Der exzentrische Bataillonskommandeur Winston Churchill rückt mit Badewanne und Heißwasserboiler an die flandrische Front. Wenige Kilometer weiter im Süden versieht der Gefreite Adolf Hitler seinen Dienst und wird bald darauf beschließen, Politiker zu werden. Der fünfzehn Jahre ältere Churchill hat, wie es gerade aussieht, seine politische Karriere bereits hinter sich.
Nicht ganz zwei Jahrzehnte später ist der Comeback-Virtuose in München und würde gern mit dem „Führer“ (noch nicht Reichskanzler) Kaffee trinken. Der mag aber nicht, ist müde, unrasiert, kann kein Englisch und weiß nicht, worüber er mit Churchill reden sollte. „So kam es, dass Hitler die einzige Gelegenheit verpasste, mich kennenzulernen“. Dem Deutschen, dem er letztlich seinen ganzen Ruhm verdankt, ist er nie begegnet. Geändert hätte es nichts.
Man lasse sich nicht täuschen vom flamboyanten Lebensstil des verwöhnten Aristokraten: Seine „Gier nach Selbstentfaltung war unersättlich“, seine „lodernde Energie“, sein „entfesselter Tatendrang“ ließen ihn „Risiken und Strapazen aller Art“ auf sich nehmen. Lebensmotto des „romantischen Draufgängers“ ist es, niemals nachzugeben. Sind das nicht Charakterzüge, die auch den österreichischen Möchtegernkünstler aus kleinem Haus antreiben?
Der deutsche Diktator nötigt Churchill sogar Bewunderung ab, „weil er als fanatischer Patriot auftritt.“ Ein Nationalist nämlich ist auch Churchill. Aber wieder macht der Unterschied die Musik. Churchill fehlen „der Hass auf alle politischen Konkurrenten, die Verachtung und Missachtung der demokratischen Institutionen und der Impuls, sich an die Spitze einer populistischen Bewegung zu stellen.“ Ganz im Gegenteil: „Als es darauf ankam, der deutschen Diktatur die Stirn zu bieten, zeigte er sich in seiner Haltung über jeden Zweifel erhaben. Darin kann er heute noch ein Vorbild sein, allerdings keines, das leicht zu imitieren wäre.“ Wie auch! Churchill war in jeder Hinsicht ein Solitär, niemals ein Funktionär, niemals Ideologe, schon gar nicht Kopf einer Bewegung. Er war es, der letztlich Hitler entscheidend in den Arm fiel.
Dietmar Pieper gelingt ein farbiges Lebens- und Charakterbild Churchills, das sich nicht ausschließlich, aber doch im Wesentlichen auf sein Verhältnis zu Deutschland konzentriert, gestützt auf zuvor nicht benutzte Archivquellen. Das alles ist auf gut 300 Seiten verdichtet und auf dem neuesten Stand der Forschung durchaus auch ein Lesevergnügen.
England – dessen Königshaus von deutscher Herkunft erst während des Ersten Weltkriegs den Namen Windsor annimmt – und Deutschland sind zunächst nur Konkurrenten. Die Flottenpolitik Kaiser Wilhelms macht sie zu Rivalen. Churchill sieht den Unterschied so: „Für uns ist die britische Flotte eine Notwendigkeit, für die Deutschen ist ihre Flotte in gewisser Hinsicht eher ein Luxus. (…) Für uns geht es um die Existenz; für sie geht es um Expansion.“
Der damalige Marineminister Churchill will Frieden mit Deutschland und Österreich – doch niemals Frieden mit „dem preußischen Militarismus, dieser „abscheulichen Tyrannei“. Es ist sein zentrales Motiv schon vor Hitler. Nach dessen Niederlage schlägt Churchill vor, Bayern, Österreich, Württemberg und Baden zu vereinen und Wien zur Hauptstadt zu machen. Dem neuen deutschen Südstaat winkt eine milde, Preußen hingegen eine „harte Behandlung“. (Persönliche Anmerkung des Rezensenten: Schade, dass daraus nichts geworden ist.)
Schon im Ersten Weltkrieg plädiert er: Deutschland muss vernichtend geschlagen werden. Doch, so Pieper, „im Moment des militärischen Triumphs wechselt Churchill seine Position. War er eben noch hart gegen die Feinde, zeigt er nun Milde gegenüber den Besiegten.“ Den Versailler Vertrag, der Deutschland demütigt, findet er “bösartig und dumm“. Sein Gefühl sagt ihm, dass sich die Deutschen revanchieren wollen. Churchill dringt mit seinen Warnungen vor der deutschen Gefahr nicht durch. Nie zuvor in der Geschichte wäre ein Krieg „durch rechtzeitiges Handeln leichter zu verhindern“, gewesen, meint er später. Das offizielle London ist gegenüber Berlin jedoch ganz auf Appeasement eingestellt. „Aber niemand wollte zuhören, und nach und nach wurden wir alle in den schrecklichen Strudel hineingezogen.“ Erst als das Appeasement seines Vorgängers Chamberlain gescheitert ist, wird Churchill Premierminister.
