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Applebaum erhellt Stalins Schattenreich

Das Standardwerk „Der Gulag“ der Historikerin Anne Applebaum liegt jetzt zum ersten Mal ungekürzt auf Deutsch vor. In einer öffentlichen Debatte mit schiefen historischen Parallelen und vielen Leerstellen ist diesem Werk über den kommunistischen Terror größtmögliche Verbreitung zu wünschen.

Die Amerikanerin Anne Applebaum, in diesem Jahr ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels, gehört zu den einflussreichsten Autorinnen der westlichen Welt. Ihre Werke passen nicht ganz in die Kategorie Sachbuch. ‘Politische Erzählung‘ wäre angemessener. Mit der Art und Weise, in der sie Vorgänge darstellt und deutet, gibt sie manchen Debatten die entscheidende Richtung. Mit „Twilight of Democracy“, deutsch: „Die Verlockung des Autoritären“ legte sie ein Buch vor über die Bedrohung der alten westlichen Ordnung, die sie mit dem Begriff ‘liberale Demokratie‘ fasst, durch die „autoritäre Versuchung“.

Diese Bedrohung beziehungsweise Verführung geht für sie allerdings nur von Figuren wie Donald Trump, Viktor Orbán und damals noch den Anführern der polnischen PiS aus. Dass eine orthodoxe bis totalitäre Neolinke viele Universitäten und andere Institutionen fest im Griff hält, dass so genannte Nichtregierungsorganisationen mit Hilfe finanzkräftiger Stiftungen eine unkontrollierte Macht ausüben, erwähnt die Autorin nur ganz am Rand. An der Zersetzung bürgerlicher Ordnungen tragen ihrer Ansicht nach ausschließlich populistische Aufsteiger die Schuld. Für sie stellt ein Donald Trump auch kein Symptom gesellschaftlicher Entwicklungen dar, sondern die mehr oder weniger ursachenlose Ursache eines Zerfallsprozesses.

Neben dieser konventionellen, aber einflussreichen Mustererzählung gibt es ein Werk Applebaums, dem man einen größtmöglichen Einfluss auf die öffentliche Debatte wünschen muss: „Der Gulag“, ausgezeichnet mit dem Pulitzerpreis, erschien 2024 noch einmal auf Deutsch. Jeder weiß mit den Ortsbezeichnungen Auschwitz und Treblinka etwas anzufangen. Aber trotz Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ kann kaum jemand auch nur die bekanntesten sowjetischen Lager nennen.
Die Solowezki-Inseln, Workuta, Perm und Magadan gehören bis heute zu einem politisch unkartierten Gebiet. Mit Heinrich Himmler und Adolf Eichmann verbinden selbst historisch Geringgebildete vage Vorstellungen. Aber wer waren Naftali Frenkel, Nikolai Jeschow und Genrich Jagoda?

Dass der Schatten Hitlers heute über allem rechts der Mitte hängt und bizarre Zerrbilder erzeugt, während ein auch nur annähernd ähnlicher historischer Schatten für die gesamte Linkssphäre schlicht nicht existiert, prägt die politischen Kämpfe überall im Westen. Ohne diese Konstellation wäre die ungeheure moralische Aufladung der alten wie der Neolinken nicht möglich.

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Applebaums „Gulag“, ein in zehn Jahren mit Archivrecherche und Anhörung von Zeitzeugen zusammengetragenes Standardwerk, kann diese Ignoranz zwar nicht beseitigen, aber erschüttern. Gleich zu Beginn erinnert Applebaum daran, dass sich das letzte Lager des Gulagsystems, Perm-36, noch bis 1992 in Betrieb befand. Es geht in ihrem Buch also nicht um längst erkaltete, sondern nur etwas abgekühlte Geschichte.

