So viel Romane ich von Kind auf verschlang, so sehr nahm das im Verlauf der Zeit ab. Cora Stephan holt mich in die Welt des Romans zurück. Abgesehen von den ersten Jahren ihres Zeitbildes, in denen ich noch „mit den Mücken mitflug“, wie meine Großmutter das nannte, ist es auch meine Zeit. 1936 bis 1945 kenne ich natürlich aus den Erzählungen Älterer, auch wenn ich mich an ein wenig Eigenes erinnere.
Dass die Autorin die Geschehnisse in Stendal in so dichter Wirklichkeit schildern kann, verdankt sie ihrer Tante, die dort tatsächlich lebte, das Fluidum einer ihrer zwei Schlüsselfiguren, Helene als Fotografin, der Frau mit dem Auge, der Realität der Tante als großer Fotografin. Dass Cora Stephans Eltern und andere in jungen Jahren jahrelang nur kommunizieren konnten, indem sie Briefe schrieben, verschuf ihr einen Schatz an Einblicken.
„An einem Sonntagnachmittag im Winter 1936 beschloss Margarete Hegewald, kein Kind mehr zu sein.“ Fabelhafter erster Satz. Wie die Schülerin sich auf den Weg der Erwachsenen macht und gegen den für damalige Zeiten normal autoritären Vater und die ihm gegenüber viel zu duldsame Mutter anfängt durchzusetzen – versetzt mich in meine eigene Kindheit.
„Im Dritten Reich“
Mein Freund Carlo, der Auktionator, hatte in den 1970ern einen Hausstand nach dem Tod der letzten Inhaberin aufzulösen. Diese war im obersten Stockwerk wohnen geblieben, nachdem sich ihr Bruder samt Familie bei Kriegsende das Leben nahmen. Deren Wohnung auf der ersten Etage war so, wie sie bis 1945 gewesen war, nur Mottenkugeln hatte die Erbin immer wieder nachgefüttert. Hinter der Tür hing noch immer die SA-Uniform, standen die dazugehörigen Stiefel. Das ganze hätte Cora Stephan als Bebilderung nehmen können.
Wie Margo aus Margarete wird, erfahren wir im Tagebuchstil, einer eindringlichen Form der Erzählung.
30. Dezember 1936
Liebes Tagebuch,
das neue Jahr muss, es wird herrlich werden! Ich bin meinen Lebenszielen ein großes Stück näher gerückt.
Am 1. April beginnt meine Lehrzeit bei Photo-Werner, Photo-Handlung und -Atelier, in der Adolf-Hitler-Straße 77. Monatslohn: 13 Reichsmark und 20 Pfennige. Vater wird fast alles davon einkassieren. Aber er hat zugestimmt. In drei Monaten bin ich frei! Ich kann es gar nicht erwarten.
Ich habe mir geschworen, mich von nichts und niemandem abhängig zu machen. Mutti zeigt mir, wohin das führt, wenn man einem Manne untertan ist: in die Sklaverei. Welcher Mann kann schon eine Frau respektieren, die nicht auf eigenen Beinen steht? Jedenfalls keiner, den ich respektieren kann.
Und dann:
Waltraud fiebert mit mir. Die anderen verstehen mich nicht, diese braven Mädchen mit ihren Zöpfchen. Ihre höhere Bildung wird ihnen nichts nützen. Im neuen Deutschland brauchen wir keine Putzfrau, die fließend Französisch spricht, und keine Haushälterin, die den »Faust« auswendig kann. Das ist nicht das, was der Führer will. Die deutsche Frau soll die Gefährtin des Mannes sein, seine Kampfgenossin!
Eine wichtige Ebene, die niemand im Geschichte-Unterricht kennen lernt oder sonstwo. Hitlers Bewegung versprach Modernisierung, Abnabelung von den konservativen Eltern und ihren alten Bräuchen – für die Mehrheit der jungen Leute ein unwiderstehliches Angebot.
Der Umgang mit Waltraud Seligers Elternhaus, Großbürgern ganz im Gegensatz zu Margaretes Spießbürger-Familie, befreit den Teenager aus seiner Umgebung und legt die Grundlage für die spätere Karrierefrau. Nicht wenigen Romangestalten kann ich welche aus meinem eigenen Erleben an die Seite stellen.
Dort trifft Margarete Alard von Sedlitz, den Mann, der sie ein Leben lang fasziniert, Freund von Henri Seliger, den sie heiraten wird. Sie darf den Paradiesvogel Ali nennen, er tauft sie Margo, so muss Henri sie nun auch ansprechen. Margarete notiert: „Und ab heute heiße ich Margo.“ Es ist Ende Mai 1939.
