Tichys Einblick
Opfer sind die neuen Helden

Aus den Untiefen des Postkolonialismus

Nicht mehr Helden sind die Identifikationsfiguren in westlichen Gesellschaften, sondern Opfer. Eine postheroische Kultur hat einen Wettbewerb geschaffen, welche Opfererfahrung am meisten Gewicht hat, denn daraus lassen sich in Einwanderungsgesellschaften Forderungen nach positiver Diskriminierung in Form von Quoten und auf globaler Ebene auch Ansprüche auf geldwerte Entschädigung ableiten.

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Im Jahr 1978 publizierte der in Jerusalem geborene amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said sein Buch „Orientalism“. Es gehört sicherlich zu den einflussreichsten Büchern des späten 20. Jahrhunderts, denn mit diesem Werk begründete Said, ein palästinensischer Christ, der persönlich in der westlichen Kultur mindestens ebenso heimisch war wie in der arabischen, das Denkmodell des Postkolonialismus, auch wenn Said diesen Begriff selber nicht verwandte. Said hatte die These aufgestellt, dass die westlichen Orientwissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Bild der arabischen Welt zeichneten, das darauf angelegt war, diese zu exotisieren und als durchweg rückständig und unterentwickelt darzustellen. Zugleich schufen die Islamwissenschaften und die Arabistik, so Said, ein wissenschaftliches Gebäude, das es erleichterte, die außereuropäischen Kolonien des Westens zu beherrschen; das Wissen, das sie produzierten, diente also nicht der objektiven Erkenntnis, sondern hatte instrumentellen Charakter als Werkzeug politischer und wirtschaftlicher Dominanz.

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Said, ein bekennender Humanist und gentleman scholar, hatte nie den Wunsch, deshalb die westliche Kultur, die ihm selber viel bedeutete – unter anderem begründete er zusammen mit Daniel Barenboim das West Eastern Divan Orchestra – zu dämonisieren, sein Buch und andere Publikationen wurden aber Ausgangspunkt für eine Denkschule, die überall in den vorherrschenden Wissenssystemen und kulturellen Normen, die vorgeben, universalistisch angelegt zu sein, die Spuren des Imperialismus und Kolonialismus suchte und fand. Von diesen Spuren, das galt nun als Maxime, müssten sich die früheren Kolonien befreien, aber auch der Westen selbst müsse in einem Akt der umfassenden Selbstkritik seinen Anspruch auf kulturelle Hegemonie aufgeben und erkennen, wie sehr seine Werte durch seine imperialistische Vergangenheit geprägt seien. Diese moralische Kontamination gelte es jetzt durch einen umfassenden Prozess der Dekolonialisierung zu überwinden. 

Heute befindet sich der Einfluss postkolonialer Ansätze in den USA und Europa auf einem Höhepunkt. Überall glaubt man die Handschrift kultureller Anmaßung und des Rassismus zu entdecken, die Lehrpläne der Universitäten müssen ebenso gesäubert werden, indem man die vermeintlich rassistischen Protagonisten der Aufklärung von ihrem Thron stößt, wie das Bild unserer Städte, das durch die Standbilder böser Kolonisatoren und Imperialisten, wie Churchill, Bismarck und vieler anderer verunziert wird.

Schon diese Besessenheit von der Idee moralischer Reinheit muss man mit großem Argwohn sehen, aber der Postkolonialismus hat auch noch andere bedenkliche Seiten. Für ihn sind die einzig wahren Opfer der Weltgeschichte immer die Völker des globalen Südens; Europäer, westliche Völker können ihnen diesen Platz nie streitig machen. Das zwingt die Advokaten des Postkolonialismus, die genozidalen Verbrechen des frühen 20. Jahrhunderts und darunter ganz besonders den Holocaust in einem neuen Licht zu betrachten. Oft entwickeln Vertreter des Postkolonialismus eine Tendenz, den Holocaust zu relativieren, wenn nicht gar zu verharmlosen. Allgemein bekannt ist der Fall Achille Mbembe, ein kamerunischer Philosoph, der ein scharfer Israelkritiker ist, und dessen Antizionismus durchaus Anleihen beim Repertoire des traditionellen katholischen Anti-Judaismus, wenn nicht gar, wie manche Kritiker betonen, beim Antisemitismus macht. Ein geplanter Auftritt in Deutschland an prominenter Stelle war deshalb vor einiger Zeit stark kritisiert worden, was wiederum führende deutsche Wissenschaftler und Funktionäre des Kulturbetriebes veranlasste, Mbembe und anderen Gegnern Israels mit ihrem Projekt „Weltoffenheit“ zur Seite zu springen. TE berichtete darüber.

