Mit dem Abbruch des Seligsprechungsverfahrens für Gilbert Keith Chesterton hat Bischof Peter Doyle, der den Prozeß vor Jahren selbst eröffnete, vermutlich dem gegenwärtigen Zustand der katholischen Kirche entsprochen. Denn Chesterton war vor allem eines: orthodox katholisch. Die Kirche aber tut alles, um genau das nicht länger zu sein.
Der jüdische Marxist Ernst Bloch nannte Chesterton einen »der gescheitesten Männer, die je gelebt haben«, und die jüdische Philosophin Hannah Arendt bezeichnete ihn als »einen der klügsten Geister Europas«. – Warum hier das Attribut »jüdisch« setzen?
Einer der Gründe, die Bischof Doyle bewogen haben, den Bitten und Gebeten der globalen Chesterton-Gemeinde nicht zu entsprechen, ist Chestertons angeblicher Antisemitismus. Tatsächlich hat Chesterton, der Kapitalismus und Marxismus gleichermaßen ablehnte, in beiden, zeittypisch, bisweilen jüdische Verschwörungen vermutet. In diesen spärlichen Äußerungen hatte ihn sein Verstand wohl einfach im Stich gelassen.
Aber er kämpfte entschlossen gegen die ebenfalls populären ideologischen Geschirre der Eugenik und des Rassismus und warnte als einer der ersten Denker vor Hitler. Daß ein katholischer Bischof in diesen Tagen antijüdische Stellen im fast unüberschaubaren Gesamtwerk eines Autors zum Anlaß nimmt, ein Kanonisierungsverfahren zu verweigern, kann nur als Vorwand verstanden werden – denn unter dieser Bedingung müßten der Apostel Paulus und eine ganze Anzahl von Kirchenvätern ebenfalls aus dem Heiligenkalender verschwinden (um von dem wüsten Antijudaismus Luthers, auf den sich sogar Julius Streicher berief, gar nicht erst zu sprechen).
Chesterton, der Großmeister der Paradoxa, schrieb, er habe sein Leben lang nach einer Häresie gesucht, die zu ihm passe – bis er sie in der Orthodoxie fand. Nichts erschien ihm in seinen Tagen anstößiger – in einer Zeit, in der die Kirche, wie sein Gefährte Hilaire Belloc schrieb, im »Nebel der Mittelmäßigkeit« verschwand. Daher ist es klar, daß die Hierarchie an ihm Anstoß nimmt, und zwar bis heute. Die Behauptung, daß die Glaubenswahrheiten des Hochmittelalters, dessen unbedingter Bewunderer Chesterton war – seine Biographien über den Hl. Franziskus von Assisi und den Hl. Thomas von Aquin gehören zu den schönsten ihres Genres –, der jeweiligen Gegenwart anzupassen seien, kam ihm vor, als ob die Aussage, daß die Sonne im Osten aufgehe, nur montags gelte und dienstags schon nicht mehr.
Für den katholischen Menschenverstand ist Chesterton der Wetzstein. Was er etwa zum Nanny-Staat und seinen Übergriffigkeiten schrieb, trifft heute genauso ins Schwarze wie damals. In seinem Buch »Ketzer« führte er zur Familie aus: Sie »ist deshalb eine gute Institution, weil sie unbequem ist. Sie ist gerade deshalb nützlich, weil sie so viele Divergenzen und Spielarten enthält. Sie ist (…) wie ein kleines Königreich und – nicht anders als die meisten Königreiche – meistens in einem Zustand, der viel Ähnlichkeit mit Anarchie hat (…) Tante Elisabeth ist unvernünftig, genau wie der Mensch. Papa ist reizbar, genau wie der Mensch. Unser kleiner Bruder ist boshaft, genau wie der Mensch. Großpapa ist töricht, genau wie die Welt; er ist alt, genau wie die Welt.«
Die Familie und ihr Zusammenhalt: ein einziges großes Trainingsgelände für unsere Fähigkeiten zu Toleranz und Liebe und Schlichtung bei Streit. Heutzutage beugen sich Eheberater und Gutachter und Scheidungsrichter über die geringsten Irritationen und empfehlen sofortige Trennung und Atomisierung. Der Staat ersetzt den Ehemann und befreit die Frau vom Herd – natürlich, um über sie als steuerzahlende Arbeitskraft verfügen und ihre Kinder so früh wie möglich in Obhut zu nehmen als Objekte der jeweils aktuellen ideologischen Zurichtung. Und Augen auf, sollten sie blond sein und Zöpfe tragen!
