In den 1960ern war das »Rote Jahrzehnt« des Stalinismus längst vergessen. Der grau-in-graue Alltagssozialismus des Ostblocks übte gerade auf junge Leute längst keinerlei Anziehungskraft mehr aus. Ihm fehlte das Aufregende, das Romantische und das Revolutionäre, was durch Militärparaden nicht zu ersetzen war. Ostblock-Sozialismus war etabliert, spießbürgerlich und langweilig. Dennoch kam es Mitte der 1960er-Jahre zu einem spektakulären Sozialismus-Revival. Die Ostblockstaaten spielten dabei keine Rolle mehr. Neue Utopien hatten die Lücke gefüllt: Nordvietnam, Kuba und vor allem das maoistische China. Eines der Bücher, das diese Zeit (zumindest in Bezug auf Westdeutschland) aufarbeitet, trägt bezeichnenderweise den gleichen Haupttitel wie das Buch von Eugene Lyons: Das Rote Jahrzehnt (Koenen 2001 – der Untertitel lautet in diesem Falle »Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–77«.) Tatsächlich gibt es, wie wir sehen werden, viele Parallelen zwischen der Stalin-Lobhudelei der 1930er und der Lobhudelei auf Mao der 1960er und 1970er.
Die Volksrepublik China bestand zwar schon seit 1949, aber so richtig begann die sozialistische Transformation erst Ende der 1950er-Jahre mit dem »Großen Sprung nach vorn«. Bei diesem handelte es sich vor allem um die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, in Kombination mit einer versuchten Industrialisierungskampagne, entfernt vergleichbar mit der sowjetischen Wirtschaftspolitik zur Zeit des ersten Fünfjahresplans (1928–1932). Ungefähr zeitgleich kam es zum chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis. Die beiden ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten wurden zu Gegnern. Das chinesische Regime begann, sich auch ideologisch explizit von der Sowjetunion und ihren Verbündeten abzugrenzen: Diese galten in Peking fortan als »Revisionisten«, die den Sozialismus verraten hätten. China konnte von nun an nicht mehr ins Ost-West-Lagerschema des Kalten Krieges eingeordnet werden. Es handelte sich beim Maoismus nun um ein erkennbar eigenständiges Sozialismusmodell.
Die maoistische Diktatur war das mörderischste Regime der Geschichte. Was die absoluten Opferzahlen anbelangt, so übertrifft sie selbst noch die stalinistische Diktatur (Courtois et al. 1997, S. 4). Das alles war im Westen natürlich damals nicht in allen Einzelheiten bekannt. Wie viel hätte ein westlicher von Mao Begeisterter der späten 1960er von den Verfehlungen und Gräueltaten des Regimes wissen können?
Sehr viel, argumentiert Götz Aly in seinem kontroversen Buch Unser Kampf. Er weist darauf hin, dass einer der führenden China-Experten dieser Zeit, Jürgen Domes, ausgerechnet im Epizentrum der westdeutschen Studentenrebellion, der Freien Universität Berlin, tätig war. Dieser habe beispielsweise schon 1964 berechnet, dass der »Große Sprung nach vorn« mindestens 10,5 Millionen Menschenleben gekostet hätte (was, wie wir heute wissen, noch viel zu optimistisch war). Drei Jahre später begann Domes, von Massenhinrichtungen, Folter und anderen Auswirkungen der Großen Proletarischen Kulturrevolution zu berichten. »Bei ihm hätten wir uns leicht unterrichten können«, urteilt Aly. Er fügt selbstkritisch hinzu:
»Aber das wollten wir damals nicht wissen. Ausgerechnet wir, die wir unseren Eltern vorwarfen, sie hätten sich gegenüber den Naziverbrechen zumindest gleichgültig verhalten und sich hinterher auf ihre Ahnungslosigkeit herausgeredet, argumentieren hinsichtlich der Mao-Verbrechen genauso.«
(Aly 2009)
Ähnlich sieht das der amerikanische Geistesgeschichtler Richard Wolin. Er beschreibt zum Beispiel, wie ein 1971 veröffentlichtes Buch, das die Massenmorde in China dokumentierte, damals in Frankreich aufgenommen wurde:
»Leys Buch wurde in der französischen Presse weitläufig verteufelt, vor allem in der angesehensten französischen Zeitung ›Le Monde‹. Ley war der Bote, der Nachrichten brachte, die auf der französischen Linken niemand hören wollte. In der verdrehten Logik dieser Tage bedeutete Kritik am maoistischen China, dass man pro-amerikanisch sein musste und damit implizit den Imperialismus, waghalsige Atomwaffenpolitik und den Vietnamkrieg unterstützte.«
(Wolin 2010, S. 278)
Sein Gesamturteil lautet:
»Verlässliche kritische Einschätzungen der Entwicklungen in China waren ohne Weiteres verfügbar für jeden, der bereit war, danach zu suchen.« (ebd.)
