Wer lange in mächtigen und sichtbaren öffentlichen Ämtern ist, wird unvermeidlich zur Projektionsfläche für Bewunderung und Abneigung gleichermaßen und kann häufig als Person von dem Image, das auf ihn projiziert wird, nur noch schwer getrennt werden. Das gilt verstärkt für Angela Merkel, die mächtigste Frau im Land mit einer Amtszeit von bald 16 Jahren – länger als Konrad Adenauer und ebenso lang wie Helmut Kohl.
Die Entwicklung des Meinungsklimas in einer Gesellschaft ist ein komplexer Vorgang mit einer politischen, soziologischen, demografischen und psychologischen Dimension. Auch in einer Demokratie prägen politische Machthaber bis zu einem gewissen Grad das Meinungsklima, aber sie reflektieren es auch. Es gehört zum Wesen einer Demokratie, dass die gewählten Führer auch deshalb gewählt wurden, weil sie den herrschenden Stimmen in der Bevölkerung und den Medien besonders nahe waren.
Angela Merkel kam 2000 durch eine Reihe historischer Zufälle und durch ihr eigenes Geschick an die Spitze der CDU, die damals die große Volkspartei der rechten Mitte war. Rechts von der Union hatten allenfalls politische Splittergruppen Platz. Als Parteivorsitzende und Kanzlerin erschloss Angela Merkel der Union im traditionell sozialdemokratischen Milieu der linken Mitte neue Wählerschichten. Für viele Wähler der SPD und der Grünen wurde sie durch ihre Politik und die von ihr besetzten Themen zur Kanzlerin der Herzen. Das erklärt ihre ungebrochen hohe persönliche Popularität auch in der Spätphase ihrer Kanzlerschaft.
Beim Ausstieg aus der Kernenergie, in der Europapolitik, bei der Flüchtlingspolitik sowie in Fragen von Einwanderung und Asyl wurde in den letzten Jahren eine Tendenz zur moralischen Überhöhung politischer Standpunkte immer deutlicher. Besonders kontrovers und konfliktbeladen war dies 2015/16 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als Horst Seehofer – damals noch bayerischer Ministerpräsident – von der »Herrschaft des Unrechts« sprach.
Ein Ergebnis der durch Angela Merkels Politik bewirkten Linksverschiebung der Union ist der Aufstieg der AfD. Egal ob man diese Partei für konservativ, rechtspopulistisch, rechtsradikal oder gar rechtsextrem hält – es bleibt die Tatsache, dass sie einen stabilen Wähleranteil von 10 bis 11 Prozent hat und Wähler anzieht, die früher zu Hause blieben oder Die Linke, SPD oder die Union wählten.
Wahrscheinlich ist es richtig, dass die Union die Stimmen der AfD-Wähler nicht einfach wieder zurückbekommt, indem sie sich stärker den von der AfD besetzten Themen zuwendet. Es ist aber auch richtig, dass sie dieses Potenzial nicht vernachlässigen kann, wenn sie je wieder ohne die Unterstützung von SPD oder Grünen regieren möchte. Die CDU steckt hier in einer ähnlichen Falle wie die SPD: Deren »Abspaltungen« – Die Linke und die Grünen – haben die SPD im Verlauf einiger Jahrzehnte zumindest auf Bundesebene dauerhaft zum Juniorpartner degradiert. So weit ist es mit der Union noch nicht gekommen, aber in Baden-Württemberg wird die Rolle des Juniorpartners schon einmal geübt, und das bereits in der zweiten Legislaturperiode.
Das Dilemma des Erbes und der Nachfolge
Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat seit ihrer Wahl ins Amt im Jahr 2000 bis zu ihrem Verzicht auf eine erneute Kandidatur 18 Jahre lang einen schleichenden Niedergang der Partei verwaltet. Die Zahl der CDU-Mitglieder sank in ihrer Amtszeit von 640 000 auf 400 000. Der Frauenanteil betrug am Ende ihrer Amtszeit nur 26 Prozent, und das Durchschnittsalter der Mitglieder lag bei 60 Jahren.
In ausnahmslos allen Bundesländern ist der Stimmenanteil der CDU heute deutlich niedriger als zu Beginn ihrer Amtszeit. In Baden-Württemberg sank er von 41 auf 24 Prozent, in Hessen von 43 auf 27 Prozent und in Hamburg von 32 auf 11 Prozent. Nur in sechs Bundesländern stellt die CDU noch den Ministerpräsidenten. Nur in Nordrhein-Westfalen reicht es noch knapp zu einer Koalition mit dem traditionellen Bündnispartner FDP ohne weitere Beteiligte.
Gründung und Aufstieg der AfD haben nicht nur im Bund, sondern auch in den meisten Bundesländern bürgerliche Mehrheiten rechts von Grünen, SPD und Linkspartei unmöglich gemacht. Diese fundamentale und wachsende Schwäche der Union wurde lange Zeit durch die starke Rolle Angela Merkels als Bundeskanzlerin überdeckt. Nach dem Debakel der hessischen Landtagswahl im September 2018 war dies so nicht mehr möglich. Angela Merkel zog die Konsequenz und erklärte ihren Verzicht auf den Parteivorsitz.
