Als ausdruckslos und leer beschreiben ehemalige Kommilitonen das Gesicht des Massenmörders Seung-Hui Cho, der am 16. April 2007 an der staatlichen Universität Virginia Tech in den USA ein unglaubliches Blutbad anrichtet und 32 Menschen tötet. Der aus Südkorea in die USA emigrierte Täter benutzt eine 9-Millimeter-Pistole und eine 22-Millimeter-Waffe, als er vormittags in die Seminarräume für Ingenieurfächer stürmt, die Türen mit Ketten verschliesst und binnen eineinhalb Minuten 30 Schüsse abgibt. „Er war sehr ruhig, schien aber sehr bedacht darauf, auch wirklich jeden zu treffen“, schildert eine überlebende Studentin später.
Der Amoklauf an der Virginia Tech gehört zu den brutalsten in der Geschichte sogenannter „School Shootings“, die sich seit den 90-er Jahren zuerst in den USA und dann auch in Europa auf beängstigende Weise häufen. Sie lassen verzweifelte Angehörige und eine verstörte Öffentlichkeit zurück, die sich meist mit den üblichen psychiatrischen Gutachten zufriedenstellen muss, um das schlechthin Unerklärliche zu verstehen.
Perverse Faszination
„Eine Mischung aus Widerwillen und perverser Faszination“ habe ihn dazu getrieben, sich in die Biographien von Amokläufern wie Seung-Hi Cho, James Holmes und Pekka-Eric Auvinen zu vertiefen, schreibt der italienische Philosoph Franco Berardi erklärend zu seinem neuen Buch „Helden“. Geradezu „begierig“ saugt er alle Informationen auf, studiert die Psychogramme der Täter, rekonstruiert die Tathergänge und kämpft sich durch die irren Manifeste und Hassbriefe, die manche von ihnen hinterlassen. Immer deutlicher wird für Berardi im Laufe seiner Nachforschungen, dass die abscheulichen Taten nicht isoliert als psychopathologisches Geschehen betrachtet werden dürfen. Die Selbstmordattentate enthüllen vielmehr eine Geistesart, die weitaus normaler ist, als wir uns vorstellen wollen. Für Berardi wird klar: „In diesen dunklen Themen verbirgt sich all das,was an dem Geist unserer Zeit bemerkenswert und merkwürdig ist.“
Berardis Buch ist der Versuch, die kaum nachvollziehbaren Motive jugendlicher Selbstmord-Attentäter auf dem Hintergrund der „Psycho-Landschaft“ unserer Zeit zu deuten. „Es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem so unglaublich häufigeren Drang zum Selbstmord und dem Triumph des neoliberalen Wirtschaftszwanges“, schreibt Berardi gleich zu Beginn. Im Unterschied zum alten Industriekapitalismus unterwerfe der „absolute Kapitalismus“ unserer Tage sämtliche Lebensbereiche dem Diktat einer zunehmend aggressiven und schlaflosen Produktionsmaschine. Die permanente Inanspruchnahme unserer Aufmerksamkeit durch Arbeit, Werbung und Konsum führe zu einer psychosozialen Mutation, durch die schliesslich sämtliche traditionellen Beziehungsformen aufgelöst werden: „Die Lähmung der empathischen Beziehungen und eine immer fragilere Basis für irgendein zwischenmenschliches Verständnis – dies sind die Merkmale der Psycho-Landschaft unserer Zeit.“
Wurzellosigkeit, Einsamkeit, Desorientierung und das Gefühl von Unzulänglichkeit sind die Folgen dieser totalen Mobilisierung von Produktion und Aufmerksamkeit. Sie betreffen in besonderem Mass die schwächeren Glieder der Gesellschaft: Menschen in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen, Jugendliche, psychisch Labile. Während die Finanzkrise eine kleine Schicht von Wohlhabenden noch reicher macht, produziert sie eine immer grössere Masse von Menschen, die sich als Verlierer des Systems verstehen müssen und denen nichts als Verzweiflung und Ohnmacht bleibt.
Und Wut.