Das Straflagersystem, dessen Grundstein die siegreichen Bolschewiki schon 1917 legten, stellte trotz der langen russischen Gewaltgeschichte etwas historisch Neues dar. Verbannungslager existierten schon in der Zarenzeit, aber in einem sehr viel kleineren und milderen Ausmaß. „Im Jahr 1906“, schreibt Applebaum, „gab es circa sechstausend Verurteilte, 1916, am Vorabend der Revolution, waren es 26 600.“

Zwangsweise siedelte das Zarenreich zwischen 1824 und 1889 zwar 720 000 Menschen nach Sibirien um, um das vorher fast menschenleere Land zu erschließen. Die meisten dieser Unglücklichen konnten allerdings mit ihren Familien in ärmlichen Siedlungen leben. Das kommunistische Lagerreich wuchs nicht nur schnell zu einer ganz anderen Größe heran, es diente auch nicht in erster Linie dazu, Sklavenarbeit zu organisieren. Sondern es diente als Formungsinstrument für eine Ordnung neuer Art. Und das von Anfang an. Applebaum zitiert eine Weisung Lenins von 1918, der als Reaktion auf einen lokalen Aufstand gegen die bolschewistische Herrschaft an die dortigen Kommissare schrieb: „Sperrt die Unsicheren in ein Konzentrationslager.“

Als „unsicher“ galt den neuen Machthabern anders als im Zarenreich jeder, der nicht ausdrücklich auf ihrer Seite stand. Stalin erweiterte den Feindeskreis lediglich, indem er auch treue, ja fanatische Diener des Systems verfolgen und ermorden ließ. Solschenizyn beklagte zurecht, dass bei Anbruch des nachstalinistischen Tauwetters vor allem diese kommunistischen Opfer des Gulags zu Wort kamen, weshalb sich der Eindruck festsetzte, die Verfolgung hätte vor allem ihnen gegolten. In Wirklichkeit bildeten sie nur eine kleine Gruppe unter den Inhaftierten und Getöteten.

Das Gulag-Imperium lag in den Händen der Tscheka, der „Außerordentlichen Kommission“, deren Name betonte, dass hier weder Rechtsvorstellungen galten, wie sie das reformierte Zarenreich kannte, noch die Deklamationen von Menschenwürde und Gerechtigkeit in kommunistischen Reden und Schriften. Wer in eins der Lager eintrat, dessen Leben unterlag ausschließlich dem, was Mitarbeiter der Tscheka für angemessen hielten.

Die totale Willkür bedeutete allerdings nicht, dass es keine Ordnung gab. Einen längeren Exkurs widmet Applebaum einem der monströsesten Menschen des an furchtbaren Figuren wirklich nicht armen 20. Jahrhunderts: Naftali Frenkel. Der 1883 in Haifa geborene und erst in den Zwanzigern in die Sowjetunion gekommene Kaufmann landete wegen seiner kapitalistischen Handelstätigkeit zunächst selbst im Lager, tat sich dort mit Vorschlägen zur effizienteren Organisation hervor, und schuf damit aus den relativ chaotischen Anfängen die Art Lager, in deren Mittelpunkt die Vernichtung durch Arbeit stand.

Als schnell aufgestiegener Verantwortlicher für alle Gulags im karelischen Gebiet teilte er die Häftlinge in drei Gruppen: geeignet für schwere Arbeit, für leichte Arbeit und für Arbeit ungeeignet, die „Invaliden“. Für diese Kategorien legte er jeweils die Verpflegungsrationen fest, was in der Praxis den „Invaliden“ fast jede Überlebenschance nahm. Zum anderen setzte er die Normen so hoch an, dass sich auch viele der überhaupt einigermaßen verpflegten Häftlinge buchstäblich zu Tode arbeiteten.

