Wie konnte aus Helmut Kohls »Mädchen« die mächtigste Frau der Welt werden? Um diese Frage zu beantworten, muss man beim Äußerlichen anfangen, nämlich ihrer Unauffälligkeit. Angela Merkel hat vor allem eines nicht: Charisma. Deshalb hat man sie von Anfang an unterschätzt. Als sich dann, nach ihrer erstaunlich dauerhaften Selbstbehauptung an der Machtspitze, weder die Politiker noch die Journalisten weiter trauten, sie als »Mädchen« zu belächeln, wurde sie Deutschlands »Mutti«. Aber auch durch diese ironisch-respektvolle Umetikettierung änderte sich das Entscheidende nicht. (…)
Die Mutti eines neuen Biedermeiers
Am Beginn ihrer politischen Karriere war Angela Merkel nicht nur eine uninteressante Erscheinung, sondern geradezu auffallend unauffällig. Ihr Image hatte deshalb nur zwei Entwicklungsdimensionen: Fleiß und Selbstbeherrschung. Dass dies von den Deutschen als authentischer, überzeugender Auftritt empfunden wurde, kann man aber nur verstehen, wenn man sich daran erinnert, gegen wen sich das Pfarrhausmädchen aus der DDR durchgesetzt hat. Angela Merkel hatte das Glück, einen doppelten Kairos zu erwischen. Zum einen gab es mit dem Spendenskandal der CDU die unverhoffte Möglichkeit, den Koloss aus Oggersheim zu stürzen. Zum anderen hatte die Agenda 2010 die rot-grüne Regierung in eine Krise gestürzt.
Durch diese Krise wurden zwei Figuren demontiert, die bisher souverän die politische Szene beherrschten. Gerhard Schröder und Joschka Fischer waren Glamour-Boys mit männlichem Sex-Appeal, denen das Regieren Spaß machte. (…) Angela Merkel war die exakte Gegenfigur zu diesen Machos (…). Nach den Rock’n’Rollern und Streetfighting Men kam die Mutti eines neuen Biedermeier. (…)
Dafür gibt es ein interessantes Symptom. Wenn wir davon ausgehen, dass in der Medienwirklichkeit der Auftritt, die Performanz zählt, dann muss sich unsere Aufmerksamkeit auf Merkels berühmte eingefrorene Geste richten: die Raute. De facto resultiert sie aus dem Versuch, einen stabilen Platz für die Arme zu finden, mit denen sie nichts anzustellen weiß. Mittlerweile aber ist sie zum weltweit bekannten Symbol geworden. Für was? Für Ruhe und Kraft, Harmonie und Zusammenführung, Besonnenheit und Status quo – you name it!
Wille zur Macht und alternativlose Politik
Für die CDU war die Raute schließlich das Nonplusultra des Wahlkampfs. Aber man kann in Angela Merkels Raute auch eine Demutsgeste sehen, die ihren Machiavellismus verdeckt. Und aus dieser Perspektive können wir schon eine erste Antwort auf unsere Ausgangsfrage geben: Der Aufstieg von Kohls »Mädchen« zur mächtigsten Frau der Welt ist deshalb so verblüffend, weil man Angela Merkel aufgrund ihres bescheidenen, unprätentiösen Auftretens eines am allerwenigsten zugetraut hätte: einen gewaltigen Willen zur Macht.
Demokratie muss man üben, und Menschen, die in der freien Welt aufgewachsen sind, haben gute Chancen, sie von Kindesbeinen an zu lernen. Aber Angela Merkel hatte vor ihrem Sprung in die westdeutsche Politik nur unter der SED-Diktatur gelebt. Da konnte sich Freiheitsverlangen bilden, aber kein alltägliches Demokratieverständnis. Demokratie hat sie sich buchstäblich angelesen. Ihre analytische Schärfe und ihre Durchsetzungskraft werden ja weltweit bewundert, aber sie gehen mit der autoritären Attitüde einher, stets die absolut richtige Entscheidung getroffen zu haben. Wer das in Zweifel zieht, wird aus dem Verkehr gezogen oder mundtot gemacht. Diese Rhetorik der Alternativlosigkeit hat für viele Menschen natürlich einen Entlastungseffekt. Man muss nur Mutti folgen, dann ordnet sich die Welt. (…)
Es ist Merkels größte Stärke, ihre Schwächen in Stärken verwandeln zu können. Wie geschickt sie ihre Unscheinbarkeit als Statement von Sachlichkeit und Glaubwürdigkeit inszeniert, haben wir bereits gesehen. Ähnliches gilt für eine weitere Schwäche, die für einen Politiker eigentlich fatal sein müsste: Angela Merkel kann nicht gut reden. Max Weber hatte ja noch die Vorstellung, Politik sei Kampf, und dieser Kampf werde als Redeschlacht im Parlament ausgetragen. Davon haben wir uns mit der Pfarrerstochter aus der DDR unendlich weit entfernt. Doch wie kann man aus der Schwäche, nicht gut reden zu können, eine Stärke machen? Die Antwort findet sich bei dem antiken Philosophen Sokrates. Er hat die Rhetorik der Antirhetorik erfunden: Ich kann nicht gut reden, ich kann nur die Wahrheit sagen. Und genau so präsentiert sich Angela Merkel. Zu ihrem Kult der Einfachheit gehört auch das Schweigen als Waffe. Es erstickt jede Debatte im Keim – ob innerparteilich, parlamentarisch oder kulturell. Viele empfinden dieses neue Biedermeier als durchaus angenehm. Mutti schwebt über den Parteien und behält mit der Raute das letzte Wort. (…)
Der Mythos der nüchternen Naturwissenschaftlerin
Auf der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis von Angela Merkel stoßen wir schließlich auf den Mythos von der nüchternen Naturwissenschaftlerin. Dass sie an der Karl-Marx-Universität in Leipzig zur Physikerin ausgebildet wurde und heute mit einem Physikochemiker verheiratet ist, weckt die Erwartung von Sachlichkeit und analytischer Intellektualität. Und tatsächlich steht sie zunächst für eine durchaus ideenfreie Politik des Opportunismus und der »resilience«. Man muss wohl beide Begriffe angesichts der Komplexität der politischen Welt mit einem positiven Vorzeichen versehen, denn Opportunismus ist ja eigentlich nur der Sinn für die günstige Gelegenheit, die rechtzeitig zu ergreifen gerade den guten Politiker ausmacht. Und »resilience« ist der nicht elegant übersetzbare englische Begriff für die Fähigkeit, auf Unvorhergesehenes geistesgegenwärtig und elastisch zu reagieren. Es spricht also vieles für Charles Lindbloms Definition der Politik als Wissenschaft vom Sichdurchwursteln. Dass man nur »auf Sicht« fahren kann und die »Visionen« besser den Propheten überlässt, hat Angela Merkel anfangs überzeugend verkörpert.
