Tichys Einblick
Lieber Tablette als

Alexander Wendt – „Du Miststück. Meine Depression und ich“

Das Buch ist ungemein unterhaltsam, hilft, uns Depressionsspezialisten ein wenig besser zu verstehen, ist in jeder Hinsicht lehrreich und mündet in einem verdammt guten Rat.

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Irgendwann mal gewinnt man eine gewisse Routine. Früher habe ich, wenn der schwarze Vogel wieder einzuschweben drohte, Freunde angerufen und sie gebeten, mir Gesellschaft zu leisten, abends oder notfalls die ganze Nacht über. Nur da sein, mehr nicht. Die wenigsten verstanden das, einer allerdings auf Anhieb. Von dem stammt ein Kompliment, das ich sehr schön fand: er habe selten so viel Spaß gehabt.

Wer das versteht – dass Menschen mit Depressionen angesichts des Galgens ziemlich humorbegabt sind, jedenfalls, bevor die große Lähmung einsetzt – , für den ist Alexander Wendts Buch das richtige. Vielleicht auch für die, die verstehen wollen, wie sich das anfühlt, wenn man mit abnehmender Kraft vor dem schwarzen Trichter flieht, der einen ansaugen will. Erfahrungsgemäß aber verstehen nur wenige Menschen, die selbst nicht zu Depressionen neigen, wie das ist, wenn das Schicksal einen mit diesem „Miststück“ bedacht hat. Winston Churchill hatte eins oder Søren Kierkegaard. Man wird es nie ganz los. Aber man kann es sich heute immerhin halbwegs kommod damit einrichten.

Wendt weiß, worüber er spricht

Das Buch wird als Sachbuch rubriziert, aber man könnte es ebenso gut unter die Literatur rechnen. Wendt ist ein eleganter und witziger Stilist, vor allem dann, wenn er sich selbst zum Material nimmt, denn das im Buch Beschriebene ist auf weite Strecken erlebt und erlitten. Es ist zugleich eine Geschichte des Umgangs mit einer Krankheit, die man lange als durch äußere Einflüsse verursacht begriffen hat – als da wären eine auf diese oder eine andere Weise schwere Kindheit, die individuelle Variante, oder der Kapitalismus als gesellschaftliche Ursache – passt ja irgendwie immer.

Da waren unsere Altvorderen oft weiser. Der antiken Lehre von den Körpersäften zufolge lag der Grund für die Melancholie in der Natur, der Melancholiker konnte also nichts dafür. Der Oxforder Theologe Robert Burton deutete 1621 die Schwermut konsequent als Krankheit, verursacht von ungünstigen Planetenkonstellationen und geerbt von schwermütigen Eltern.

Im christlichen Verständnis allerdings trägt der „seelenträge“ Mensch Mitschuld an seinem Zustand, der Nährboden der Sünde sei. Schon sind wir bei der Irrenanstalt der Neuzeit, als seelisch Kranken und Depressiven die Sünde mit harter Arbeit, Schlägen oder Kaltwasserkuren ausgetrieben werden sollte. Man vergesse nicht den beliebten Elektroschock.

Erst im Gefolge der Freudschen Lehren wurde die Krankheit zur Metapher (Susan Sontag), was zu jahrelangem Ergründen der Seelenzustände des Patienten führte. Die Psychoanalytiker haben gut verdient am schwarzen Vogel; da wurde tief hineingeleuchtet in die menschlichen Abgründe, bis hin zu frühen Kindheitserlebnissen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten empfahl es sich, nach Kindesmissbrauch zu forschen, der die tiefe Traurigkeit, den Lähmungszustand, in den manch einer verfiel, erklären sollte. Man suchte nach exogenen, also äußeren, nicht nach endogenen, also inneren Faktoren, was nicht selten in der Vorstellung mündete, der Kranke habe sich selbst in die Bredouille gebracht, da er es versäumt habe, sich auf diese oder eine andere Heilslehre einzulassen.