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Diese problematischen Seiten des Postkolonialismus sind das zentrale Thema eines von Jan Gerber herausgegebenen Buches (Die Untiefen des Postkolonialismus (Hallische Jahrbücher #1, Critica Diabolis 292,) Berlin: Edition Tiamat 2021, 426 S.). Die ursprünglichen Hallischen Jahrbücher waren ein Publikationsorgan der Junghegelianer, zu denen auch Karl Marx gehörte, und auch die Autoren des von Gerber herausgegebenen Bandes stehen mehrheitlich wohl eher links, auch wenn sie sich nicht unbedingt in einer marxistischen Tradition sehen. Was ihnen gemein ist, ist aber die Verteidigung des Erbes der europäischen Aufklärung gegen diejenigen, die sie verwerfen, weil sie vermeintlich ein Teil einer westlichen Wissenskultur sei, die sich andere Kulturen unterwerfen wolle. Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner, mit dem der Herausgeber ein längeres Interview geführt hat, das in dem Band abgedruckt ist, verweist zurecht auf die Zusammenhang zwischen Postkolonialismus und Poststrukturalismus und dessen Anti-Rationalismus. Über Derrida, einen Protagonisten des Poststrukturalismus meint er, er habe das Erbe der Aufklärung zwar verworfen, sich aber dennoch am „Geländer der Aufklärung und des westlichen Denkens festgehalten“ so sehr er sich auch darüber hinauslehnte, das sei auch für die postkoloniale Ideologie insgesamt zum Teil typisch, ohne dass man sich das freilich eingestehen wolle.
Nandy und der Postkolonialismus in Indien

In der Tat illustriert das auch ein Beitrag über den indischen Psychologen und Sozialkritiker Ashis Nandy (Peter Siemionek). Nandy, selber übrigens als Christ Angehöriger einer Minderheit, gilt als überzeugter Gegner der Hindu-Nationalismus, der Indien zur Zeit politisch dominiert. Sein Blick auf die Kolonialzeit ist allerdings recht einseitig. Für alle düsteren Seiten des traditionellen Indiens vom Kastensystem bis hin zur Witwenverbrennung werden in letzter Instanz die Briten als Kolonialmacht verantwortlich gemacht, die traditionelle Kultur selber wird romantisiert. Dass Nandy ähnlich wie vor ihm Gandhi, von einer spezifisch westlichen Kritik an der Moderne, wie sie sich im 19. Jahrhundert bei Ruskin, Tolstoi und Henry David Thoreau findet, beeinflusst ist, ist allerdings auch richtig, doch hindert das Nandy, dessen Buch The Intimate Enemy –Loss and Recovery of Self under Colonialism von 1984 zu den einflussreichsten Schriften der postkolonialen Theorie gehört, nicht daran, den Westen insgesamt für alle Übel der Weltgeschichte verantwortlich zu machen. Das Schlimmste daran sei, dass die Inder sich am Ende selbst mit dem kolonialen Aggressor identifiziert und dessen Weltbild übernommen hätten. Umso wichtiger sei es, dass sie zu ihren Wurzeln zurückfänden, und ihre authentische indische Persönlichkeit wieder entdeckten. In der indischen Tradition hofft er ein Gegenmodell zu einem dekadenten Westen zu finden, dessen Defizite er ähnlich beschreibt, wie modernitätskritische europäische oder amerikanische Autoren. Sein Idealbild des vorkolonialen Indien ist aber in Vielem von eben jenen Klischees geprägt, die die Kolonialherren selber geschaffen hatten – dieses Indien ist eher weiblich oder androgyn als männlich, auf wohltuende Weise chaotisch und vermeintlich frei von künstlichen hierarchischen Ordnungen. Vor allem sieht sich Nandy als Anwalt der Opfer von Unterdrückung berechtigt, seine eigenen historischen Mythen zu schaffen, empirische Forschung zählt da nicht mehr viel. 

Saids Orientalism

Das gilt durchaus auch für andere Vertreter des Postkolonialismus, bis zu einem gewissen Grade auch für Edward Said selber. Andreas Harstel macht in seinem Beitrag deutlich, wie sehr Said in seinem Buch Orientalism sich auf die englische und französische Orientwissenschaft und die Literatur dieser Länder konzentriert. Der wissenschaftlich durchaus bedeutsamen deutschen und österreichischen Orientalistik wird nur eine marginale Rolle zugewiesen. Das mochte auch Gründe der sprachlichen Zugänglichkeit haben, aber entscheidend war, dass Frankreich und England nach 1918 als Kolonialmächte den Nahen Osten und im Falle Großbritanniens besonders Saids eigene Heimat Palästina beherrschten, sie galt es daher anzuklagen.

