Tichys Einblick
Natürliche Zoonose oder Laborunfall?

Auf der Suche nach dem Ursprung von SARS-CoV-2

COVID-19 hält seit über zwei Jahren die Welt in Atem. Doch wo liegt der Ursprung des Virus und wie genau ist es entstanden? Die Mehrzahl der Fachleute und Medien vermutet eine rein natürliche Entstehung – ohne hieb- und stichfeste Beweise. Wie ein Kriminologe hat sich der Molekularbiologe Günter Theißen auf Spurensuche begeben.

Das Rätsel um den Ursprung von SARS-CoV-2 ist gelöst – das jedenfalls entnimmt man im März 2020 den Schlagzeilen. »Das Virus stammt nicht aus dem Labor.« »Forscher widerlegen Verschwörungstheorien.« »Coronavirus ist kein Laborprodukt.« Solche Aussagen finden sich in Publikationen, die nach allgemeiner Ansicht für Qualität stehen oder Autorität beanspruchen, von der Neuen Züricher Zeitung bis zur Apotheken Umschau und Ärzteblatt.de. Sie bleiben daher nicht ohne Wirkung in der Öffentlichkeit.

Teilweise lassen sich die Autoren dabei zu Äußerungen hinreißen wie: »Immer wieder versuchen Verschwörungstheoretiker vor allem im Internet falsche Spuren zu legen.« Oder: »Verschwörungstheorien zum Ursprung von SARS-CoV-2 halten sich hartnäckig. Jetzt haben Wissenschaftler jedoch nachgewiesen, dass der Erreger sich auf natürliche Weise entwickelte und nicht in einem Labor entstand.« Ich ärgere mich sehr, wenn ich so etwas lese. Denn erstens habe ich gegen die Gleichsetzung von Zweiflern an der natürlichen Zoonose mit Verschwörungstheoretikern mittlerweile eine psychosoziale Allergie entwickelt, und zweitens ist für mich das kritische Hinterfragen scheinbar wissenschaftlicher Wahrheiten kein Legen »falscher Spuren«.

Die Lage der Pandemie in Deutschland ist zu diesem Zeitpunkt äußerst ernst, Ende März 2020 steigen die Fallzahlen weiter an. Es ist ungewiss, wohin das alles führen wird. Der Ursprung des Erregers ist nach wie vor ungeklärt. Umso erstaunter bin ich über die zahlreichen Berichte, dass SARS-CoV-2 mit Sicherheit nicht aus einem Labor sein soll. Dann wird mir klar, was der Auslöser ist: ein Artikel, der zuvor im Fachmagazin Nature Medicine erschienen ist. Schon sein Titel klingt vielversprechend: The proximal origin of SARS-CoV-2. Zu Deutsch: Der unmittelbare Ursprung von SARS-CoV-2. Verfasst ist er von fünf Forschern um den dänisch-amerikanischen Immunologen und Mikrobiologen Kristian Andersen, der als Erstautor fungiert.

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Natürlich bin in unglaublich neugierig, was die Kollegen herausgefunden haben. Vor allem interessiert mich, wie sie beweisen können, dass SARS-CoV-2 nicht in einem Labor entstanden oder aus einem Labor entkommen ist. Die auffällige Nähe der Labore in Wuhan spielt in dem Artikel überraschenderweise jedoch gar keine Rolle. Vielmehr nehmen die Autoren das Virus selbst unter die Lupe. Um genauer zu sein: sein Erbgut. Im Fokus stehen dabei zwei Besonderheiten im Genom von SARS-CoV-2. Beide betreffen sein Spike-Protein, also jene markanten Stacheln auf der Hülle, mit denen SARS-CoV-2 in Zellen eindringt.

Die erste Besonderheit betrifft die Spitze des Spike-Proteins, mit der das Virus an Zellen andockt, wie eine Raumkapsel an einer Station im All. Wie die Kapsel kann aber auch das Virus nur an bestimmten, passenden Stellen andocken – den Rezeptor ACE2. Damit die Verbindung zur Zelle gut hält, sitzt auf dem Spike-Protein das Gegenstück zum Rezeptor, die sogenannte Rezeptorbindedomäne oder RBD. Und das ist die erste Auffälligkeit: Die RBD von SARS-CoV-2 passt erstaunlich gut auf den Rezeptor menschlicher Zellen. So gut, dass die Bindung um ein Vielfaches stärker ist als bei SARS-CoV-1 aus dem Jahr 2003.

Ebenfalls erstaunlich ist: Von keinem anderen Säugetier, auch nicht den Fledermäusen, ist bekannt, dass die Bindung so stark ist wie beim Menschen. Dabei gibt es so einige Tiere, die sich mit SARS-CoV-2 infizieren können: Nerze, Frettchen, Hamster, Hunde, Hauskatzen und Tiger, Löwen, Gorillas, der Südamerikanische Nasenbär, Otter, Tüpfelhyänen bis hin zu Weißwedelhirschen. Die RBD von SARS-CoV-2 scheint aber vor allem für menschliche Zellen wie geschaffen. Was seltsam ist, denn wenn das Virus unverändert aus dem Tierreich stammen soll, woher hat es dann diese Eigenschaft?

