Tichys Einblick
Wer schweigt, stimmt zu

Corona: Die groteske Inszenierung einer traurigen und tragischen Realität

Selten wurde über einen Diskurs so viel strukturelle Macht einer meritokratischen Elite ausgeübt wie in den letzten zwei Jahren. Der Corona-Diskurs war insofern gleichsam die elitäre Begleitmusik zur parallel unter der Oberfläche stattfindenden Refeudalisierung der Gesellschaft.

Über zwei Jahre haben sich die Leitmedien im Wesentlichen damit hervorgetan, das Krisengeschehen einseitig zu beleuchten, Panik medial zu befördern und mithin Angst zu schüren. In einem abenteuerlichen Durcheinander jagte über zwei Jahre eine Statistik – meist auch noch in absoluten Zahlen vorgetragen! – oder Kurve über Inzidenzen, Intensivbetten und Verstorbene die andere, geriet jede Verhältnismäßigkeit und Logik aus dem Blickfeld. Dazu übergroße Bilder von Viren mit stacheligen Armen in der Signalfarbe rosa, wie in einem gruseligen Animationsfilm, Bilder aus Bergamo mit nächtlichen Militärkonvois mit Särgen oder von Gabelstaplern in New York, die Leichen wegschaffen; oder von permanent »volllaufenden Intensivstationen«.

Die Macht der Bilder hypnotisierte und führte – absichtlich oder unabsichtlich? – zur Gleichsetzung von abstraktem Risiko und konkreter Gefahr. Anders formuliert, die Bilder suggerierten, jeder könne gleichermaßen von Corona betroffen sein und morgen der Notstand in der eigenen Straße ankommen – was nach allen vorliegenden Zahlen schlichtweg nicht stimmte. Bald kannte sich niemand mehr aus: Welche Zahlen, welche Maßnahmen, welche Verbote gerade aufgrund welcher wissenschaftlichen Studie wo galten, war zu einem undurchschaubaren, meist willkürlichen Dickicht geworden, und wer nachfragte, bekam meist zur Antwort, das muss halt jetzt so sein, wir müssen Leben retten. Die unbedingte Lebensrettung war der moralische Imperativ, dem kein Vernunftargument beikommen konnte.

So wurde systematisch aus einer abstrakten Gefahr ein konkretes Risiko für jeden gemacht. Tappten im Frühjahr 2020 zunächst alle im Dunklen und war Vorsicht geboten, so wurde seit Juni 2020, also nach der ersten Welle, langsam sichtbar, dass diese Generalisierung einfach nicht stimmte. Dies erhärtete sich spätestens, als die Jahresstatistiken für 2020 vorlagen. Seitdem weiß man eigentlich: Das Virus kommt in etwa gleichmäßigen Wellen, nicht in exponentiellen Schüben; es wütet vor allem in umgrenzten Räumen beziehungsweise Clustern, also Altenheimen oder Schlachthöfen, nicht etwa auf Spielplätzen oder bei Demonstrationen im Freien; und die Letalität des Virus liegt seit Pandemie-Beginn global unverändert bei etwa 0,15 Prozent.

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Corona ist damit etwa 1,5-mal bis 3,6-mal ansteckender und im Verlauf teilweise gefährlicher als die Grippe. Von Anfang an gab es vulnerable Gruppen, vor allem ältere Menschen ab 65, insbesondere diejenigen über 80, dazu multiple Vorerkrankte, speziell an Adipositas oder Diabetes mellitus erkrankte Personen. Statistisch besehen ist die Todesrate für Personen unter 60 Jahren, vor allem aber unter 45 Jahren nicht signifikant. Das wiederum hat sich von Delta zu Omikron nur unwesentlich geändert. Kinder sind am wenigsten gefährdet. 2020 starben mehr deutsche Kinder in Swimmingpools als an Corona, während die Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrien nicht mehr ein noch aus wussten. Die spanische Zeitung El Pais sprach zu Jahresende 2021 sogar von der »Pandemie der Suizide«.

Wie konnte es bei dieser Datenlage passieren, dass sich ein Diskurs über Maßnahmen quasi verselbstständigte, dass stets neue, immer härtere Maßnahmen gefordert wurden, über Weihnachten 2021 gerade wieder aufgrund von Omikron? Und wie konnte es passieren, dass man nach zwei Jahren Pandemie bei dieser Datenlage bei der Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht, einer Kinderimpfung ab fünf Jahren und einer menschenverachtenden Sprache für Nicht-Geimpfte gelandet ist, die mit der tatsächlichen Gefährdungssituation nicht korreliert? Seit Mitte, spätestens Ende 2020 hatten die Maßnahmen mit wissenschaftlicher Begründung nichts mehr zu tun, eher im Gegenteil.

