Tichys Einblick
Wolfgang Herles im Gespräch mit Bodo Kirchhoff

Bodo Kirchhoff: „Die Gesellschaft hat sich in ihrem Gutsein überschätzt.“

Die zwei Deutschen wollen ihr eigenes Leben reparieren, indem sie ein Flüchtlingsmädchen aufnehmen. Denn beide haben ein Kind verloren. Im Gespräch mit Wolfgang Herles erklärt Kirchhoff die wahre Intention seiner preisgekrönten Literatur.

Männer erzählen von ihren Narben, Frauen von ihren Wunden, heißt es in Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“, für die er den Deutschen Buchpreis gewann. Sie wird in aller Welt gelesen werden und für deutsche Literatur unserer Zeit stehen. Und damit auch für ein Missverständnis. Frauenversteher Kirchhoff, der Sprachartist, der immer wieder virtuos und genau die Beziehungen zwischen Männern und Frauen erzählt hat, hat keine Flüchtlingsnovelle, schon gar keine Flüchtlingsschmonzette geschrieben, obwohl genau dies jetzt in fast allen Blättern zu lesen ist. Es ist eine Fluchtgeschichte. Allerdings sind es zwei Deutsche, die aus ihrem eigenen Scheitern fliehen wollen. Gemeinsam fahren sie spontan nach Süden, nach Sizilien. Der Flüchtlingsstrom aus dem Nahen Osten und Afrika kommt ihnen entgegen. Die beiden Deutschen wollen aber ihr eigenes Leben reparieren, indem sie ein Flüchtlingsmädchen aufnehmen. Denn beide haben auf unterschiedliche Weise ein Kind verloren. Im Gespräch mit Wolfgang Herles erklärt Kirchhoff die wahre Intention seiner preisgekrönten Literatur.

Wolfgang Herles: Es geht nicht um die Flüchtlinge aus Afrika. Viele Kritiker haben das missverstanden.

Bodo Kirchhoff: Nein. Beim Schreiben wusste ich gar nicht, wohin das geht. Ich habe angefangen, eine späte Liebe zu erzählen.

Man tut dieser Novelle Unrecht, wenn man sagt, sie ist Teil der Willkommenskultur.

Das ist sie überhaupt nicht. Da sind zwei Leute, die nur ihre eigene Geschichte haben wollen.

Reither, der Mann, ist Verleger. Laura Palm, die Frau, ist Leiterin eines Lesekreises, indem auch geschrieben wird. Sie klopft bei dem Verleger in der Nachbarschaft an, weil er die Texte beurteilen soll. Das erinnert an die Leute, die zu Bodo Kirchhoff an den Gardasee reisen, um Schreiben zu lernen.

Reither, der Verleger, hat sein Leben lang mit Menschen zu tun gehabt, die sich entweder vollkommen überschätzen und glauben, sie hätten den Roman des Jahrhunderts, oder die ihm ein Chaos hinlegen. Er hat das irgendwie satt. Er hat auch das Gefühl, es gibt allmählich mehr Schreibende als Lesende.

Auf ihrer Reise in den Süden nehmen sie das Flüchtlingsmädchen auf.

Sie suchen es nicht. Das Mädchen schließt sich ihnen an.

Die schaffen das aber nicht.

Die schaffen gar nichts. Das einzige, was sie schaffen ist, dass sie dem Mädchen ein paar Kleider verschaffen. Sie verschaffen ihr ein Bett und etwas zum Essen. Es muss auf der Couch schlafen. Dadurch kommen die beiden ins Ehebett, was sie gar nicht vorhatten. Und dann, auf der Fähre, bricht das Mädchen aus diesem leicht goldenen Käfig wieder aus.

Und das bringt das Paar auseinander, noch ehe es sich richtig gefunden hat.

Sie haben sich selbst in Ihrem Gutsein überschätzt. Sie haben etwas getan, ohne sich vorher zu fragen, ob sie auch die innere Substanz dazu hätten.

Hat sich unsere Gesellschaft in ihrem Gutsein überschätzt?

Wolfgang Herles trifft
Bodo Kirchhoff: "Die Gesellschaft hat sich in ihrem Gutsein überschätzt."
Sie hat sich mit Sicherheit am Anfang in ihrem Gutsein überschätzt, aber diese Überschätzung drückt sich für mich vor allem darin aus, dass das, was geschieht, immer viel zu schnell kommentiert wird. Die Erzählung macht genau etwas anderes, nimmt etwas auf, dann denkt man nach, beginnt zu schreiben, arbeitet daran, und nach einem oder eineinhalb Jahren ist ein Buch fertig. Zwischen dem was man aufnimmt und der Sprache, die man dazu findet, liegt ein Zeitraum. Bei uns passiert etwas und noch in der selben Woche tritt die TV-Runde zusammen und hechelt das durch und hat die Begriffe dazu. In dem Maße, wie die Politik mit Begriffen operiert, reagiert die Straße mit Pöbeleien. Die Pöbeleien entspringen demselben Impuls, nämlich ganz schnell Worte zur Hand zu haben.

Es fließt Blut. Zweimal verletzt sich der Mann im Umgang mit dem Mädchen.

Einmal nur ganz gering. Er will ihr eine Cola-Dose öffnen und schneidet sich an der Lasche. Beim zweiten Mal will er sie halten, und sie hat eine Halskette mit einem Metallanhänger. Er hält sie an der Kette, und sie reisst sich los und zieht ihm den Anhänger quer durch die Hand.

Die Schlüsselstelle. Dass Wunden geschlagen werden, darf man schon symbolisch nehmen?

Für mich ist es wichtig, ein einfaches, anschauliches Bild zu finden, das mir erspart, zu große Worten zu finden Das Blut ersetzt die großen Worte. Es gibt eine Stelle, da fragen sie sich, woran glaubt das Mädchen eigentlich, glaubt sie an Allah, glaubt sie an Jesus? Da sagt die Frau: Ich fürchte, im Augenblick glaubt sie an uns. Da wird auf ganz einfache Weise etwas erzählt, wo man sonst ins Schwafeln geriete. Aber so eine Stelle muss man mit fünfzig Seiten vorbereiten.

Diese Konzentration auf wenige Figuren, eine kompakte Handlung ist das Schöne an einer Novelle.

Ich will niemanden erziehen, sondern jemanden hineinziehen in eine andere Art des Denkens und Sprechens, ich will andere in meine Sprache hinein verwickeln. Sowohl was die Möglichkeit angeht, sich, wenn man älter ist, noch einmal zu verlieben als auch das gesellschaftliche Thema, das dahinter steckt. Und dazu will ich eine andere Sprache. Aber ich will niemanden erziehen, indem ich sage, du musst so denken oder so. Das liegt mir völlig fern. Es geht in der Literatur nicht um Meinungen.

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