An dieser Stelle muss ich das Schuppentier erwähnen. Denn in diesem etwas merkwürdigen Insektenfresser wurden Coronaviren entdeckt, die SARS-CoV-2 verblüffend ähnlich sind. Anfang Februar hatten chinesische Wissenschaftler verkündet, dass das Erbgut der Tiere eine Ähnlichkeit von 99 Prozent aufweisen würde. Die Entdeckung sorgte für Aufsehen, weil sie auch das Rätsel um den fehlenden Zwischenwirt bei der Übertragung von SARS-CoV-2 auf den Menschen schlagartig lösen könnte, glaubte man damals. Das vom Aussterben bedrohte Malaiische Schuppentier (Manis javanica) wird in China schließlich wegen seines Fleisches und seiner Schuppen geschätzt, die als medizinisches Heilmittel gelten, und daher leider trotz Verboten immer wieder aus Südostasien ins Land geschmuggelt.

Anfang 2020 avancierte das im englischsprachigen Raum Pangolin genannte Tier zum Medienstar, weil es den Ursprung der Pandemie zu erklären schien. Mehrere Studien zum Pangolin-CoV wurden veröffentlicht. Doch bald machte sich Enttäuschung breit. Denn die angeblich große Ähnlichkeit zu SARS-CoV-2 bezog sich nur auf die RBD des Spike-Proteins. Insgesamt gleichen sich die Genome beider Viren aber nur zu 91 Prozent. Damit war klar, dass das Schuppentier-Coronavirus kein Vorgänger von SARS-CoV-2 sein kann, der Wunsch nach rascher Erklärung für den Ursprung von COVID-19 platzte.

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Nicht jedoch für Kristian Andersen und seine Kollegen, die den Artikel The proximal origin of SARS-CoV-2 verfassten. Denn für sie ist das Schuppentier-Coronavirus der Beleg dafür, dass SARS-CoV-2 auf ganz natürliche Weise entstanden. Es gibt noch eine zweite Besonderheit, die früh im Erbgut von SARS-CoV-2 aufgefallen war. Sie befindet sich ebenfalls am Spike-Protein, aber diesmal genau zwischen den beiden Untereinheiten, in die es sich aufteilen kann. Der obere Teil des Spike-Proteins ist für das Andocken zuständig. Sitzt er fest am Rezeptor, wird er abgetrennt. Das gehört zum Plan des Virus, denn der zuvor verborgene Teil liegt dann frei und kann eine entscheidende Verwandlung vollziehen. Es streckt sich, schießt wie eine Harpune in Richtung Zellmembran und bohrt sich in diese hinein. Dann wickelt sich das Spike-Protein wieder auf und zieht das Virus dadurch so nah an die Zelle heran, bis beide miteinander verschmelzen. Der Weg für das Erbgut des Virus ist nun frei, es wird in die Zelle katapultiert und setzt dort einen Mechanismus in Gang, der aus der Zelle eine Virusfabrik macht.

Aber damit das Spike-Protein sein Kunststück vollführen kann, muss es vorher durch zwei Schnitte an den richtigen Stellen aufgetrennt werden. Ein Schnitt erfolgt nach dem Andocken durch ein Enzym mit dem Namen TMPRSS2, das sich auf der Oberfläche menschlicher Zellen befindet. Ebenso wichtig ist ein anderer Schnitt, der jedoch gleich bei der Entstehung neuer Viren durch ein Protein namens Furin gemacht wird, bevor SARS-CoV-2 seine Geburtszelle verlässt. Dieses Scharfmachen der Spike-Proteine durch Furin wird als wesentlicher Grund für die hohe Ansteckungsfähigkeit von SARS-CoV-2 erachtet.

Jedenfalls zeigten Versuche an Frettchen, dass das Virus erheblich an Schlagkraft einbüßt, wenn die Furin-Schnittstelle – jener Teil des Spike-Proteins, an dem das Furin das Spike-Protein durchtrennt – nicht mehr da ist. Auch wird vermutet, dass durch Furin geschnittene Spike-Proteine benachbarte Zellen zum Verschmelzen zwingen können. Auf diese Weise entstehen mehrkernige Zellmonster, die große Mengen neuer Viren ausstoßen.