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Mit Detailfülle belegt Applebaum, wie gering der wirtschaftliche Nutzen des Gulagsystems für das Regime trotzdem ausfiel. Sämtliche Arbeitsgeräte, mit denen beispielsweise zehntausende Zwangsarbeiter den Weißmeerkanal bis 1933 errichteten, hatten sie selbst herzustellen, von primitiven Holzschaufeln und Hacken bis zu Gerüsten. Sie schufen unter ungeheuren Menschenopfern ein Bauwerk, das ein Bruchteil gut verpflegter freier Arbeiter besser gegraben hätte. Wegen seines geringen Tiefgangs von gerade vier Metern konnten Hochseeschiffe ihn nicht passieren, was die Wasserstraße weder ökonomisch noch strategisch bedeutsam machte.

Der Sinn des Systems, das Millionen Menschen durchliefen, und in dem Millionen einen meist namenlosen Tod starben, lag in der totalen Unterwerfung der sowjetischen Gesellschaft, ab 1940 auch der okkupierten baltischen Staaten. Die Botschaft lautete, dass es jeden treffen konnte. Das, was an Informationen über die Lager durchsickerte, überzeugte alle Kreise und Milieus der Bevölkerung davon, dass der sofortige Erschießungstod – während der großen Säuberung, der „Jeschowschtschina“ zehntausendfach verhängt – noch nicht zum schlimmstmöglichen Schicksal gehörte.

Stalin, der das Lagersystem von Lenin übernahm und zu seinem Werkzeug machte, verfolgte damit nicht das Ziel, einen bestimmten Teil der Bevölkerung auszulöschen. Diesen Unterschied zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern stellen alle Historiker heraus, auch Applebaum. Doch es finden sich etliche Parallelen; beispielsweise beschreibt die Autorin anhand von Dokumenten und Zeitzeugenberichten, dass ein erheblicher Teil der hungernden Häftlinge schon den Transport in überfüllten Güterwagen zu den Lagern nicht überlebte. Sie zitiert aus Dokumenten, in denen Funktionäre zu hohe Todesraten bei den Transporten rügten, nicht aus Mitleid, sondern weil sie solche Vorkommnisse als Verschwendung von Arbeitskraft einstuften.

Andererseits hielten sie die Arbeitskräfte wiederum nicht für so wertvoll, dass sie die Bedingungen durchgreifend verbesserten. Die hohen Todesraten in den Waggons und den Lagern selbst gehörten zum Kalkül. Die Gulags töteten anders und aus anderen Motiven als die deutschen Todeslager. Die Gesamtzahl ihrer Opfer lag aber höher, erstens wegen der Ausdehnung des Gulag-Imperiums, aber vor allem wegen seiner Dauer. Zwischen 1930 und 1953 durchliefen schätzungsweise 18 Millionen Menschen das Gulag-System.

Aus dem außerordentlich gründlichen, quellenreichen, auf 736 Seiten angelegten sowie mit zahlreichen Illustrationen versehenen Werk erfährt der Leser auch, warum die neue Sowjetführung nach Stalins Tod 1954 die ersten Schritte unternahm, um die Straf- und Todesmaschinerie zu demontieren: Damals schafften sie die Sonderlager ab, führten den Acht-Stunden-Tag für die Lagerarbeit ein, erlaubten den Häftlingen, Briefe zu schreiben und den Angehörigen, auch Päckchen zu schicken.

Der Grund für die Lockerung lag in der Ökonomie: Wie die Gulag-Funktionäre in einer Revision feststellten, schürften ihre Gefangenen zwar Gold, Nickel und viele andere Rohstoffe, sie stellten Industriegüter her, es gab sogar ein Lager in Moskau, in dem hoch qualifizierte Gefangene Flugzeuge konstruierten – aber obwohl das gigantische Reich Schätze lieferte und die Arbeitskräfte ihm nie ausgingen, deckte sein Ertrag nicht annähernd die Kosten von Apparat inklusive Wachmannschaften, geschweige denn, dass die Gulags die Staatskasse füllten. Das System vernichtete Menschen, Ressourcen, Glück und tausende Jahre an Lebenszeit. Es produzierte nur eins: relative Stabilität für eine Ordnung, die ausschließlich ihren Funktionären und dem einen oder anderen privilegierten Intellektuellen etwas bot.

