was man offen ist und was genau man zu tolerieren bereit ist. Täte man es, müsste man jedoch Grenzen ziehen und die schmerzen dem eigenen „liberalen“ Selbstverständnis. Dieser kleine Verzicht aus Faulheit und aus Feigheit hat den „liberalen“ Westen dermaßen geschwächt, dass sich immer mehr Menschen von ihm als Konzept abwenden.
Es sind zwei weitere Abstimmungsergebnisse vom Hamburger CDU Parteitag, die noch deutlicher als die neue Parteichefin zeigen, mit welcher Verve diese scheinbar bürgerliche Volkspartei westliche Werte bereits im Orkus der Geschichte verklappt hat, um ja inhaltlich nirgends anecken zu müssen. Da ist zum einen der Antrag der Berliner Kreisverbände Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Mitte zu nennen, der den türkisch-nationalistischen Wolfsgruß und den islamistischen Rabia-Gruß der Muslimbrüderschaft in Deutschland unter Strafe stellen sollte. Dieser Antrag wurde auf dem CDU-Parteitag abgelehnt.
Ein anderer Antrag mit der Nummer C 156, der vom Kreisverband Frankfurt am Main gestellt wurde, fand ebenfalls keine Mehrheit. In ihm wurde gefordert, dass die Zahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde eingestellt werden sollten, solange die Palästinenser die Praxis beibehielten, an die Hinterbliebenen von Selbstmordattentätern – sogenannten „Märtyrern“ – lebenslange Renten zu zahlen. Im Klartext heißt das: die Mehrheit der CDU-Delegierten findet es völlig in Ordnung, wenn weiterhin mit deutschem Steuergeld der Terror gegen Israelis finanziert wird.
Der Übergang von einer Wertedemokratie, in der es unverhandelbare politische und ethische Grundsätze gibt, zu einer „liberalen“ Funktionsdemokratie, in der es wichtiger ist, niemandem weh zu tun und das Zusammenleben täglich neu auszuhandeln, ereignet sich rasant. Und in der Tat unterscheidet das die sogenannte multiethnische Einwanderungsgesellschaft vom bisherigen Modell des demokratischen Rechtsstaats: um ein reibungsloses Funktionieren zu gewährleisten, müssen Werte und Grundsätze aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Ihr exklusiver Charakter könnte neu Hinzugekommene verunsichern. Erst die Absenz von Werten ermöglicht es, dass sich wirklich jeder im Staatswesen und seinem Sozialsystem wohlfühlen kann.
Das System des liberalen Westens hat sich also von einem streitbaren Wertesystem in ein reibungsloses Funktionssystem verwandelt. In ihm gilt nur als gut und richtig, was das Funktionieren gewährleistet, während als hetzerisch und falsch gilt, was Sand ins Getriebe der Reibungslosigkeit streut. Wie Sand im Getriebe ausgemacht, festgestellt und eliminiert wird, zeigt ein anderes Beispiel, bei dem die CDU auch kräftig ihre Finger im Spiel hat.
Der Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, dürfte schon länger denjenigen, die das Projekt einer wertebefreiten Funktionsdemokratie vorantreiben, ein Dorn im Auge sein. Es war Hubertus Knabe, der die Stasi-Vergangenheit Anetta Kahanes in den Fokus rückte, als diese sich gerade anschickte, mit ihrer Amadeu-Antonio-Stiftung zur Lordsiegelbewahrerin der Demokratie in Deutschland aufzusteigen. Auch wurde Hubertus Knabe nie müde, auf die mörderische und menschenverachtende SED-Vergangenheit von DIE LINKE aufmerksam zu machen. Inzwischen hat sich in der Öffentlichkeit über Hubertus Knabe das vernichtende Narrativ durchgesetzt, er sei weniger Historiker als vielmehr politischer Aktivist und antikommunistischer Krieger. Und das gilt in einem Land, in dem inzwischen auch die bürgerlichen Parteien ihre Fühler nach den ehemaligen SED-Kommunisten ausstrecken, als Sakrileg.