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Dass deutsche Wissenschaftler oder Gelehrte der Habsburgermonarchie, wie der aus Ungarn stammende Ignaz Goldziher, einer der Begründer der modernen Islamwissenschaft, oft ein viel positiveres Bild der arabisch-islamischen Kultur zeichneten als ihre Kollegen aus Paris oder London, fiel damit unter den Tisch. Hier spielte natürlich auch eine Rolle, dass das kaiserliche Deutschland und die Habsburgermonarchie sich vor 1914 eher als Verbündete des Osmanischen Reiches verstanden und im I. Weltkrieg mit diesem zusammen gegen die westlichen Mächte kämpften. Aber das passt nicht in der Weltbild Edward Saids vom arroganten Westen. Hier ist zu berücksichtigen, das kann Harstel zeigen, dass Said Großbritannien die Schuld für die Entstehung des Staates Israel gibt, die er aus subjektiv verständlichen Gründen als große Katastrophe ansieht, weil die arabische Bevölkerung Palästinas von den neuen Herren verdrängt wurde. Diese spezifisch biographischen Hintergründe der Theorien Saids muss man aber entsprechend gewichten, wenn man seinen Ansatz bewerten will, und das geschieht eher selten.
Die Selbst-Demontage des Westens

Es bleibt natürlich die Frage, warum postkoloniale Theorien im Westen selbst oft so unkritisch rezipiert werden, auch in ihren fragwürdigen Aspekten, wenn zum Beispiel Maßnahmen der USA oder der europäischen Staaten, die darauf abzielen, ihre Grenzen gegen illegale Zuwanderung zu schützen, mit dem Holocaust verglichen und sogar auf eine Ebene gestellt werden, was faktisch auf eine massive Relativierung des Holocaust hinausläuft – eine Methode, die man einem Protagonisten eher rechter Bewegungen oder Parteien natürlich nie verzeihen würde; hier würden vielmehr solche Versuch sofort skandalisiert werden. Wenn es jedoch darum geht, den Westen aus der Position des globalen Südens anzuklagen, dann ist fast alles erlaubt, jeder Tabubruch.

Wie kann man das erklären? Das ist die Frage, die der Herausgeber Jan Gerber in der Einleitung zu dem Band stellt. Zurecht verweist er darauf, dass die westlichen Ländern sich ohnehin in einer Krise und im Niedergang befinden. Das Gewicht des Westens in der Weltwirtschaft ist in den letzten 40 Jahren kontinuierlich geringer geworden und namentlich Europa steht auch vor einer massiven demographischen Krise seiner jetzt schon stark überalterten Gesellschaften. Die Zukunft gehört eindeutig China (das allerdings seine eigenen demographischen Probleme hat) und Indien und eines Tages wohl auch Nigeria, Brasilien und Ländern wie Äthiopien und nicht den alten imperialen Hegemonialmächten des Westens. Also entwickelt sich eine gewisse Tendenz, so Gerber, sich  den Herren von morgen anzuschmiegen, um sich mit ihnen gut zu stellen, eine Art geistiges Stockholm-Syndrom.

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Die Linke und der Islam – verstrickt in der eigenen Ideologie
Ein weiterer Faktor tritt hinzu. Nicht mehr Helden sind die Identifikationsfiguren in den westlichen Gesellschaften, sondern Opfer. Eine weitgehend postheroische Kultur, die allerdings in Deutschland z. B. deutlich stärker ausgeprägt ist als in den USA hat einen Wettbewerb darum entstehen lassen, welche Opfererfahrung am meisten Gewicht hat, denn aus solchen Opfererfahrungen lassen sich in Einwanderungsgesellschaften Forderungen nach positiver Diskriminierung in Form von Quoten und auf globaler Ebene auch Ansprüche auf geldwerte Entschädigung ableiten. Da ist es dann wichtig, beim Kampf um die Anerkennung als Opfer nicht allzu viel Konkurrenz zu haben, andere Opfererfahrungen müssen daher relativiert werden. So erklärt es sich, dass koloniale Gewaltmaßnahmen, die in all ihrer Brutalität eben doch in den am häufigsten diskutierten Fällen nicht auf eine systematische Ausrottung ganzer ethnischer Gruppen ausgerichtet waren, gleichgesetzt werden mit einen gezielten Völkermord, wie das auch deutsche Historiker mit Blick auf die deutschen Kolonialkriege auf dem Gebiet des heutigen Namibia zum Teil tun.

Es geht diesen Historikern offenbar auch darum, sich als politische Aktivisten Anerkennung und Einfluss zu verschaffen, in einer Gesellschaft, die nur darauf wartet, dass man ihr erzählt, dass sie sich all ihrer Traditionen einschließlich des Erbes der Aufklärung entledigen kann, ja muss, weil alles vom Geist des Rassismus kontaminiert ist. Dass man durch so einseitige Geschichtsdeutungen freilich außerhalb des Westens und sogar im eigenen Land Kräften Vorschub leistet, die ihrerseits intolerante ethnische oder religiöse Ideologien verbreiten, ist einem dann gleichgültig. Man will sich ja in seinem Geschäftsmodell nicht stören lassen. Und ebenso blickt man über die nicht seltenen antisemitischen Tendenzen des neuen Postkolonialismus und Antirassismus großzügig hinweg. Unter diesen Bedingungen ist es Zeit für eine fundamentale Kritik an der postkolonialen Ideologie, für die der von Gerber herausgegebene Band zumindest einige wichtige Voraussetzungen schafft.

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