„Sie sollen verrecken“
Der unglaubliche Hass, der sich in den Blogeinträgen, Tagebüchern und Manifesten der jugendlichen Killer kundtut, ist für Berardi mehr als nur ein Ausdruck kranker Seelen. Er ist virulent gewordener Zeitgeist und als solcher symptomatisch für eine „sehr weit verbreitete Leidensform.“ Es braucht einige Überwindung, Berardi in diese finsteren Ideenwelten zu folgen, die vor Menschenverachtung nur so strotzen. „Nicht jedes Menschenleben ist wichtig oder hat es verdient, erhalten zu werden“, schreibt etwa der 18-jährige Pekka-Eric Auvinen, bevor er an der finnischen Jokela High School acht Menschen und anschliessend sich selbst tötet. „Höherwertige Individuen allein sollten überleben, während die niederen (die verblödeten, debilen, schwachsinnigen Massen) verrecken sollten.“
Der krude Sozialdarwinismus dieser Äußerungen ist typisch für viele der jugendlichen Täter, die in der Gewalttat den einzigen Ausweg sehen, wenigstens einmal im Leben als Sieger dazustehen. Für Berardi sind sie negative „Helden“ einer kapitalistischen Moderne, deren Leistungszwang sie verinnerlicht haben und der sie durch ihre schrecklichen Taten den Spiegel vorhalten. Ihre Taten zeugen nicht einfach von Abartigkeit, sondern dokumentieren letztlich eine besonders gewalttätige und „suizidale Form des neoliberalen Siegerwillens“.
Offene Fragen…
Dass der mediale Reflex, die Täter als Monstren darzustellen, zu kurz greift, ist die Quintessenz dieses an philosophischen Überlegungen reichen Buches. Ganz neu sind die Einsichten Berardis allerdings nicht. Der deutsche Sozialwissenschaftler Götz Eisenberg etwa kommt in seinem Buch „Amok – Kinder der Kälte“ zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Auch für ihn ist der Amoklauf ein symptomatisches Verbrechen des globalen Zeitalters.
Dass die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung generell merklich gesunken ist, wird uns in diesen Tagen wieder drastisch vor Augen geführt. Berardis Buch zeigt auf, wie die Brutalität unseres Systems bis in die feinsten Kapillaren der Gesellschaft dringt und auch vor Kindern und Jugendlichen nicht Halt macht. Das ist eine sinnvolle Ergänzung zu einer rein psychiatrischen Sichtweise. Eine hinlängliche Erklärung für diese Taten liefert aber auch Berardis Buch nicht. So erklärt der Verweis auf die Mitschuld eines inhumanen Systems nicht, warum bestimmte Jugendliche zu Tätern werden, andere aber nicht. Gegen Berardis Darstellung spricht auch, dass auffällig viele Amokläufer aus einer relativ behüteten Mittelschicht stammen. Ausgerechnet sie zu Globalisierung- und Kapitalismusopfern zu stilisieren, leuchtet nicht ein. Der Psychologe Peter Langman etwa relativiert in seinem Buch „Amok im Kopf“ das Bild vom Täter als gesellschaftlichem Verlierer. Viele dieser Jugendlichen seien durchaus sozial integriert und bei den Mitschülern akzeptiert gewesen, so Langman. Sie kamen aus einem guten Elternhaus und verfügten über entsprechende Zukunftsperspektiven. Dass die „School Shootings“ in den letzten Jahren zwar zugenommen haben, alles in allem aber immer noch ein extrem seltenes Phänomen sind, wird im Buch ebenfalls zu wenig gewichtet.
Vielleicht hätte Berardi seine Annahme, der Kapitalismus produziere sozusagen automatisch und notwendig Amokläufer, ja noch etwas differenziert, hätte er die empirische Forschung stärker zur Kenntnis genommen. In dieser Form liest sich seine Meta-Theorie zwar packend wie ein Roman, verliert aber an Überzeugungskraft, wenn es darum geht, einzelne Taten und ihre Hintergründe wirklich verständlich zu machen. Über einen der Täter schreibt Berardi etwa: „Er tat, was er tat, weil er das Unglück schlicht nicht abschütteln konnte, welches die Menschheit unserer Zeit verschlingt.“ Solche Behauptungen hinterlassen dann doch eher Kopfschütteln.
Gastautor Heimito Nollé studierte Philosophie und Geschichte an den Universitäten Zürich und Berlin und schloss mit einer Arbeit über Hannah Arendt ab. Er war als Medienanalyst, Museumsmitarbeiter, Versicherungsangestellter und Lagerist tätig. Mit seineme Erstling „Aussätzer“ gewann er 2014 den ersten Preis beim Aphorismen-Wettbewerb des Deutschen Aphorismus-Archivs DAphA.