Dem Gefälligkeits- oder Panikjournalismus, der das mitzuverantworten hat, standen diejenigen Journalistinnen und Journalisten gegenüber, die entweder gefeuert oder in die Besenkammer verbannt wurden. Eine befreundete Journalistin von Ö1 in Österreich muss seit einem Interview mit einem kritischen Virologen im April 2020 jeden ihrer Beiträge von der Chefredaktion »absegnen« lassen, was ihr in 30 Jahren Berufstätigkeit noch nie passiert ist. Nach einem kritischen Beitrag zu Corona von ARTE/NDR vom Oktober 2020, an dem ich mitgewirkt hatte, soll es in der Intendanz »geknallt« haben, der Beitrag wurde rasch aus der Mediathek entfernt.

Überhaupt wurde auch bei öffentlich-rechtlichen Anstalten munter nachzensiert, etwa wenn beim SWR ein Kinderarzt zu impfkritisch oder eine Comedian zu freimütig die Absurditäten und Widersprüche des pandemischen Geschehens auseinandernahm. Dabei ist Über-sich-selbst-lachen-Können immer noch das beste Mittel zur Selbstdistanz und Satire in Demokratien darum von unschätzbarem Wert. Sonst landet man schnell in einem gesellschaftlichen Puritanismus. Ein freier Mitarbeiter und Freund von mir beim österreichischen STANDARD wiederum wurde nach einem differenzierten Artikel zur Impfung mit vielen Referenzen, der zunächst gelöscht wurde, gekündigt.

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Dieses »Kärchern« unliebsamer Artikel fand in genau jenen Leitmedien statt, die sich sonst überbieten mit Berichterstattung über unfreie Medien etwa in der Türkei oder über die Entlassung von Deniz Yücel aus türkischer Haft. Wieso fällt der double blind niemandem auf? Auch wenn hier (noch) niemand verhaftet wird: das Land verlassen haben schon einige Journalistinnen und Journalisten, die ich persönlich kenne. Haben Zeitungen neuerdings Angst davor, Leserinnen und Leser könnten differenzierte Informationen selbst gewichten und mit gesundem Menschenverstand bewerten? Ein befreundeter Journalist beim ZDF erzählte, er bekomme seit Monaten keine aufgearbeiteten Daten in die Sendung, in denen die Zahlen des RKI oder des DIVI-Zentralregisters zur Bettenbelegung kritisch hinterfragt würden. Als Alice Weidel einmal im Deutschlandfunk interviewt wurde, ging es anschließend nicht etwa darum, was sie inhaltlich zu Corona gesagt hatte, sondern der hausinterne Skandal gerierte sich nur darüber, ob sie hart genug befragt wurde.

Kurz: Sprecher und Argument wurden über lange Strecken in Deutschland nicht mehr getrennt (…). Was nicht gewünscht wurde, wurde nicht mehr gedruckt. Auf einmal war auch die Kunst – siehe die Reaktionen auf die Video-Clips von #allesdichtmachen im April 2021 – nicht mehr frei, mit dem Argument, es sei schlechte Kunst gewesen. Wer entscheidet denn hierzulande darüber, ob Kunst gut oder schlecht ist?

The empire strikes back. Je unsicherer sich ein System fühlt, desto mehr muss es denen Daumenschrauben anlegen, die seine Deutungshoheit hinterfragen. Jeder, der während der Coronakrise den Finger gehoben und einen Raum für legitime Kritik eingefordert hat, hat es gemerkt: Es wehte ein anderer Wind und der war zumindest vorübergehend, bevor jetzt mit Jahresbeginn 2022 langsam diskursives Tauwetter einsetzt, kühl bis eisig. Im medialen Coronageschehen gab es die Helden (»Faktenchecker«) und die Anti-Helden (»Schwurbler«) und dazwischen nichts. Die Neutralisierung der Kritik aber ist phänotypisch für Diktaturen, nicht für Demokratien.