Das weit größere Abenteuer als die romantische Liebe ist nach Chesterton die Geburt, die sich nach der Genesis aus der Verbindung von Mann und Frau, den Ebenbildern Gottes (und nicht ca. 56 Geschlechtern), ergibt: »Bei der Geburt (…) betreten wir eine Welt, die wir nicht gemacht haben. Anders gesagt, wenn wir eine Familie betreten, betreten wir ein Märchen.«
Kann man kompromißloser und schöner und vernünftiger für die Orthodoxie der Familie werben?
»Das Christentum mag die orientalischen Religionen in ihren Paradoxa übertreffen – aber es baut die besseren Straßen.« So klingt der katholische Menschenverstand nach Chesterton, dem großen Kollegen, den Pius XI. zum Fidei defensor, zum Verteidiger des Glaubens ernannte. Der orthodoxe Katholik kennt die Sünde, die nur bedingte Erreichbarkeit des Ideals – aber er wird sich hüten, das Ideal zu verraten oder ins Lächerliche zu ziehen. Ist das Paradox? Meinetwegen, so paradox wie das Leben selbst.
Nicht umsonst ist die populärste Schöpfung des Autors die Figur des Father Brown, jenes Priesters, der alle menschlichen Schwächen aus dem Beichtstuhl kennt. Gleichzeitig mit dem wissenschaftsgläubigen Sherlock Holmes und dem eitlen Hercule Poirot betrat er die Bühne der detektivischen Aufklärer in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und wie sie löste er rund fünfzig Fälle. Der Priester Brown aber (kein Pater, das »Father« wird stets falsch übersetzt) tat das als mitleidender Seelsorger – mit vergebungsbereiter Einfühlung in die Conditio humana.
Als weiterer Grund zur Ablehnung eines Seligsprechungsverfahrens wurde angeführt, daß Chesterton keinen lokalen Kult begründet habe. Das ist richtig – die Bewunderung für ihn ist global. Die »American Chesterton Society« hat eine Novene für ihn in Umlauf gebracht.
Darüber hinaus zweifelt der Bischof an der »persönlichen Spiritualität« des großen journalistischen Kollegen. Dazu ist zu sagen: Seine Spiritualität erfüllt jeden, der ihn liest, mit neuem Glaubensmut, weil sie Gottfried Benns »armen Hirnhund, schwer mit Gott behangen« – leicht macht. So leicht wie Engel, die, nach Chestertons Ansicht, deshalb fliegen können, weil sie sich selber leichtnehmen.
Angeregt wurde das Seligsprechungsverfahren 2009 von der 1974 gegründeten »Society of Gilbert Keith Chesterton«. Den Unterstützern ging es darum, daß Chestertons Schriften eine neue Generation Christen beeinflussen dürften, die sich von seiner Verteidigung des katholischen Glaubens, der traditionellen Familie und der Heiligkeit des Lebens angezogen fühlen.
Damit war Chesterton schon zu seinen Zeiten eminent politisch, und in unseren ist er es erst recht. Dorothy Sayers, als Krimiautorin eine sister in crime, beschrieb seine Wirkung mit einem »frischen Wind, der durchs offene Fenster in die Stube fegt«.
Diesen frischen Wind braucht jeder Gläubige, besonders aber braucht ihn unsere Zunft der Kopfmenschen, die sich gerne in Homo-Deus-Entwürfen verliert und die Schöpfungsordnung ohne allzu große Rücksicht auf Verluste verbessern möchte.
Für Chesterton zeichnet sich der gesunde Menschenverstand dadurch aus, daß er mit einem Fuß im Land der christlichen Mystik steht. Vernunft und Glaube gehen zusammen, wie schon Benedikt XVI. ausführte: Vernunft ohne Glaube führe in den technologischen Terror, Glaube ohne Vernunft in blinden Fundamentalismus. Chestertons »Orthodoxie« ist eine beglückende Wiederverzauberung des Menschen, der sich zu seiner Vielschichtigkeit bekennen sollte. »Der Gesunde weiß, daß er etwas von einem wilden Tier, von einem Teufel, etwas von einem Heiligen, etwas von einem Bürger hat. Ja, der wirklich Gesunde weiß sogar, daß etwas von einem Verrückten in ihm steckt.«
Die Enttäuschung der Verehrer Chestertons über die Entscheidung Bischof Doyles ist verständlich. Denn bei allem Respekt für die kirchliche Autorität – die wichtigen Anliegen des Fidei defensor dürften künftig noch mehr in die Defensive geraten.
Matthias Matussek ist Autor und Publizist. Von 1987 bis 2013 war er beim Spiegel, danach bis 2015 bei der Axel Springer AG. Zuletzt erschien von ihm
White Rabbit oder Der Abschied vom gesunden Menschenverstand, Edition Tichys Einblick im FBV, Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 22,99 €.