Dass nun die Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die zudem Berliner Landesvorsitzende der CDU ist, mit dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer von DIE LINKE gemeinsame Sache macht, um Hubertus Knabe geräuschlos entsorgen zu können, mag man unter „erstes Bauernopfer einer möglichen Koalition zwischen Linken und Bürgerlichen in Berlin“ verbuchen. Viel weitreichender ist der Zerfall der politischen Moral, wie sie sich die CDU ganz offenbar auf die Fahnen geschrieben hat. Denn merke: in einem „liberalen“ System ist man so offen und tolerant, dass selbst (scheinbar) Bürgerliche mit Linksextremen gemeinsame Sache machen können müssen. Hier von einem Linksruck der CDU zu sprechen, würde an der Sache vorbeigehen, auch wenn die Koalitionsbereitschaft mit DIE LINKE den augenfälligsten Unterschied zur CDU unter Helmut Kohl darstellt. Es ist schlicht das Spiel der Beliebigkeiten, das Reibungslosigkeit garantiert.
Wirft man einen Blick auf jenes Nachbarland Deutschlands, das inzwischen als autoritär und illiberal gilt, dann kann ein Vergleich der beiden Regierungschefs zumindest eine Schablone dafür liefern, aus welchen unterschiedlichen menschlichen und historischen Qualitäten in beiden Ländern Politik gemacht wird. Angela Merkel schwamm im System der DDR mit und sie war bereits 1984 privilegiert genug, um als Wissenschaftlerin einen Aufenthalt in der BRD von den DDR-Sicherheitsbehörden genehmigt zu bekommen. In den Wendejahren schließlich hat Angela Merkels politische Karriere zu keinem Zeitpunkt den Anschein erweckt, sie sei durch unbeugsame politische Überzeugungen oder aufopfernde Taten zu ihren Positionen gelangt. Vielmehr war ihre Karriere seit ihrem Eintritt in die Politik 1989 beim Demokratischen Aufbruch geprägt von Anpassung, Mentorenschaft und Günstlingstum. Ihre menschliche und politische Art stromlinienförmig zu nennen, dürfte nicht allzu beleidigend sein.
Ein Vergleich mit dem amtierenden polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki kann verdeutlichen, dass Politik auch aus einer anderen Triebfeder gestaltet werden kann: Mateusz Morawiecki entstammt einer polnischen Dissidentenfamilie, sein Vater beteiligte sich unter Lebensgefahr am Druck und Vertrieb antikommunistischer Presseerzeugnisse im kommunistischen Polen. Bereits als Jugendlicher engagierte sich Mateusz Morawiecki ebenso im polnischen Untergrund und wurde als 15-Jähriger von der polnischen Stasi entführt und in einen Wald verschleppt. Dort zwang man ihn nicht nur, sein eigenes Grab auszuschaufeln, sondern man versuchte auch – mit einer geladenen Pistole an seiner Schläfe – aus ihm belastende Aussagen zu seinem Vater und dem Umfeld herauszupressen. Doch hat Morawiecki hier weder seinen Vater noch seine Freunde verraten; eher hätte er den Tod gewählt als den Verrat.
Die Chancen, dass es Deutschland als letztem stabilen Vertreter des „liberalen“ Westens gelingt, bei den sich zeigenden systemischen Fehlern gegenzusteuern, sind mit dem CDU-Parteitag nicht gestiegen. Und auch wenn die Bilder aus Frankreich wie als Warnung dienen könnten, dass ein System mit fortschreitender Zeit als unreformierbar abgeschrieben werden muss, so wäre es für einen postmerkelschen Optimismus leider noch zu früh.
Markus Vahlefeld
Dieser Beitrag ist ein vom Autor um aktuelle Beispiele angereicherter Auszug aus seinem neuen Buch Macht hoch die Tür. Das System Merkel und die Spaltung Deutschlands. Mit einem Grußwort von Henryk M. Broder, epubli, Oktober 2018, 236 Seiten, 16,- €.