Die Universitäten dürfen bei dieser Betrachtung als weiteres gesellschaftliches Subsystem, das versagt hat, nicht ausgelassen werden. Auch sie haben als Stätten des kritischen Denkens, der Einordnung des Zeitgeschehens und der Moderation eines gesellschaftlichen Diskurses nicht funktioniert. Nicht, dass nicht zu Corona geforscht und geschrieben wurde. Weltweit sind inzwischen rund 200.000 Studien meist naturwissenschaftliche beziehungsweise klinische zu den Risiken des Virus erschienen. Die Literatur ist nachgerade unübersichtlich geworden, sodass heute fast alles und sein Gegenteil wissenschaftlich oder empirisch unterfüttert werden kann: die Gefahr für die vulnerablen Gruppen und Ältere, der Beleg für die Wirksamkeit von Lockdowns und ihre Unwirksamkeit, der Schutz oder die Gefahr durch die Impfung. Tausende von Studien haben wir uns wie Torten in Slapstick-Komödien um die Ohren gehauen. (…)

Die kritischen Bücher zu Corona aber stammen fast unisono von Personen, die nicht in einem universitären Subsystem verfangen waren, die also – sei es, dass sie ihr Geld anderweitig verdienen, in Rente sind oder keine Karriere mehr machen müssen – nicht systemabhängig sind. Und diese Bücher wiederum, von denen einige über Wochen SPIEGEL-Bestseller waren, wurden von den Universitäten nicht ernst genommen und in den Leitmedien einfach nicht rezensiert. Ignorance is worse than critics! (…) Worüber nicht geredet wird, das findet auch nicht statt!

Missbrauch von Wissenschaft
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Parallel dazu wurden ganze Wagenladungen von Professorinnen und Professoren, die mit der herrschenden Doxa nicht konform gingen (etwa der Mathematiker Stephan Luckhaus aus der Leopoldina oder der Philosoph Christoph Lütge aus dem bayerischen Ethikrat und viele andere mehr) von diversen offiziellen Beratungsfunktion in der »Corona-Expertokratie« entbunden, vulgo: geschasst! Die gesamte bürgerliche Mitte, die den Finger im Widerspruch hob, wurde abgeräumt, während sich eine Art »Räte-Republik« etablierte, etwa der Ministerpräsidentenrat, der zumindest kein Verfassungsorgan ist. (…)

Die Maske ist ein Zivilisationsgewinn, tönte es da pathetisch aus berufenem Soziologenmund im Frühjahr 2020. Temporär notwendig reichte offenbar nicht. Oder, auf dem Höhepunkt der Schelte gegen Nicht-Geimpfte im Herbst 2021, war aus dem Munde eines deutschen Soziologen zu hören, es sei schade, dass man Nicht-Geimpfte nicht nach Madagaskar verfrachten könne. Diese Einlassung wäre schon wegen ihrer schlichten Menschenverachtung zurückzuweisen gewesen, wollte man nicht noch geltend machen, dass dies nicht wirklich eine akademische Sprache ist.

Fraglich bleibt, ob der Autor des Satzes gewusst hat, dass auch die Nazis die Juden nach Madagaskar verfrachten wollten. Falls ja, könnte man ihm rechte Gesinnung unterstellen, denn sonst hätten es ja Grönland, Island oder die Malediven als Inselbeispiele auch getan. Oder es wurde die Mär vom »Präventionsparadox« erzählt (»weil wir Lockdown machen, kommen wir glimpflich durch die Pandemie«), und zwar auch noch, als die Wirksamkeit von Lockdowns ab Sommer 2020 schon widerlegt war. Wenn also geschwurbelt wurde, dann von offizieller Seite. (…)

Der institutionalisierte Wissenschaftsapparat verteidigte das RKI und Co., also nicht etwa die freie Wissenschaft, sondern die Wissenschaft im Singular, die das Pandemiegeschehen so sieht und nicht anders. Dass Wissenschaft immer nur ein Diskurs ist und es immer eine »herrschende« und eine Minderheitenmeinung gibt, wurde auch vorübergehend vergessen. Dass in ganz Europa die (teilweise verzweifelte) Ärzteschaft gegängelt und – nach der Schließung der Impfzentren – Impfdruck auf Praxen ausgeübt wurde; oder dass in Österreich impfkritische Mediziner der Universität Wien-Med verwiesen wurden, hat sich inzwischen herumgesprochen; in Frankreich ging das bis hin zu einem Décret vom Juli 2021, dass Ärzte und Ärztinnen, die nicht impfen wollen, die Zulassung entzogen werden kann. Adieu, hippokratischer Eid!

