Er war ein Genie. Gleich einem Leuchtturm, leuchtend und erleuchtet zugleich. Seine 40 Bücher, übersetzt in viele Sprachen, haben sich bis heute weit mehr als 200 Millionen Mal verkauft. Ein Dichter und Denker der Superlative. Und das bereits zu Lebzeiten. Im September 1947 widmete das „Time“-Magazin ihm eine Titelstory. Da war er 48 Jahre alt. Die Headline: „Don v. Devil“. Eine hübsche Alliteration. Und so viel mehr. Die Titelgeschichte – die, ein journalistisches Denkmal zu nennen, nicht übertrieben ist – zeichnet das Porträt eines Mannes, dem viele seiner Kollegen in Oxford den Erfolg neideten, den er nicht zuletzt unter Studenten genoss: „als beliebtester Dozent der Universität“, als gefeierter „Bestsellerautor“ und als „einer der einflussreichsten Vertreter des Christentums in der englischsprachigen Welt“.
Äußerer Anlass war die bevorstehende Erscheinung seines Buches „Miracles. A Preliminary Study“ (dt.: „Wunder. Eine vorbereitende Untersuchung“). Die These: Aufgrund seiner Allmacht kann Gott nicht bloß theoretisch in die von ihm geschaffene Natur eingreifen. Er hat dies auch bereits unter Beweis gestellt. Vor allem aber zollt das Porträt dem Werk Tribut, mit welchem dem Iren fünf Jahre zuvor der Durchbruch gelungen war: „The Screwtape Letters“ (dt.: „Dienstanweisungen an einen Unterteufel“). „Don v. Devil“ – misst man die Größe eines Menschen an der seiner Feinde, geht mehr nicht.
Die Rede ist von Clive Staples Lewis, der am 29. November 125 Jahre alt geworden wäre. Vor zehn Jahren, am 22. November 2013, Lewis 50. Todestag, wurde in der Westminster Abtei in London sein Gedenkstein enthüllt. Dort, wo sonst die gekrönten Häupter Englands inthronisiert werden, steht er seitdem im „poets‘ corner“, wie dieser Teil des Querschiffs auch genannt wird. In einer Reihe mit William Shakespeare (1564-1616), John Milton (1608-1674) und T.S. Elliot (1888-1965). Mehr geht nicht. Die Inschrift: „Ich glaube an Christus, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.“
Das Werk, das als sein dichtestes philosophisches Buch gilt, besteht aus nur rund 20.000 Worten. Und obwohl es vor 80 Jahren verfasst wurde, bietet es doch nicht weniger als den Schlüssel zum Verständnis nicht bloß unserer Zeit, sondern auch gleich einer Zukunft, die uns mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit droht. Zumindest dann, wenn wir so weitermachen wie bisher.
Seine drei Teile sind überschrieben mit „Der Mensch ohne Brust“, „Der Weg“ und „Die Abschaffung des Menschen“. In „The Abolition of Man“, lobt Robert Spaemann (1927-2018) in seinen „Philosophischen Essays“, habe Lewis „auf eine kürzere, nüchternere und weniger dialektische Weise all das gesagt, was die ,Dialektik der Aufklärung‘ zu sagen versucht“. Gemeint ist die 1944 erschienene Sammlung von Essays von Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969), die als eines der grundlegenden und meistrezipierten Werke der Kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“ gilt.
Ausgehend von einem Schulbuch, deren Verfasser Lewis nicht an den Pranger zu stellen wünscht, weshalb er es in der Folge als das „grüne Buch“ bezeichnet und die Autoren „Gaius und Titius“ tauft, übt er Kritik an deren Behauptung, Werturteile seien in Wahrheit gar keine Aussagen über die Wirklichkeit, sondern kündeten lediglich von den subjektiven Gefühlen derer, die sie fällten. Wer einen Wasserfall als „erhaben“ bezeichne, beschreibe nicht das Naturschauspiel, dem er beiwohne, sondern bloß die Emotionen, die dieses in ihm auslöse und die er in der Folge, so unmerklich wie vernunftwidrig, auf dieses projiziere. „Diese Verwechslung geschieht andauernd in unserem Sprachgebrauch. Wir scheinen sehr Wichtiges über etwas Bestimmtes auszusagen, und im Grunde äußern wir nur etwas über unsere eigenen Gefühle“, zitiert Lewis die Autoren und wittert hinter ihrer These einen zwar „abgedroschenen“, aber wirkmächtigen „Rationalismus“. Einen, der Generationen von Schülern verbilde und am Ende „Menschen ohne Brust“ generiere, d.h. ohne Herz und Mitte.
Daher packt er den Rationalismus, als dessen wichtigster Vertreter gemeinhin René Descartes (1596-1650) gilt, gleich bei den Hörnern: Selbst, wenn „Eigenschaften wie Erhabenheit einzig und allein durch unsere eigenen Empfindungen in die Dinge hineinprojiziert würden“, löse ein Wasserfall doch keine „erhabenen“ Gefühle aus, sondern ihr genaues Gegenteil, nämlich „solche der Ehrfurcht“. Wichtiger sei jedoch: Wer einen Wasserfall „erhaben“ nenne, wolle damit gar kein subjektives Gefühl ausdrücken, sondern der Ansicht Ausdruck verleihen, dass dieses Naturschauspiel eine Bezeichnung wie „erhaben“ und eine Empfindung wie Ehrfurcht objektiv „verdiene“.
