Der Zweite Weltkrieg ist in deutscher Geschichtspolitik, Geschichtsforschung und im Geschichtsunterricht weitestgehend ein blinder Fleck. Vor allem die 18 Millionen Soldaten der Wehrmacht und die (geschätzt) fünf bis sechs Millionen deutschen Gefallenen kommen darin kaum vor. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, dann als Vernichtungskrieg Hitlers, dem 18 Millionen Wehrmachtssoldaten angeblich verbrecherisch und überzeugt dienten. In der Epoche der 68er wurde es ohnehin üblich, Nationalsozialismus und Wehrmacht gleichzusetzen. Das von dem jungen und mutigen Historiker Christian Hardinghaus (Jahrgang 1978) in diesem Frühjahr veröffentlichte Buch „Die verdammte Generation – Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkrieges“ bietet hier endlich so manch überfällige Korrektur und Aufklärung.
„Soldaten sind Mörder“ und Wehrmachtsausstellung
Die Folgen dieses blinden Flecks sind bekannt, zwei nur seien genannt. Erstes Beispiel: Tucholsky hatte am 4. August 1931 in der „Weltbühne“ in einer Glosse geschrieben „Soldaten sind Mörder.“ Jahrzehnte später, bei einer Podiumsdiskussion am 31. August 1984, äußerte ein ehemaliger Sanitätsoffiziersanwärter und Arzt der Organisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) gegenüber einem Jugendoffizier: „Jeder Soldat ist ein potenzieller Mörder – auch Sie, Herr W. In der Bundeswehr gibt es einen Drill zum Morden.“ Der Tucholsky-Spruch macht seitdem die Runde: skandiert oder als Aufkleber. Es kam zu Beginn der 1990er Jahre zu Prozessen und „Soldatenurteilen“.
Zweites Beispiel: die zu Recht umstrittenen beiden Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Die erste wurde von 1995 bis 1999 unter dem Titel „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ gezeigt, nach Kritik an der ersten fand die zweite von 2001 bis 2004 unter dem Titel „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 bis 1944“ statt.
Macher der ersten Ausstellung war der umstrittene Publizist Hannes Heer. Er gehörte zu den Wiederbegründern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Wegen seiner Tätigkeit im SDS wurde er 1968 nicht als Referendar zum Schuldienst zugelassen. Rund 800.000 Besucher in 33 Städten in Deutschland und Österreich haben die Ausstellung gesehen, die vorübergehend ausgesetzt wurde, weil von zwei nicht-deutschen Historikern (dem Ungarn Kristián Ungváry und dem Polen Bogdan Musial) Verfälschungen nachgewiesen werden konnten und weil suggeriert wurde, es seien 80 Prozent aller Wehrmachtssoldaten an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen. Am Ende blieb eine Verunglimpfung ehemaliger deutscher Soldaten im Gedächtnis der Öffentlichkeit. Der nicht gerade als rechtskonservativ geltende Fernsehjournalist Rüdiger Proske hat die Ausstellungen gar als „raffinierteste Darstellung historischer Irreführung in unserem Lande seit dem Dritten Reich“ bezeichnet.
Vergessene Ehrenerklärungen
Schon viel früher hatte Konrad Adenauer eine Ehrenerklärung für die Wehrmacht abgegeben. Vergessen scheint leider die große Rede des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss. Am 12. März 1959 sprach er an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg vor 800 Leutnanten und Fähnrichen von einem „Unfug der alliierten Sieger, den deutschen Berufssoldaten als solchen zu einer Art von nichtswürdigem Verbrecher zu erklären…“
Von all dem unbeeindruckt scheute sich die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nicht, im Mai 2017 in einer Art exorzistischem Furor mit Blick auf angebliche „Haltungsprobleme“ innerhalb der Bundeswehr den bolschewistischen Kampfbegriff „Säuberung“ zu bemühen. Alte Helme, historische Waffen, Modelle der Wehrmacht mussten aus Vitrinen und Traditionsecken verschwinden. Der Bildersturm machte nicht einmal Halt vor einem Porträt von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, das ihn als jungen Leutnant der Wehrmacht zeigt. Pikanterweise hing das Bild in der nach ihm benannten Bundeswehr-Universität in Hamburg. Ergebnis der „Säuberungen“: Ganze 41 „Andenken“ an die Wehrmacht wurden gefunden. Den Geist einer Ursula von der Leyen atmet auch der „Traditionserlass“ der Bundeswehr aus dem Jahr 2018; mit ihm wird dekretiert, dass weder die Wehrmacht (1935 –1945) noch die Reichswehr (1921–1935) als traditionswürdig gelten.