Die stalinistische Diktatur kann immerhin noch für sich geltend machen, zumindest auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Entwicklung anfängliche Fortschritte erzielt zu haben. Die maoistische Diktatur kann noch nicht einmal das. Zu Maos Zeiten blieb Chinas wirtschaftliche Entwicklung meilenweit hinter der von vergleichbaren Volkswirtschaften zurück.
Am Ende der Mao-Ära lag das Einkommensniveau Chinas bei nur einem Fünftel dessen Taiwans und bei kaum mehr als einem Zehntel dessen Hongkongs. Fast die gesamte chinesische Bevölkerung lebte damals in Armut. Die Bürger Taiwans lebten im Schnitt fünf Jahre länger als Festland-Chinesen, die Bürger Hongkongs sogar acht Jahre. Die Kinder und Säuglingssterblichkeit war in China mehr als viermal so hoch wie in Taiwan oder Hongkong.
Trotz alledem lockten Taiwan und Hongkong bestenfalls ein paar Volkswirte an. Es war die Volksrepublik China, die zum Wallfahrtsort für politische Pilger beziehungsweise zur fernen Projektionsfläche für Revolutionsromantiker wurde. (…) Wer in den späten 1960er- oder den frühen 1970er-Jahren in einem westlichen Land eine Universität besucht hat, der wird sich höchstwahrscheinlich an »Mao-Bibeln« und sonstige von Mao inspirierte Utensilien erinnern. Maoistische Ästhetik wurde zu einem festen Bestandteil der studentischen Protestbewegungen. Die Sinologin Julia Lovell spricht von
»einer lauten Protestkultur, die sich mit der Kulturrevolution identifiziert. Ein ›maoides‹ Hippietum […] resultiert. Das Mao-Fieber breitet sich im ganzen Westen aus: Politische Poster im chinesischen Stil werden in französischen Universitätsgebäuden an die Wände geklebt, westdeutsche Studenten heften sich Mao-Anstecker ans Revers, Zitate aus dem kleinen roten Buch werden an die Wände von italienischen Vorlesungssälen gesprüht.« (Lovel 2019)
Den »Maoismus« der 68er kann man natürlich nicht immer für bare Münze nehmen. Nicht jeder, der damals mit einer Mao-Bibel oder einer Mao-Kappe herumlief, war zwangsläufig ein überzeugter Maoist. Bei vielen – vermutlich den meisten – wird es sich in erster Linie um ein Mode-Statement beziehungsweise um ein Statement des »Nonkonformismus« gehandelt haben. (Obwohl das natürlich erneut die Frage aufwirft, warum die »Nonkonformisten« immer alle gleich aussehen.) In ihrem Beitrag zu dem Buch Art, Global Maoism and the Chinese Cultural Revolution schreiben Lauren Graber und Daniel Spaulding (2020) hierzu:
»Während der 1960er-Jahre war der Reiz des Maoismus in Westdeutschland genauso sehr ästhetischer wie, im strengen Sinne, politischer Natur: Die Symbolik der Kulturrevolution bot eine visuelle und verbale Sprache, die mit einer verblüffenden Leichtigkeit in die Alltagskultur einfloss, mit ihren Pop-Art-Grafiken [und] fetzigen Werbeslogans […] In Westberlin zum Beispiel übernahmen die Mitglieder der ›Kommune 1‹ – erste politische Kommune des Landes und einflussreicher Knotenpunkt der städtischen Gegenkultur von Hippies, Aussteigern und Drogensüchtigen – Maos Bild als Symbol der Rebellion und des subversiven Nonkonformismus.«
Daran sieht man schon, dass es sich mehr um ein Mode-Statement gehandelt haben muss, denn so richtig durchdacht kann das Ganze nicht gewesen sein: Bei »Hippies, Aussteigern und Drogensüchtigen« handelt es sich schließlich um Gruppen, die im maoistischen China sofort in ein Arbeitslager gesteckt worden wären.