Pieper ist nicht bloß Historiker, sondern vor allem Journalist (Der Spiegel). Er lässt, die inneren Beweggründe Churchills sprechen, ordnet die Fakten ein und verliert das große Ganze nie aus den Augen. Deshalb zieht er auch eine deutliche Parallele zur Gegenwart, von Hitler zu Putin. „Gutwillige Regierungschefs versuchen, den Aggressor zu beschwichtigen (…) die beste Chance, Putin in die Schranken zu weisen, ist vermutlich schon bei der Besetzung der Ostukraine und der Annexion der Krim vertan worden, so wie die Rheinland-Besetzung 1936 der ideale Moment gewesen wäre, Hitler zu stoppen. (…) Putins Skrupellosigkeit hat Hitlersche Ausmaße und dürfte zunächst auf ähnlich unerträgliche Weise belohnt werden wie die Eroberungszüge der Deutschen, die in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs so furchtbar erfolgreich waren.“
„Allein gegen Hitler“ überschreibt Pieper das zentrale Kapitel und trifft damit den wesentlichen Punkt. „Im Nachhinein lässt sich erkennen, dass mit Churchills Amtsantritt Hitlers Ende beginnt. Durch seine Kompromisslosigkeit zwingt der neue Premier den Diktator dazu, immer weitere Kriegsschauplätze zu eröffnen.“ Doch ohne Hilfe der USA kann Churchill nichts gewinnen. „Er weiß das von der ersten Minute an und umwirbt darum den US-Präsidenten.“ Churchill, ist (auch im Privatleben) ein Spieler. „Als sein Lebensweg den ersehnten Höhepunkt erreicht, setzt er mit großer Geste auf Freiheit und Sieg, wohl wissend, dass die existenzielle Frage des Erfolgs oder Misserfolgs von Faktoren abhängt, auf die er keinen Einfluss hat, nicht anders als bei einer Wette oder im Casino.“
Der Terror der Luftschläge ist der Schatten auf Churchills Ruhm. Pieper lässt keinen Zweifel daran, dass die systematischen Zerstörungen deutscher Städte Kriegsverbrechen sind. Eine halbe Million Menschen werden in Deutschland Opfer des Luftkriegs, aber auch fast sechzigtausend Briten. Beinah genauso hoch ist noch die Zahl der Besatzungen, die von ihren Feindflügen nicht zurückkehren, nahezu die Hälfte dieser Truppe. Entscheidend aber ist: Für Churchill war „der schrankenlose Luftkrieg ein notwendiges und im Grunde widerwillig angewandtes Mittel, die Nazis in die Knie zu zwingen, aber kein Selbstzweck. Darin liegt der wichtigste Unterschied zum antisemitischen und rassistischen Vernichtungsfuror der Deutschen unter Hitler“.
Deutschland soll bedingungslos kapitulieren. Verhandlungen sind damit ausgeschlossen. Churchill will die totale Unterwerfung Deutschlands, darum ignoriert er den deutschen Widerstand. Churchill hält Freiheit, nicht Frieden für das höchste Ziel. Aber was versteht er unter Freiheit? Es geht ihm gewiss auch um nationale Selbstbestimmung, aber mehr noch um „die persönliche Entfaltung nach eigenen Wünschen, den Schutz vor ideologisch motivierter Verfolgung“. Er war ein unerschütterlicher Monarchist, ein Mann des Empire, der Klassengesellschaft, ein Konservativer – aber eben doch zugleich ein Erzliberaler, also ein großer Individualist. „Das ist eine Weltanschauung, die seinem Charakter entspringt, vielleicht schon der frühen Erfahrung des eigensinnigen Schuljungen, der sich dem Regime des Rohrstocks widersetzt hat.“ Die Verknüpfung von Weltpolitik und Wesen Churchills zählt zu den Stärken des Buchs.
Nach Deutschlands Untergang ist „Churchills Feindschaft gegenüber den Deutschen wie weggeblasen.“ Er rühmt Adenauer als den „vermutlich weisesten deutschen Staatsmann seit Bismarck.“ Beide sind überzeugte Europäer, doch „ihre Vorstellungen von Europa unterscheiden sich in einem Punkt fundamental“. Zwar intoniert Churchill die Vision der Vereinigten Staaten von Europa, doch gehört das Empire für ihn nicht dazu, weshalb sich Jahrzehnte später selbst die Brexit-Kampagne auf ihn zu berufen versucht. Außerdem, so Pieper, sind „für den Briten die politischen Umrisse des Kontinents praktisch deckungsgleich mit seiner Geografie, sodass Russland dazugehören sollte. Der Deutsche dagegen glaubt schon Asien zu sehen, wenn er nach Moskau blickt.“
1951 zog Churchill zum zweiten Mal in 10 Downing Street ein, sechsundsiebzig, zwei Jahre älter als sein deutsches Pendant. Eine Freundschaft, ohne die Deutschlands Aufstieg aus Ruinen nicht so rasch und reibungslos möglich gewesen wäre.
Dietmar Pieper, Churchill und die Deutschen. Eine besondere Beziehung. Piper Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten, mit zahlreichen schwarz-weiß Fotos, 24,00 €.