Es war einmal eine Kultur. In ihrem Mittelpunkt standen lange Zeit ihr Gott und dann der Mensch. Ihre Vertreter und Verfechter wollten das Leben verstehen. Sie erforschten die Welt mit Neugier und in Demut. Wo sie unwissend blieben, suchten sie weiter. Wo sie irrten, korrigierten sie den Kurs. Ihr Anspruch war, die Realität zu erfassen. Widersprüche im Denken und Reden verstanden sie als Anzeichen für einen Fehler. Friedlich im Einklang mit anderen zu leben, galt ihnen als erstrebenswertes Ideal. Wo Konflikte sich partout nicht beilegen ließen, empfahlen sie, einander aus dem Weg zu gehen. Es war die Kultur der Aufklärung, der Wissenschaft und der Technik. Eine Kultur der Menschenrechte und des Rechtsstaates. Eine Kultur, der immer besser zu gelingen schien, Hunger und Kälte und Schmerz und Leid und Streit und Zwist und Krieg von der Erde zu verbannen. Es war die Kultur Europas, die zur Kultur des Westens wurde.
Es war eine Kultur, deren Erkenntnisse weite Teile der Welt übernahmen und von deren Abirrungen sie lernten. Es war eine Kultur nicht nur des Wissens und Könnens, sondern auch eine der Kunst und der Schönheit. Es war von allen Kulturen, die der Planet bislang sah, wohl keinesfalls die schlechteste. Denn diese Kultur des Westens bescherte ihren Gesellschaften auch ungesehenen Wohlstand und damit die Möglichkeit, gleichsam durch ein Leben tanzen zu können, statt kriechen und klettern, ackern oder buckeln zu müssen. Doch wenn ein Tänzer sich zu sehr an seinen beeindruckend wagemutigen Sprüngen berauscht, dann beginnt er, bald auch Figuren aufzuführen, deren Grundlage und Grenze nicht mehr die Schwerkraft ist. Seine Vorstellungen von dem, was er will, und dem, was tatsächlich geht, klaffen plötzlich auseinander. Seine Sinnesorgane arbeiten nicht mehr als Vermittler zwischen seiner Welt und seinem Denken. Wenn er sich also nicht mehr in der Realität weiß, sondern nur noch in ihr wähnt, ist klar, was folgt: der Sturz.
Der wesentliche Wert dieses offensichtlich sehr, sehr mutigen Buches besteht allerdings weniger noch in der bloßen Auflistung von Widersprüchen und Inkompatibilitäten innerhalb jeder dieser Säulen. Der größte Erkenntnisgewinn liegt darin, dass Murray die Wesensgleichheiten aufzeigt, die jede dieser ideologischen Massenbewegungen prägen: Homosexuelle wollen nur so lange Heterosexuellen gleichgestellt werden, wie es ihnen nutzt, Bevorzugungen werden gerne akzeptiert. Frauen mögen, was sie „sexy“ erscheinen lässt, es sei denn, sie sehen einen Vorteil im Vorwurf, sexualisiert worden zu sein. Amerikaner, deren Großeltern aus Afrika in die USA einreisten, wollen nicht mit Afrikanern gleichgemacht werden, die eben erst selbst einwanderten. Transsexuelle wollen Rechte für sich reklamieren, die Feministinnen für Frauen erstritten haben, doch Frauen protestieren vehement gegen die Vorstellung, durch chirurgische Eingriffe an der „Hardware“ eines Menschen könne seine tatsächliche „Software“ neu ausgerichtet werden. Kurz: Das intellektuelle Desaster aus der Vermischung und Vermengung von Gleichberechtigung und Gleichstellung hat die Politik und die Massen und die Medien mit voller Wucht erreicht.
Ein gesellschaftlicher Diskurs über derlei Herausforderungen für das Denken wäre nun für sich gesehen alles andere als ein Drama. Er wäre schlicht eine Herausforderung für alle Beteiligten, sich den anstehenden Fragen zu stellen und – in guter kultureller Tradition des rationalen Westens – emsig Widersprüche zu beseitigen. Dieser Lösung steht jedoch inzwischen ein machtvoller Widersacher entgegen: der zeitgenössische Kulturmarxismus, dem Murray mit gutem Grund schon früh bei seiner Beschreibung einen Platz zur Erläuterung einräumt. Einer kritischen Masse von Akteuren ist gelungen, sich in den universitären Einrichtungen des Westens zu verbreiten und einen „ideologischen Knick in der akademischen Welt“ zu verursachen. Mit unverständlichen Lehren und Texten haben sie geschafft, eine Vielzahl von Studenten in eine prinzipienlose intellektuelle Verwirrung zu stürzen, in deren heillos verknotetem Mittelpunkt die Idee lebt, es gelte, verborgene Machtverhältnisse zu erspüren und sie unter allen Umständen zu dekonstruieren. Im Fokus dieser Entmachtung steht der alte weiße Mann, dem es zu Lande, zu Wasser und in der Luft entgegenzutreten gelte.
In der Ära des Postintellektualismus ist Kontrafaktizität ein Vehikel der neomarxistischen Dekonstruktion. Die Idee, Widersprüche müssten beseitigt werden, ist überholt, denn die Wut, die sich aus ihnen generieren lässt, bildet den Treibstoff für das kulturzerstörende Projekt. Dem Reverso-Rassismus, der arglos Unwissende zu seinem „menschlichen Rammbock“ im Machtkampf machen will, wird man – fürchte ich – nicht alleine mit Großmut oder Hannah Arendtscher Vergebung entgegentreten können. In der globalen Allgegenwart des Internets lässt sich einander nämlich nur schlecht aus dem Weg gehen. Immerhin schält sich der zum Exzess getriebene Natur- und Umweltschutz heute immer deutlicher als das heraus, was er in Wahrheit ist: eine neomarxistische Methode, der gewachsenen Wohlstandskultur des Westens mit dem Anschein größter Menschenliebe entgegenzutreten.
Ob dem global-medialen Neo-Klerus aus Aktivisten, Journalisten, Politdarstellern und Staatsschauspielern auf dem Ticket seines Öko-Alarmismus tatsächlich gelingen wird, die billig und gerecht Denkenden, die Sanftmütigen und die, die einfach ihre Ruhe haben wollen, erneut in ein episches Chaos zu stürzen? Schweigen und Wortewägen ist jedenfalls keine Lösung. Denn die Dekonstrukteure verstehen sowieso, was sie wollen. Es geht um Macht. Nicht um Logik. Nicht um Moral. Emotionen sind ihr Vehikel. Die Kultur des Westens muss dagegen verteidigt werden. Douglas Murray hat einen wichtigen Beitrag dazu geliefert. Lassen wir ihn nicht alleine.
Carlos A. Gebauer ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht und freier Publizist. Sein Beitrag ist zuerst hier erschienen.