Kämpferischer kamen diejenigen daher, die die Systemfrage stellten: der Kapitalismus sei schuld, der Entfremdungszusammenhang löse unweigerlich seelische Störungen aus und führe zu etwas, das man heute „Burnout“ nennt. Das hilft niemandem, der nicht so lange warten will, bis der Kapitalismus überwunden ist.
Was aber hilft? Schon lange bekämpfen Depressive ihre Zustände mit Drogen und Alkohol. Churchill trank, Thomas de Quincey nahm Opium. Auch Tryptophan ist prima – es findet sich in Walnüssen, Bananen und Schokolade. Kraftsport sorgt dafür, dass Tryptophan auch da ankommt, wo es hinsoll. Doch wenn das nicht mehr reicht?

Weder Sünde noch Schuld oder Kapitalismus

Einfach mal ins Positive wenden? Depressive sind Helden, weil sie es mit dieser Krankheit irgendwie aushalten müssen? „Ich für mein Teil“, schreibt Wendt, „komme bestens mit dem schmucklosen Depressionsmodell zurecht, das (…) Depression in all ihren Schattierungen als Zustand sieht, der sich überwiegend im Synapsenspalt zwischen meinen Serotoninrezeptoren abspielt.“

Das hört natürlich niemand gern, der von der Pharmaindustrie nur Böses erwartet oder sein Schicksal lieber in die Hände der Freudianer legt. Ich habe ein paar durchaus angenehme, weil trostreiche Jahre auf der Couch einer liebevollen Psychoanalytikerin zugebracht, auch reichlich über die Spanne hinaus, in der die Krankenkasse zahlt. Bestimmt hat es mir gut getan. Doch gegen die Melancholie, die mich weiterhin ab und an anfiel, half auch der Glaube an das „gute Introjekt“ nicht, das mir meine Analytikerin verschafft hatte.

Weit später im Leben als Alexander Wendt traf ich endlich auf einen Arzt, der nur kurz nach der Familiengeschichte fragte, eine depressive Mutter fand und dann endogene Faktoren ins Spiel brachte: nämlich eine Missfunktion der Körperchemie, die dazu führt, dass „Glücks“hormone wie Serotonin viel zu schnell wieder absorbiert werden, ohne dass sie ihre segensreiche Wirkung entfalten können.

Was half? Das, was in den Gazetten hierzulande eine Zeitlang verächtlich als Glückspille verpönt war. Weil es die US-Amerikaner angeblich kiloweise in sich hineinschaufeln, nur um arbeitsfähig zu bleiben, anstatt ihrer Malaise auf den Grund zu gehen. Der kritische deutsche Mensch aber weiß: Schuld ist der Konsum- und Turbokapitalismus, der via Pharmaindustrie dafür sorgt, dass alle Menschen sich auch noch wohl fühlen in ihrem elenden Schicksal. In der deutschen Öffentlichkeit stand also das Urteil über „Zoloft“ und Konsorten lange Zeit felsenfest.

Die Pille hilft – aller Verurteilung entgegen

Man hat dieses segensreiche Medikament offenbar mit allem möglichen anderen verwechselt, vielleicht mit Amphetaminen, die nicht nur high, sondern auch süchtig machen oder mit allerhand anderen Drogen, die die Persönlichkeit eines Menschen verändern können. Serotoninwiederaufnahmehemmer, wie der terminus technicus lautet, tun aber weder das eine noch das andere, nein: sie erlauben dem depressionsgeplagten Menschen endlich, er selbst zu sein. „Wer sich vor einer Tablette mehr fürchtet als vor seinen Zuständen, dem wünsche ich viel Glück. Angesichts der Alternativen bin ich sehr für die Tablette“, schreibt Wendt. Wie recht er hat.

Das Buch ist ungemein unterhaltsam, hilft, uns Depressionsspezialisten ein wenig besser zu verstehen, ist in jeder Hinsicht lehrreich und mündet in einem verdammt guten Rat. Die Psychiatrie ist heute ein ziemlich kommodes Irrenhaus, im Vergleich zu anderen Zeiten. Wendts Berichte aus der Anstalt sind urkomisch und todtraurig zugleich.

Also: wenn nichts mehr geht – sich selbst einweisen. Und auf die Pharmaindustrie setzen.

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