Und in der Tat: Unter Rückgriff auf Platon, Aristoteles, Augustinus, Konfuzius und andere zeigt Lewis zunächst, dass der Mensch sich der Existenz einer objektiven Werteordnung bewusst ist, die er aus „praktischen Gründen“ das „Tao“ nennt. Sodann hält Lewis dafür, dass das „Tao“ oder das, „was andere das Naturgesetz oder die überlieferte Moral oder das Erste Prinzip der Praktischen Vernunft oder die Grundwahrheiten nennen mögen“, nicht „ein Wertesystem innerhalb einer Reihe von möglichen Wertesystemen“ sei, sondern „die einzige Quelle aller Werturteile“. Werde es „abgelehnt“, werde „jeglicher Wert verworfen“.
Da nur das „Tao“ ein „allgemein-menschliches Gesetz“ liefere, „das sowohl Herrscher wie Beherrschte überwölbt“, sei seine Akzeptanz die notwendige „Voraussetzung“ für jedwede „Idee einer Herrschaft, die nicht Tyrannei, und eines Gehorsams, der nicht Sklaverei ist“. Entweder seien wir Menschen „vernunftbegabter Geist und für immer dazu verpflichtet, den absoluten Werten des Tao zu gehorchen, oder wir sind bloße Natur, dazu da, in neue Formen geknetet und gehauen zu werden, je nach dem Belieben von Herren“, die gar „kein anderes Motiv“ haben könnten, als „ihre eigenen, natürlichen Impulse“.
Mit einer logischen Stringenz, die bisweilen an Unerbittlichkeit grenzt, denkt Lewis, den die Krimi-Schriftstellerin Dorothy L. Sayers (1893-1957) deshalb einmal „Gottes Terrier“ nannte, dies dann zu Ende: „Falls ein bestimmtes Zeitalter dank der Eugenik und einer wissenschaftlichen Erziehung die Macht erlangte, seine Nachkommen nach Belieben herzustellen, so sind eben in Wirklichkeit alle nachfolgenden Menschen dieser Macht unterworfen.“ Denn in Wahrheit bedeute „die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt“.
„Das Endstadium“ sei, so Lewis, dann erreicht, „wenn der Mensch mit Hilfe der Eugenik und vorgeburtlicher Konditionierung und dank einer Erziehung, die auf perfekt angewandter Psychologie beruht, absolute Kontrolle über sich selbst erlangt hat. Die menschliche Natur wird das letzte Stück Natur sein, das vor dem Menschen kapituliert. Dann ist die Schlacht gewonnen“.
Während dem Pflegenotstand allenfalls halbherzig entgegengewirkt wird, verzeichnet die Welt ein Wiedererstarken der Euthanasie, die sich, in ihren unterschiedlichen Ausprägungen als „Beihilfe zur Selbsttötung“, als „ärztlich assistierter Suizid“ oder gar als „Tötung auf Verlangen“ auf immer neue Personengruppen erstreckt: Todkranke, Schwerkranke, Demente, Lebensmüde. Fehlt eigentlich nur noch die Legalisierung der Leihmutterschaft, der wohl sichtbarste Beleg dafür, dass von Menschen beschrittene Pfade, die sich jenseits des Humanität sichernden „Tao“ auftun, schnurstracks in die Sklaverei führen.
War „Gottes Terrier“ womöglich der letzte Prophet? „Lewis wusste als Literaturhistoriker, dass Einteilungen der Weltgeschichte in Stadien immer nur teilweise zutreffen; dafür ist seine Antrittsvorlesung in Cambridge ,De descriptione temporum‘ der beste Beleg“, meint Lewis-Spezialist Norbert Feinendegen. „Insofern hätte er gesagt: Vorgedacht wurde diese Abschaffung des Menschen bereits zu seiner Zeit, doch die allgemeine Umsetzung stand – und steht auch heute – noch aus. Dieses Stadium ist aber näher gerückt: Die technischen Möglichkeiten einer Manipulation der menschlichen Natur haben sich enorm weiterentwickelt und die transhumanistische Agenda wird heute weit offener propagiert, als das zu Lewis‘ Lebzeiten der Fall war.“
Das Ziel sei jedoch das Gleiche: „der Machtgewinn von Menschen über Menschen, wobei jene, die diese Macht ausüben, die anderen gar nicht mehr als Menschen im eigentlichen Sinn sehen. Der Mensch ist für diese selbst entmenschlichten Machthaber kein Geschöpf mehr, das von Gott mit einer unbedingt zu achtenden Freiheit und Würde ausgestattet wurde, sondern bloße Verfügungsmasse, mit der sie nach Belieben verfahren können. Wer wissen möchte, wie es aussehen könnte, wenn eine solche Abschaffung des Menschen Realität wird, kann zu Lewis‘ Roman ,That Hideous Strength (dt.: ,Die böse Macht ) von 1945 greifen. Oder er wirft einen Blick in die Dokumentation des CIBA-Symposiums ,Der Mensch und seine Zukunft‘ von 1962.“
Wie auch immer: Glaubt man Lewis, dann wäre nicht einmal „die Abschaffung des Menschen“ die ultimative Katastrophe. Denn der Ire war überzeugt, dass die für uns sichtbare, von Gott üppig ausgestaltete Welt letztlich nur so etwas wie ein „Ankleidezimmer“ ist, dass uns auf den Eintritt in eine weitaus gigantischere vorbereiten soll. Sich vorsorglich schon einmal über den Dresscode zu informieren, ist vermutlich keine schlechte Idee.
Dieser Beitrag von Stefan Rehder erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Als Einstieg in Lewis überaus lesenswertes und umfangreiches Werk empfehlen wir:
C.S. Lewis, Durchblicke. Texte zu Fragen über Glauben, Kultur und Literatur. Fontis Verlag, Klappenbroschur, 416 Seiten, 18,00 €
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