Doch alles änderte sich am 11. März 2011 mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima. Fügen wir hier gleich hinzu, dass schon zuvor und verstärkt dann 2012 in Griechenland Merkel aufgrund ihrer Euro-Politik mit Hitler verglichen wurde. Beides muss sie traumatisiert haben. Denn von nun an startet sie ihre Alleingänge in Europa, ja in der Welt – ein Alleingehen, das natürlich als Vorausgehen interpretiert wird. Mit der »Energiewende« nach Fukushima und der »Willkommenskultur«, die mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gebracht hat, sind zwei emotionale Großentscheidungen gefallen, die unser Land in unabsehbarer Weise verändern werden.
Müssen wir daraus schließen, dass wir die einzig Guten sind, der Rest der Europäer aber herzlos ist?
Man müsste tief in der deutschen Nachkriegsseele loten, um zu erklären, warum diese emotionalen Großentscheidungen fast widerstandslos akzeptiert wurden. Was sie Merkel politisch gebracht haben, ist allerdings leicht zu sagen. Mit der »Energiewende« hat sie das stärkste grüne Oppositionssymbol »Atomkraft? Nein danke« aus der Welt geschafft. Und mit der »Willkommenskultur« hat sie sich an die Spitze der Gutmenschenbewegung gesetzt. Die asexuelle Physikerin entpuppt sich als Mutter Teresa. Dass sie genau das kommunizieren will, machen die berühmten Selfies mit Flüchtlingen klar. (…)
Natürlich gab es auch kritische Stimmen, aber sie waren in den Mainstream-Medien kaum öffentlichkeitswirksam. Die politische Korrektheit hat sie von Anfang an als »rechtspopulistisch« marginalisiert (…). Dennoch ist es erstaunlich, dass auch die prominenteste dieser kritischen Stimmen kaum Gehör fand. Auf Veranlassung des Freistaats Bayern legte der Verfassungsrechtler Udo di Fabio ein Gutachten vor, das Merkels Politik fortdauernden Rechtsbruch bescheinigt. Indem sie die in Ungarn befindlichen Flüchtlinge nach Deutschland schleuste, setzte Angela Merkel das Dublin-Verfahren der EU und eine wirksame Kontrolle der eigenen Landesgrenzen außer Kraft. Als hätte die Pfarrerstochter über die Realpolitikerin gesiegt, galt humanitaristische Moral mehr als Verfassungsrecht.
Wir können dahingestellt sein lassen, ob di Fabios Gutachten zutreffend ist oder nicht. Viel wichtiger ist in unserem Zusammenhang die Frage, warum dieser gravierende Vorwurf des Rechtsbruchs keine ernsthafte öffentliche Diskussion auslöste. Warum ließen sich die Massenmedien die Chance einer Skandalisierung entgehen? Die Antwort kann man an ähnlichen, aber kleinformatigeren Fällen ablesen, zum Beispiel Manfred Stolpe, der mit seiner Stasi-Vergangenheit konfrontiert wurde, und Joschka Fischer, dem man die aktive Teilnahme an gewalttätigen studentischen Demonstrationen nachweisen konnte. Der Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger hat sehr schön gezeigt, dass die Skandalisierung in diesen Fällen scheiterte, weil ihr die politischen Interessen der Journalisten selbst im Weg standen. Das gilt eben auch für Angela Merkel. Sie repräsentiert die humanitaristischen Positionen der meisten Journalisten. Dafür gibt es weltweit Beifall, der allerdings von Heuchelei kaum zu unterscheiden ist. Wer hierzulande naiv genug ist, sonnt sich seither in dem Wohlgefühl: Wir sind Weltmeister im Guten.
Gekürzte Fassung des Beitrags von Norbert Bolz, der unter dem Titel „Merkels Erfolgsgeheimnis. Über den autoritären machtpolitischen Stil der Kanzlerin“ erschienen ist in:
Philip Plickert (Hg.), Merkel. Eine kritische Bilanz. Seit Juli 2021 erhältlich als erweiterte und aktualisierte Neuausgabe mit dem Untertitel „Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft“, FBV, 320 Seiten, 18,00 €.