Doch so beeindruckend diese Furin-Schnittstelle bei SARS-CoV-2 auch ist, so ominös ist ihre Herkunft. An sich ist sie keine Seltenheit bei Viren, sie kommt etwa bei HIV, der Vogelgrippe und Ebola vor. Auch humane Coronaviren wie MERS, HKU1 und OC43 besitzen sie, allerdings sind sie mit SARS-CoV-2 nur entfernt verwandt. Die beide nächsten bekannten Verwandten, die SARS-ähnlichen Fledermaus-Coronaviren RaTG1319 und BANAL-52,20 haben allerdings keine Furin-Schnittstelle. In seiner gesamten näheren Verwandtschaft, den sogenannten Sarbecoviren, ist SARS-CoV-2 das einzige Virus mit einer Furin-Schnittstelle.

Das sind zunächst die Fakten. Sie werfen die berechtigte Frage auf: Wieso ist SARS-CoV-2 so ungewöhnlich aufgebaut? Denn sein Erbgut wirkt wie eine seltsame Neukombination (Rekombination) verschiedener anderer Viren, so dass ein wahrer Virus-Wolpertinger entstanden ist.

Es gibt zwei mögliche Gründe dafür. Der erste ist, dass das Erbgut des Virus sich auf natürlichem Wege durch bekannte Prozesse wie Mutation, Selektion, Rekombination oder genetischer Drift entwickelt hat. Die zweite Möglichkeit: SARS-CoV-2 erlangte seine besonderen Eigenschaften durch genetische Manipulation. Beides ist denkbar. Aber welche von beiden Möglichkeiten trifft zu?

Genau darauf glauben Kristian Andersen und seine Kollegen bereits im Frühjahr 2020 eine endgültige Antwort gefunden zu haben. Und sie machen es nicht sehr spannend. Nach nur wenigen Sätzen in ihrem Artikel The proximal origin of SARS-CoV-2 schreiben sie: »Unsere Analysen zeigen eindeutig, dass es sich bei SARS-CoV-2 nicht um ein Laborkonstrukt oder ein absichtlich manipuliertes Virus handelt.« (…)

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Erst mehr als ein Jahr später werde ich erfahren, dass Kristian Andersen aus den Auffälligkeiten im Erbgut von SARS-CoV-2 tatsächlich zunächst etwas ganz anderes gefolgert hatte. Am 31. Januar 2020 schrieb er eine erstaunliche E-Mail an den berühmten US-Immunologen Anthony Fauci, Berater von bislang sieben amerikanischen Präsidenten. Darin spricht Andersen von »ungewöhnlichen Eigenschaften des Virus«, die »(möglicherweise) künstlich hergestellt« aussehen. Das Genom sei aus seiner Sicht »unvereinbar mit den Erwartungen der Evolutionstheorie«. Doch nach einer Telefonkonferenz am folgenden Tag mit Fauci und anderen internationalen Experten, darunter auch Christian Drosten, änderte Andersen seine Meinung wieder. Er wurde vom Zweifler an der Zoonose-Hypothese zu deren Verfechter. (…)

Auch wenn es Kristian Andersen und seinen Kollegen nicht gelingt, mit ihrem Artikel The proximal origin of SARS-CoV-2 eine Entstehung durch eine natürliche Zoonose nachzuweisen und damit einen Ursprung im Labor zu widerlegen, wird das durch deren einseitige Interpretationen und die irreführende Berichterstattung in den Medien von der breiten Öffentlichkeit anders wahrgenommen. Seit März 2020 gilt es dank dem sogenannten Andersen-Paper als ausgemacht, dass SARS-CoV-2 auf natürlichem Wege entstanden ist. (…)

Diese Veröffentlichungen übertönen eine unvoreingenommene Debatte über den tatsächlichen Ursprung dieser immer weiter um sich greifenden Pandemie. Und jeder Forscher, der Zweifel äußert, findet sich nun unweigerlich in einer Ecke mit Verschwörungsgläubigen und anderen Radikalen – und natürlich dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump. Die wissenschaftliche Debatte wird auf eine Weise unterdrückt, die mich erschaudern lässt.

Doch was kann ich dagegen tun? frage ich mich. Denn soweit ich es Ende März 2020 sehe, wagt es kein seriöser Wissenschaftler, die nun als »wahr« geltende Zoonose-Hypothese öffentlich zu hinterfragen. Dabei gibt es mittlerweile ausreichend Grund, an ihr zu zweifeln. Auch wenn das Erbgut von SARS-CoV-2 keine Beweise für eine genetische Manipulation liefert, beinhaltet es doch so auffällige Besonderheiten, dass die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden muss. Und nicht zu vergessen die sonderbare Nähe der Labore in Wuhan zum Ort des Ausbruchs. Mir lässt das alles keine Ruhe. Und nachdem im April 2020 die Debatte um den Ursprung von SARS-CoV-2 immer mehr zum Erliegen kommt, beschließe ich, etwas dagegen zu unternehmen.

Prof. Dr. Günter Theißen, Molekularbiologe, ist Lehrstuhlinhaber für Genetik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Gekürzter und um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Günter Theißen, Das Virus. Auf der Suche nach dem Ursprung von COVID-19. Westend Verlag, Klappenbroschur, 176 Seiten, 20,00 €


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