Generell ergibt es nicht viel Sinn, dass sich libertinistische 68er, die sich ja als Gegenpol zum von ihnen so wahrgenommenen konservativen Spießbürgertum sahen, ausgerechnet das maoistische China zum Vorbild wählten. Wie Wemheuer (2016) es diplomatisch ausdrückt:
»Die Inhalte der verschiedenen ›Kulturrevolutionen‹ wurden […] unterschiedlich definiert: Während die ›sexuelle Befreiung‹ und freudomarxistische Theorien im Weltbild der westlichen Neuen Linken fest verankert waren, gehört die Kulturrevolution in China bezogen auf Sexualität und Liebe zu den konservativsten Phasen in der jüngeren Geschichte des Landes.«
Auch war die Begeisterung für Mao keinesfalls nur eine Studentenmode. Viele Personen des öffentlichen Lebens, Akademiker, Schriftsteller, Journalisten und Politiker, sahen das maoistische China tatsächlich als nachahmenswertes Modell. (…)
Der berühmte französische Philosoph Jean-Paul Sartre schreibt damals:
»Ein revolutionäres Regime muss eine gewisse Zahl von Individuen, die es bedrohen, loswerden, und ich sehe dafür keine andere Möglichkeit als den Tod. Es ist immer möglich, aus dem Gefängnis wieder herauszukommen. Die Revolutionäre von 1793 haben wahrscheinlich nicht genug Leute umgebracht.«
Und anderenorts:
»Ein Sozialist muss für die Gewalt sein, denn er steckt sich ein Ziel, das von der herrschenden Klasse schlichtweg abgelehnt wird« (zitiert in Wemheuer 2016).
Ungewöhnlich ist an Sartres Statements nur die klare Wortwahl. Auch andere bekannte französische Philosophen, etwa Herbert Marcuse oder Louis Althusser, sind vom Maoismus fasziniert (siehe Wollin 2010). Es ist bei diesen nur schwieriger, dies durch prägnante Zitate zu illustrieren, da diese Autoren nicht gerade für ihre klare Sprache bekannt sind.
Mitte der 1970er-Jahre kühlte die Maoismus-Begeisterung dann allmählich ab. Es sprach sich nun doch herum, was sich in China tatsächlich abspielte (Wolin 2010, S. 274). Auch hatte sich das Verhältnis zwischen China und den USA inzwischen deutlich entspannt, was es schwieriger machte, Kritik an China automatisch als »pro-amerikanisch« zu brandmarken.
China selbst begann Ende der 1970er, sich allmählich langsam und in kleinen Schritten vom Sozialismus abzuwenden (siehe hierzu Zitelmann 2018, Kapitel 1). Laut dem Fraser Institute lag der Index der ökonomischen Freiheit 1980 bei 3,6 (auf einer Skala von 0 bis 10). Mitte der 1980er war er auf über 4 gestiegen, Mitte der 1990er auf über 5 und Mitte der 2000er auf über 6. Eine freie Marktwirtschaft ist das sicher immer noch nicht, aber vom Maoismus hat sich China inzwischen meilenweit entfernt.
Das Ergebnis war ein echter »großer Sprung nach vorn«. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich im Laufe einer Generation real verachtfacht, die Lebenserwartung ist um ein Jahrzehnt gestiegen, die Kindersterblichkeit ist auf ein Sechstel ihres damaligen Niveaus gefallen. Fast die gesamte chinesische Bevölkerung konnte sich aus der extremen Armut befreien. Ein reiches Land ist China deswegen noch lange nicht, und so beeindruckend Chinas Aufholjagd auch aussehen mag, so verblasst sie doch im Vergleich zu dem, was hätte sein können. Taiwan liegt heute vom realen Einkommensniveau her gleichauf mit der Bundesrepublik Deutschland, Hongkong sogar noch darüber. Auch ist China nach wie vor eine Einparteiendiktatur, und wie schlecht es um die Menschen- und Bürgerrechte dort nach wie vor steht, muss hier nicht eigens erörtert werden.
Trotzdem kann man sagen, dass die Kommunistische Partei Chinas zumindest in der Wirtschaftspolitik eine außergewöhnliche ideologische Flexibilität gezeigt hat und dass die Ergebnisse sich sehen lassen können.
Die Lobgesänge von westlichen Intellektuellen blieben diesmal allerdings aus. Jeremy Corbyn unternahm 1986 noch einmal einen missglückten Versuch, den sich allmählich abzeichnenden wirtschaftlichen Aufschwung Chinas zu einer Spätfolge des Maoismus umzudefinieren. Er sagte während einer Parlamentsdebatte im britischen Unterhaus:
»Die Verhältnisse für die Menschen in China sind heute, im Vergleich zu 1948, unendlich viel besser. Das Land hat sich emporgezogen, […] indem es seine Wirtschaft […] kollektiviert hat. Hunger und Armut sind heute nicht üblich in China, während sie es 1948 noch waren. […] Der gegenwärtige Wohlstand Chinas basiert auf einer kollektivierten Wirtschaft, nicht auf einer individualistischen, marktorientierten Wirtschaft.« (Hansard 1986)
Andere, etwa der schwedische Autor Jan Myrdal, bedauerten Chinas Abkehr vom Maoismus sogar ausdrücklich.
China verlor den Zuspruch westlicher Intellektueller, gewann allerdings im Gegenzug den Zuspruch westlicher Investoren. Für die chinesische Bevölkerung war das kein schlechter Tausch.
Gekürzter Auszug aus:
Kristian Niemietz, Sozialismus. Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt. FBV, 320 Seiten, 22,99 €.