Der Wettbewerb um ihre Nachfolge im Parteivorsitz wurde zu einem verdeckten Richtungskampf: Ihr alter Widersacher Friedrich Merz verlor auf dem Bremer Parteitag im Dezember 2018 nur knapp gegen die Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Es obsiegten jene, die in Angela Merkels Politik als Bundeskanzlerin kein Problem für den Kurs und die Erfolgschancen der CDU sahen oder zumindest nicht darüber reden wollten.
Die neue Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer zog sich das Missfallen der noch für weitere drei Jahre amtierenden Bundeskanzlerin zu, als sie zaghafte Versuche unternahm, sich in der Frage der künftigen Einwanderungspolitik vom Kurs Angela Merkels abzusetzen. Durch Ungeschicklichkeiten in der Kommunikation wurde sie schnell zur »Lame Duck«, zur »lahmen Ente«. Als es ihr nicht gelang, die CDU in Thüringen von der Wahl des auch von der AfD unterstützten FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten abzuhalten, wurde sie durch eine Intervention der Bundeskanzlerin aus dem fernen Südafrika öffentlich bloßgestellt und kündigte im Februar 2020 nach nur 14 Monaten ihren Rückzug aus dem Parteivorsitz an. Als sie schließlich im Januar 2021 das Amt des Parteivorsitzenden an Armin Laschet abgab, fand Angela Merkel kein öffentliches Dankeswort an ihre ehemalige Generalsekretärin und Nachfolgerin im Amt. Das zeigt das Ausmaß der Zerrüttung. Die rüde Behandlung einer unbotmäßigen ehemaligen Mitarbeiterin zeigt aber auch den unbeugsamen Machtwillen Angela Merkels selbst am Ende ihrer Kanzlerschaft.
Bei der Bewerbung um den Parteivorsitz wiederholte sich im Januar 2021 die knappe Niederlage von Friedrich Merz, diesmal gegen Armin Laschet. Unter den Delegierten fand Merz vor allem dort Unterstützung, wo die Stimmung gegenüber der Politik von Angela Merkel kritisch war und vergangene Stimmeneinbußen besonders schmerzlich gewesen waren. Armin Laschet siegte auch deshalb knapp, weil er den Kurs von Angela Merkel in der Vergangenheit stets vorbehaltlos unterstützt hatte. Seine Wahl war die klare Aussage, dass für eine knappe Mehrheit der Delegierten die Öffnung der CDU nach links weitergehen werde und solle.
Der für die CDU sehr ungünstige Ausgang der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zeigte im März 2021, dass der neue Parteivorsitzende Armin Laschet nicht ohne Weiteres neuen politischen Rückenwind für die CDU bedeutete. Die Zweifel an ihm bekamen wenige Wochen später neue Nahrung, als er sich nur mühsam gegen den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder als Kanzlerkandidat der Union für die Bundestagswahl im September 2021 durchsetzen konnte.
Angela Merkel hat die Union nachhaltig zum linken und grünen Milieu hin geöffnet. Das ist ein zentrales Ergebnis ihrer Zeit als Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin. Ein großer Teil der Parteimitglieder und der Wähler der Union hat sich damit aber bis heute nicht ausgesöhnt. Die Entstehung der AfD und der Verlust der Fähigkeit, unter Führung der Union bürgerliche Mehrheiten zu bilden, zählen zu den machtpolitischen Folgen. Wie diese Neupositionierung der Union für ihre Machtoptionen und ihre Zukunftschancen als Volkspartei langfristig wirkt, ist gegenwärtig noch offen. Sicher ist jedenfalls, dass vielen bürgerlichen Wählern auf diese Art die politische Heimat verloren ging. Die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Risiken sind das problematische Erbe Angela Merkels für Deutschland und für die deutsche Parteienlandschaft.
Das Fatale ist, dass die Problematik ihres Erbes in der Union nicht offen diskutiert werden kann, solange sie als Bundeskanzlerin amtiert. Damit fehlen dem Wahlkampf der Union für den Herbst 2021 die eigentlich wesentlichen und zentralen Themen. Die auch im Wahlkampf andauernde Amtszeit Angela Merkels verhindert, dass aus der CDU/ CSU grundsätzliche Kritik an ihrem Kurs geäußert werden kann. Das sorgt für einen verdrucksten Wahlkampf, der die krassen Fehler und blinden Flecken ihrer Politik weitgehend ausklammert. So wird es Angela Merkel voraussichtlich gelingen, ihr fragwürdiges Erbe über den Wahlkampf hinaus in die Zukunft zu retten.
Auszug aus: Thilo Sarrazin, »Wir schaffen das«. Erläuterungen zum politischen Wunschdenken. LMV, 184 Seiten, 20,00 €.