Für die klassische Linke, wie sie im vorvorigen Jahrhundert in Europa und nur dort entstand, bildete die Kritik an den ökonomischen Verhältnissen den Kern der Gesellschaft. Sie formierte sich in der Absicht, ungerechte Verhältnisse zu überwinden, und nicht, um sie zu bewirtschaften. Die ursprüngliche linke Bewegung besaß viele Schwächen und ausgedehnte blinde Flecken. Sie konnte mit Liberalität wenig bis nichts anfangen, sie überschätzte die Ökonomie als eigentliche Gesellschaftsgrundlage. Kultur samt Religion galt ihr nur als Überbau. Aber der Marxismus, der reformerische Teil der Arbeiterbewegung, auch verwandte Modelle wie die heute vergessene Staatswirtschaftsutopie Fichtes versprachen immerhin, die Menschen aus ihren Fesseln zu lösen. Ihr Stand sollte nach der gelungenen Befreiung keine Rolle mehr spielen. Nicht ihre Hautfarbe, nicht ihr Geschlecht oder die Tatsache, dass es sich bei den Befreiten um Europäer handelte. Gesellschaftsmitglied, das reichte ihnen als Identität.
Die klassische linke Ideologie plädierte gerade dafür, dass nicht der Einzelne eine Schuld an schlechten Zuständen tragen sollte, sondern dass ökonomischer Druck sie verursacht, wie es bei Bertolt Brecht heißt: Der Mensch wäre lieber gut als roh/aber die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Deshalb sollten bekanntlich alle Verhältnisse umgeworfen werden, die aus Menschen verächtliche Wesen machten.
Wo das Bewusstsein das Sein regieren will, spielt kulturelles Kapital eine wichtigere Rolle als das Materielle. Die neue Priesterkaste stützt ihre Macht darauf, dass sie kulturelles Kapital schöpft, verteilt und auch wieder entziehen kann. Statt wie die alte Linke Produktionsmittel zu beherrschen – ein mühsames Geschäft –, möchten die neuen Priester die Sinnproduktion kontrollieren.
Wer unter einem neuen Vorzeichen zur alten Stammes- und Standesgesellschaft zurückwill, der muss auslöschen, was im Zentrum der alten Linken und der Sozialreformer stand: die soziale Frage.
Wer von Gruppenidentität spricht, muss sich sozial blind stellen. Wer Menschen vor allem als Träger einer Hautfarbe und einer Herkunft sehen will, darf sich nicht für ihr Einkommen interessieren. Denn nur dann fügt sich der zum Mindestlohn bezahlte Kraftfahrer als Träger des weißen Privilegs in das Gesellschaftsbild ein, während die Staatssekretärin, deren Eltern als arabische Einwanderer kamen, lebenslänglich zu den Marginalisierten und potenziell Diskriminierten zählt, unabhängig von Status und Gehalt. Sie kehren damit die linke Klassik um.
Der angemessene Begriff für sie lautet: verkehrte Linke, regressive Progressive, Kräfte, deren Zukunftsentwurf sich die Vergangenheit zum Vorbild nimmt. Soziale Blindheit ist die erste Forderung, die verkehrte Linke an sich selbst stellen müssen. Dieses Buch handelt von den Kräften, die in ihrem Moraldünkel Schwächere von oben belehren und an den Rand der Gesellschaft drängen, und das in sozialer und in kultureller Hinsicht. Wer nicht zur Kaste der neuen Hohepriester gehört, soll keine legitimen Interessen mehr vertreten dürfen. Sondern sich schuldig fühlen und schweigen.
Neue Gesellschaft, das bedeutet nicht, dass alles umgestürzt würde. In dem moralischen Kapitalismus steckt selbstverständlich noch der alte, so wie die kleinere Matrjoschka-Puppe in der größeren. Dieses Buch versucht deshalb, auch eine politische Ökonomie dieser im Entstehen begriffenen neuen Verhältnisse zu entwerfen.
Verachtung nach unten handelt von dem Versuch, die Bürgergesellschaft durch eine neue, von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Religion definierte Gesellschaft der Stämme zu ersetzen, Parlamente durch Ständeversammlungen, den westlichen Individualismus durch das Denken im Kollektiv, die Meritokratie durch die Zuteilung von Ressourcen nach Quoten, das Aushandeln von Begriffen mit Rede und Gegenrede durch eine unkritisierbare Orthodoxie und den westlichen Rationalismus durch einen Okkultismus.
Dieses Buch beschreibt, was die Gesellschaft verlieren würde, wenn sich die neue Kaste tatsächlich als unangefochtene Macht etablieren sollte. Ihr Glaubenssystem enthält nichts Menschenfreundliches, nichts Befreiendes, nichts, was eine Gesellschaft befrieden könnte. Es macht die Gesellschaft hysterischer, paranoider, instabiler, ärmer und primitiver. Es verbessert außerhalb der Priesterkaste selbst nirgendwo die Lebensbedingungen.
Die dauernde Anklage bildet den Modus dieser Kaste, die ihrerseits nirgends erkennen lässt, welche Kritik, welche Gegenentwürfe sie denn noch zuließe, wenn sie einmal vollständig herrschen würde.
Alles, was den Westen wertvoll macht, steht auf dem Spiel: die Idee des Bürgers, die Rationalität, das Prinzip von Rede und Gegenrede, die offene Entwicklung. Die Alternative dazu wäre eine Gesellschaft, die in eine Finsternis fortschreitet.
Auszug aus:
Alexander Wendt, Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können. Edition Olzog im Lau-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 372 Seiten, 26,00 €.