Das dreifache Verdienst des jungen Historikers Christian Hardinghaus
Das Verdienst des jungen Historikers Christian Hardinghaus und seines Buches ist ein dreifaches: Erstens stellt er klar und belegt dies, dass die Wehrmacht nach ihrem Selbstverständnis kaum politisch war bzw. dass sich die Soldaten dem Land und nicht dem NS-Verbrechersystem verpflichtet fühlten. Wehrmachtssoldaten war es während ihrer Dienstzeit auch nicht umsonst verboten, Mitglied der NSDAP zu sein. Von daher übrigens immer wieder kritische Äußerungen Hitlers über die Wehrmacht und ihre Generale!
Das zweite große Verdienst von Christian Hardinghaus ist, dass er dreizehn vormalige Wehrmachtssoldaten zu Wort kommen lässt. „Oral History“, Geschichte durch authentische Erzählung, nennt man ein solches Verfahren. Es ist dem Autor hervorragend gelungen, die Erlebnisse, Erfahrungen, Traumata dieser dreizehn damals jungen Männer wiederzugeben. Es sind vormalige Soldaten und jugendliche Flakhelfer der Geburtsjahrgänge 1916 bis 1930: Mannschaftsdienstgrade, Unteroffiziere, die wenigsten Offiziere; Infanteristen, MG-Schützen, Piloten. 60 Stunden Audiomaterial sind daraus entstanden.
Zum Zeitpunkt der Aufzeichnung der Gespräche waren diese Dreizehn zwischen 88 und 100 Jahre alt. Sechs von ihnen waren zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches bereits verstorben – im Alter von 101, 97, 96, 89 oder 86 Jahren; ihrerseits waren die Berichte über ihre Erfahrungen im Krieg ein für sie selbst wichtiges Vermächtnis. Alle waren in hohem Maße auskunftsbereit, auch wenn sie über ihre traumatischen Erlebnisse zum Teil nie mit ihrer Familie gesprochen hatten. Alle haben den Krieg in all seiner Grausamkeit erfahren: an der Ostfront, in Afrika, an der Westfront, bei der Verteidigung Berlins, in Gefangenenlagern der Sowjetunion, Frankreichs, Großbritanniens oder der USA (auch in den USA). Fast alle wurden verwundet, manche bis zu viermal; fast alle haben selbst getötet. Alle haben aus nächster Entfernung miterlebt, wie Kameraden von Granaten zerfetzt oder ihnen der Kopf weggeschossen wurde, keiner von ihnen wusste als Soldat von den Greueln in den Vernichtungslagern. Alle hätten sich gewünscht, dass die nachfolgenden Generationen mehr über ihre Erlebnisse erfahren hätten.
Den Deutschen rät Hardinghaus zu weniger Hysterie im Umgang mit dem eigenen Land und dessen jüngster Geschichte – und zu weniger Arroganz und Überheblichkeit gegenüber unseren unmittelbaren Vorfahren. Denn, so Hardinghaus, wer unsere Väter und Großväter, weil sie Soldaten sein mussten, pauschal zu Nazis erkläre, der verharmlose die Verbrechen der realen Nazis.
Christian Hardinghaus, Die verdammte Generation. Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Europa Verlag, 329 Seiten, 20,00 €
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