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Applebaum beschreibt die Entstehung des Gulags, seinen Höhepunkt und seinen allmählichen Verfall im „Tauwetter“ der Chruschtschow-Zeit; sie dokumentiert auch, mit welcher Grausamkeit selbst die abgemilderte Lagermaschinerie noch in den siebziger Jahren Menschen brach. Nie gab es einen Prozess gegen die Verantwortlichen, denn das hätte bedeutet, ehemalige und noch aktive Spitzenfunktionäre der Kommunistischen Partei zuallererst vor Gericht zu stellen. Niemals kam wenigstens so etwas wie eine Wahrheitskommission zusammen, wie es sie in Südafrika gab.

Der Terror gegen die eigene Bevölkerung und unterworfene Völker endete nicht in einem großen Zusammenbruch. Er lief in immer flacheren Wellen aus. Warum es in Russland nie eine aufklärende Auseinandersetzung über die totalitäre Vergangenheit gab (um den abgenutzten Begriff „Aufarbeitung“ einmal zu vermeiden), erklärt die Historikerin plausibel: Nicht nur die Elite wollte so etwas unbedingt vermeiden, denn die meisten ihrer Mitglieder stammten nach dem Zusammenbruch des Staates aus dem Milieu der alten Herrscher.

Es gab auch in der russischen Bevölkerungsmehrheit keinen Willen dazu: Dort galt und gilt die Sowjetära als ärmliche, aber immerhin imperiale Zeit. Als das alte Staatswesen 1991 in die Grube fuhr, nahm es seine mörderische Geschichte gewissermaßen mit sich. Ein großes öffentliches Gespräch über die Verbrechen, meint Applebaum, komme deshalb vielen Russen so vor, als würde man „übel über einen Toten reden“. Um mit Kafka zu reden: „Die Wunde schloss sich müde.“

In ihrem Buch „Twilight of Democracy”, siehe oben, fehlen die linksautoritären Regierungen in Mexiko, Nicaragua und Venezuela, die Hamas-Bewunderer im Westen und die bis ins politisch-mediale Zentrum vorgerückten Rufe nach Meinungskontrolle und Exklusion „falscher” politischer Bewegungen nicht einfach. Es handelt sich um ein ausführliches Umgehungsmanöver.

Applebaums „Gulag“ steht als gut erzähltes Standardwerk für sich. Aber sein Leser kann auch mühelos an Gegenwartsphänomenen bei allen Unterschieden und Abstufungen im Detail die Verbindungslinien zu dem beschriebenen kommunistischen Terror erkennen, die auf einen gemeinsamen Punkt zulaufen: die Überzeugung, jeden vermeintlichen oder echten Feind des deklaratorischen Fortschritts der halluzinierten Gerechtigkeit bekämpfen zu dürfen, ohne sich dabei irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen.

Das Buch arbeitet gleichzeitig das Spezifische heraus: Auch ein Hugo Chávez ist eben kein Stalin, sein Geheimdienstchef kein Jagoda. Aber zu dieser Feststellung gehört ein komplementärer Teil, der lautet: Es ist genauso grotesk, einen Donald Trump, einen Viktor Orbán und einen Björn Höcke ernsthaft auf eine Ebene mit Hitler und Himmler zu stellen. Neben der Geschichte des Nationalsozialismus muss in Zukunft die Bewusstmachung des kommunistischen Totalitarismus stehen. Erst beides zusammen ergibt eine historische Wahrheit. Und erst diese Doppelperspektive verhindert die Banalisierung des einen wie des anderen.

Anne Applebaum, Der Gulag. Neuausgabe – erstmals in ungekürzter Fassung – mit einem neuen Vorwort der Autorin,  Pantheon, Klappenbroschur, 736 Seiten, 22,00 €.


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