Tichys Einblick
Gegenbild zum Klassenkampf

Ayn Rand: Was passiert, wenn die Geber die Lust am Geben verlieren?

Ayn Rands Roman „Der freie Mensch“– 1957 im Original und gerade in neuer Übersetzung erschienen - wirkt ziemlich modern, gerade in Deutschland. Eines der Hauptprobleme, mit denen die Figuren kämpfen heißt „Stromknappheit“, ein anderes „Fachkräftemangel“, ein drittes „Bürokratismus“. Von Harald Martenstein

Ayn Rand veröffentlichte „Atlas Shrugged“ 1957, einen Romankoloss von fast 1500  Seiten, der sich zigmillionenfach verkaufte und bis heute verkauft. Er wurde eines der einflussreichsten politischen Bücher zumindest der US-Geschichte, ein Buch, das von Libertären, Liberalen und Konservativen vergöttert wird und von der Linken gehasst.

Streckenweise ist dieser Roman eine Zumutung, zu lang, oft zu dozierend oder mit zu viel Pathos, literarisch also keineswegs ein Meisterwerk. Trotzdem dürfte er fast jeden faszinieren, sogar seine Gegner. Vor einiger Zeit ist „Atlas Shrugged“ auf Deutsch neu erschienen unter dem Titel „Der freie Mensch“, die erste Übersetzung trug den Titel „Atlas wirft die Welt ab“.

Ayn Rand wurde 1905 als jüdische Apothekerstochter Alissa Rosenbaum in St.  Petersburg geboren, die Sowjetunion verließ sie 1926 Richtung New York mit der Überzeugung, dass Sozialismus und Kollektivismus den Menschen immer nur Armut und Unterdrückung bringen werden, Individualismus dagegen Freiheit und Wohlstand. Ayns Prämisse lautet, dass Eigenliebe allen Menschen gemeinsam ist, sie ist also gut, ansonsten müsste man ja die Mitmenschen und sich selbst hassen.

Die einen machen ihr Ego produktiv zugunsten der Gemeinschaft, indem sie arbeiten, als Unternehmer, Angestellte oder Arbeiter. Sie tun dies nicht mit dem oft geheuchelten Ziel, Gutes zu tun, sondern ehrlich um ihrer selbst willen, für Erfolg und Geld. Von deren Fleiß haben am Ende alle etwas.

Die anderen reden bei Ayn Rand scheinheilig von Gerechtigkeit und meinen damit meist nur ihre Faulheit und ihren Willen zur Macht. Deren Egoismus zerstört das, was der Egoismus der anderen geschaffen hat.

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Die Tüchtigen und die Schmarotzer sind in Ayn Rands Weltbild also das Gegenbild zum Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Proletariern im Marxismus oder zu den guten Nichtweißen und LGBTIQ-Menschen und den bösen Hetero-Weißen im woken Neorassismus. Das Gut-Böse-Schema, wie es etwa bei ihrem Zeitgenossen Brecht zu finden ist und wie es den Kulturbetrieb der vergangenen Jahrzehnte fast unhinterfragt geprägt hat, dreht Ayn Rand einfach um.

Ihre Helden sind Dagny Haggart, die junge Erbin einer Eisenbahnlinie, und der Stahlmagnat Hank Rearden. Diese beiden kämpfen um ihr wirtschaftliches Überleben in einer zunehmend feindlichen, von Intrigen und Inkompetenz gesteuerten Neid- und Nimmgesellschaft, aus der Leistungsträger nach und nach resigniert fliehen. Was wird passieren, wenn die sich zusammentun und in Streik treten, wenn die Geber also die Lust am Geben verlieren?

Dieser Plot wirkt ziemlich modern, gerade in Deutschland. Eines der Hauptprobleme der Unternehmer in „Der freie Mensch“ heißt übrigens „Stromknappheit“, ein anderes „Fachkräftemangel“, ein drittes „Bürokratismus“.

Dass sich dieses Buch nicht so schlicht liest, wie es in Geschichten mit Schwarz-Weiß-Schema meistens der Fall ist, verdankt „Der freie Mensch“ seinem Reichtum an Personal und an starken Szenen. Auf 1500 Seiten darf man das ja auch erwarten. Bei meiner Lektüre, die viele Jahre zurückliegt, bin ich etlichen Typen begegnet, die ich gut zu kennen glaubte, dem Gerechtigkeitsapostel mit Villa, den Opportunisten, die ihren Opportunismus hinter gängigen Phrasen verstecken, den Wahrheitsverbiegern wider besseres Wissen, denen, die Moralismus als Werkzeug zum eigenen Nutzen einsetzen. Und ich bin auch mir selbst und meinen eigenen Irrtümern begegnet. Denn ich war damals bei meiner Lektüre jemand, der sich von den linksradikalen Irrtümern seiner Jugend lange schon verabschiedet hatte, ohne so recht zu wissen, wohin er stattdessen gehörte.

„Der freie Mensch“ ist, anders, als Wahrheitsverbieger manchmal behaupten, kein reaktionärer Roman, nicht einmal ein konservativer. Sein Frauenbild ist, für die 1950er-Jahre, recht modern, die sexuelle Libertinage der Heldin, ihre Ellenbogen und ihr Glaube an den Fortschritt sind gegenwartskompatibel. Am ehesten passt Ayn Rand in die Schublade „libertär“. Ihr Hardcore-Liberalismus fordert etwas vom Individuum, nämlich Selbstverantwortung. Nicht andere oder der Staat sind für mein Glück zuständig, ich selbst bin es. „Niemals“, sagt einer der Protagonisten, „werde ich von einem anderen verlangen, für mein Wohl zu leben.“ Diesen Satz finde ich kein bisschen egoistisch, ganz im Gegenteil.

Ayn Rand, Der freie Mensch. Roman. thinkum, Hardcover mit Überzug und Goldprägung, Leseband, 1488 Seiten, 59,99 €.


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