Eine Grünenpolitikerin, die kalendarisch schon 30 ist, aber in die Kamera grimassiert und islamische Terroranschläge in Frankreich mit „hey“ kommentiert wie ein Teenager. Vierzigjährige mit geschlitzten Jeans und Piercings. Politiker, die sich für die wertvolle Inspiration bei Schülern bedanken, deren Beitrag zur Debatte darin besteht, „hey, hey, wer nicht hüpft, der ist für Kohle“ zu skandieren. Eine Gesellschaft, in der Kinder als Verkörperung des Echten und Wahren gelten und Erwachsene sich erhöhen können, indem sie kindliche Muster imitieren – diesen Zustand skizziert Alexander Kissler, Sachbuchautor und Redakteur der NZZ, in seinem Buch „Die infantile Gesellschaft“. Er belässt es nicht bei der Skizze, sondern fragt: Woher kommt diese Regression? Für welches Gesellschaftsbild steht die „selbstverschuldete Unreife“? Und: wo ist der Ausgang?
Als Ursprung der nur im Westen verbreiteten Kindheitsüberhöhung macht Kissler das Erziehungsbuch „Émile“ von Jean-Jacques Rousseau aus. Darin empfiehlt der Philosoph, Kinder möglichst in einem idealen „Naturzustand“ aufwachsen zu lassen. Bekanntlich konzentrierte sich Rousseau ganz auf sein fiktives Modell Émile; seine eigenen Kinder ließ er ins Heim stecken, damit sie ihn nicht beim Denken und Schreiben störten. Trotzdem kommt er in dem Buch besser weg als die späteren „Vulgärrousseauisten“. Denn die, so Kissler, erklären anders als der Mann aus Genf „das Kind zum Orakel, aus dem höhere Mächte sprechen“. So entstehe ein „argumentatives Kindchenschema“. Was weder den Kindern guttut noch dem Rest.
Allerdings: Ein mit Kinderprophetenwucht verstärktes Donnerwort ist in der praktischen Politik unbrauchbar. Denn dort – wie im Leben überhaupt – meldet sich das Realitätsprinzip, dort kommen die Töne zwischen Schwarz und Weiß ins Spiel, dort summieren sich Opportunitätskosten für jedes Handeln. Eine zum Kindchenschema passende Mathematik und eine Ökonomie ist nicht zu haben. Politiker, die meinen, Greta Thunberg für sich nutzen zu können, werden also das Endzeitprophetische nie einlösen können: „Hier rasen zwei gleichermaßen schwer beladene Moralsattelschlepper aufeinander zu – in der Illusion, sich in die gleiche Richtung zu bewegen. Greta Thunbergs Gebot lässt sich nicht in Politik übersetzen, zumindest nicht in demokratische Politik.“
Woher kommt überhaupt die Überhöhung des Kindes zum Propheten, zum Leitbild, die Umkehrung, die in der Forderung liegt, Erwachsene – also die Erfahrenen und in Ambivalenz geübten – sollten von Kindern lernen? „Mit aufmerksamkeitsökonomischen Knappheitspreisen prämiert eine Gesellschaft aus Kleinfamilien ihre wenigen Kinder“, urteilt Kissler.
Wie entgehen die hoffentlich halbwegs Erwachsenen der zunächst einmal kuscheligen Regression ins Gute und Wahre? Vom „Glück der Souveränität“ schreibt Kissler, das darin liegt, nicht Kind und Wolf zu Propheten zu ernennen, sondern sich seines (notwendigerweise unvollkommenen) Verstandes zu bedienen. Ein reifer Mensch, lautet sein Fazit, „vertauscht nicht den Ernst mit dem Spiel, und rettet somit beide.“
Frei nach dem bayerischen Philosophen Karl Valentin: Souveränität ist schön. Macht aber viel Arbeit.
Diese Besprechung von Alexander Wendt erschien zuerst auf publico.
Alexander Kissler, Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife. Harper Collins, 254 Seiten, 20,00 Euro
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