Dass die universitäre oder offizielle Expertokratie von Ethikrat & Co. die Empfindlichkeiten in der Bevölkerung nicht ansatzweise differenziert abgebildet hat? Schwamm drüber! Wenn die Expertinnen und Experten alias Universitätsprofessoren und -professorinnen das sagen, dann muss es schon stimmen. Selten wurde diskurstechnisch eine meritokratische und formal gebildete Elite (Personen, die meist nicht unter den Maßnahmen gelitten und zum Beispiel ihre Existenz verloren haben) so sehr gegen das sogenannte einfache Volk gestellt (das geprellt, um nicht zu sagen: nachgerade geschädigt wurde!). Und das sich weder wehren noch artikulieren konnte, fast notwendigerweise in alternative Medien flüchtete, in die Gleichgültigkeit abtauchte – oder sich (leider!) radikalisierte.

Jeder, der während der Coronakrise mit einem Handwerker, Taxifahrer, Winzer oder Bäcker gesprochen hat, weiß das. Da ist es dann bequem, diejenigen Volksstimmen, die auf der Straße waren, als wahlweise rechts oder radikalisierten Rand abzutun. Selten wurde über einen Diskurs so viel strukturelle Macht – um nicht zu sagen: Gewalt! – einer meritokratischen Elite ausgeübt wie in den letzten zwei Jahren. Der Corona-Diskurs war insofern gleichsam die elitäre Begleitmusik zur parallel unter der Oberfläche stattfindenden Refeudalisierung der Gesellschaft, der fast obszönen Bereicherung der oberen Klasse und der Krisenprofiteure: Wer erinnert sich noch an die Geldschiebereien im Zuge des Maskenskandals im Frühjahr 2021? Allein Deutschland verzeichnet heute 70.000 Millionäre mehr als vor Corona. Kurz: Es gab beziehungsweise gibt einen nie dagewesenen Extremismus der bürgerlichen Mitte!

Eine luzide Analyse unserer Zeit
Verteidiger der Kultur gegen Obskurantismus und Aktivismus
Linientreue beweist sich in der Kurve, heißt ein altmarxistischer Spruch, dessen christliche Version der Petrus-Verrat ist, bevor der Hahn dreimal kräht. Wenn ein ganzes System abbiegt, biegen eben alle mit ab. Ohnmacht oder Gleichgültigkeit, Konformitätsdruck oder mangelnder Mut: aus unzähligen sozialwissenschaftlichen, psychologischen oder neurologischen Forschungen weiß man, dass die Wenigsten sich gegen eine Mehrheitsmeinung stellen. Lieber hält man den Mund und sagt, was die anderen denken – oder hören wollen! Zunächst, weil man nicht der Dumme sein will; später, weil es meistens gefährlich wird.

Die Geschichtswissenschaft hingegen kennt viele Momente historischer Weggabelungen, um darzulegen, dass – im Nachhinein betrachtet – die Mehrheit selten recht hat. Eigentlich ist die gesamte Menschheitsgeschichte, objektiv betrachtet, nicht viel mehr als eine Erzählung darüber, dass sich die Mehrheit ständig verläuft und es dann bereut. Eine Wahrheit braucht keine Mehrheit und eine Mehrheit allein ist kein Argument.

»Die Intellektuellen verraten ihr Amt im Namen der Ordnung«, schrieb 1927 wütend der Franzose Julien Benda, als sich damals abzeichnete, wie vermeintlichen Geistesgrößen dem autoritär-faschistoiden Sog von Moral und Pflicht nicht standhalten konnten, ja, ihm nachgerade verfielen, anstatt dagegen anzuschreiben. Alle die – und das waren viele –, die in den vergangenen Monaten im Namen der Wahrheit dem Volkssport der »Diskurs-Säuberung« verfallen sind, seien kurz daran erinnert, dass selbst die Lüge in einer Demokratie erlaubt und die systemische Antwort der Demokratie die Entlarvung der Lüge, nicht das Löschen von YouTube-Clips oder die Beschlagnahmung von Computern ist. Würde man im politischen Betrieb bei allen Lügen so verfahren, dann müsste man wahrscheinlich im halben Bundestag oder den hiesigen Parteizentralen einen Großteil der Computer beschlagnahmen: Was ist in den letzten Monaten – CumEx-Skandal, Wirecard oder Maut-Affäre – nicht gelogen worden, dass sich die Balken biegen?

Leicht gekürzter und um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Ulrike Guérot, Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen. Westend Verlag, Hardcover mit Überzug, 144 Seiten, 16,00 €.


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