640 Seiten Spannung
Nun, das Buch müssen Sie selbst lesen. Es hat stolze 640 Seiten, aber ich kann es immer noch, heute bequemer als einst nachts unter der Bettdecke mit der Taschenlampe. Ich lese es in einem durch. Muss niemand, denn Cora Stephan hat ihren Roman gut gegliedert. Nach dem 1. Buch, „Im Dritten Reich“ bis 1945 folgt das zweite von 1945 bis 1989: „Deutschland West, Deutschland Ost“, ihm das dritte von 1989 bis 2000; „Nach dem Mauerfall“. Ich bin auf eine Fortsetzung gespannt, Cora Stephan könnte ihr den Titel geben: „Ein anderes Jahrhundert“.
Alard, der schlesische Adlige im deutschen diplomatischen Dienst, und sein schottischer Freund Liam gehören zum Widerstands-Zirkel, der Briten und Deutsche zusammen gegen Hitler mobilisieren will – bis hin zu jenem ominösen Flug des Hitler-Stellvertreters Hess auf die Insel. Beide begegnen Helene als junger Fotografin im spanischen Bürgerkrieg. Alard rettet Helene, darf sie aber nicht lieben, weil sie mit Liam verbunden scheint.
Wieder zurück in Deutschland bringt Alard Helene in jenem Fotoladen in Stendal unter, in dem Margo arbeitet. Berlin ist für sie politisch zu gefährlich geworden.
Helene kommt aus Berlin-Mitte, einem zugigen und feuchten Laden am Spreekanal: „Adam Pinkus – Uhren und Juwelen“. Bei ihrem Besuch 1941 spielt diese Szene, in der Vater Pinkus die Zeit in ihrer Schäbigkeit in Worten fotografiert:
„Pass auf, Helene, und jetzt das Allertollste. Alle Juden müssen ihre Gold- und Schmucksachen abliefern. Und was passiert? ‚Bei Ihnen ist bestimmt alles sicher‘, hat die alte Frau Aufrecht gesagt, und mir ihre ganze Schatulle dagelassen.“ Seine Stimme versagte. „Sie hat mich für einen Bewahrier gehalten.“
„Für einen was?“
„Da staunst du, nicht wahr? So nennt man neuerdings die Arier, denen Juden ihr Hab und Gut anvertrauen, bevor es ihnen geraubt werden kann. Und ich, ausgerechnet ich muss mir das anhören!“
Margo steigt die berufliche Karrierleiter beständig hoch, im „Dritten Reich“ und danach. Ihre Männergeschichten werden umso zweitrangiger, je enttäuschender sie sind. Helene kommt durch die Nazizeit, weil sie als Politische, nicht Jüdischstämmige ins KZ kommt und dort wie alle (!) anderen Insassen des KZ-Bordells überlebt. Der Inhaber des Fotoladens hat ihr mit seinen Nazi-Verbindungen das schlimmere Schicksal erspart.
„Deutschland West, Deutschland Ost“
Margo trifft in Schlesien auf Alard, bekommt ein Kind von ihm, welches sie in den Wirren des Kriegsendes an Helene verliert, die sie tot wähnt, und noch nicht weiß, dass Margos Aussage bei der Gestapo sie ins KZ brachte. Während Margo auf Umwegen nach Westdeutschland gelangt und weiter Karriere macht, landet Helene bei der Staatssicherheit der DDR und wird „Kundschafterin des Friedens“. Später kreuzen sich ihre Wege, als Helene Margo nötigt, ihrem Dienst Dienste zu leisten.
Helenes Erlebnisse in der DDR, nicht zuletzt um deren Ende herum, hat Cora Stephan mit Detailkenntnissen aus umfangreichen Recherchen gespickt, die einen Polit-Krimi für sich abgeben. Das werden ihre Leser im Osten mit ganz anderen Augen lesen als die im Westen.
„Nach dem Mauerfall“
Am Ende des Romans schenkt Cora Stephan Alard und Helene ein sehr spätes Happyend. Bei Margo kommt auf verschlungenen Wegen die Tochter ihrer Tochter unter, der ihre Mutter, ebenfalls DDR-Agentin die Belohnung für das Auffinden der SED-Millionen in der Schweiz vererbt.
Womit ich die Irrungen und Wirrungen von 640 Seiten Roman nur angetippt habe: jede Seite spannend und viele berührend. Cora Stephan hat die Geschichte und Geschicke ihres Landes brilliant ineinander verwoben. Durch die Augen lebendiger Figuren, die reale Zeitgenossen spiegeln, nehmen demnächst 100 Jahre Leben in Deutschland Farbe und Gestalt an – schnell zugänglich für jene, die größere Teile selbst dabei waren. Den Jüngeren wird das mit etwas Phantasie auch möglich sein.
Als Lehrer für Geschichte oder Politik würde ich Cora Stephans Buch mit meiner Klasse lesen – als Aufheller des sonst trockenen Stoffs, als Augenöffner fürs wirkliche Leben. Als Regisseur würde ich den Dreiteiler verfilmen. Selber lese ich das Werk noch mehrmals – dann nicht mehr in einem durch.
Cora Stephan: Ab heute heiße ich Margo. Kiepenheuer&Witsch, 640 Seiten.