Ganz so weit sind wir noch nicht. Noch wird der Nachwuchs nicht in Flaschen herangezogen. Und noch sind nicht ausnahmslos alle glücklich mit ihrem Schicksal. Noch leben wir nicht in der von Huxley im Jahr 1932 beschriebenen „brave new world“, in der Krankheit und Altern ausgerottet sind, die Menschen die Merkmale ihrer schnöden Biologie abgestreift haben, alle der Weisheit des großen Ford vertrauen und glücklich in ihrer jeweiligen Kollektividentität verharren, auch wenn die nicht jeweils L, B, T oder Q oder T heißt, sondern von Alpha bis Epsilon geht. Und doch kommt einem einiges irgendwie verdammt vertraut vor.
Die deutsche Übersetzung des Buchs erschien 1933 und geriet prompt auf die Liste der unerwünschten Bücher. Was hat die NSDAP an Huxleys Buch gestört? Dass das Dritte Reich die Versprechungen der schönen neuen Welt nicht würde halten können? Oder hatten die Missbilligenden das Buch so gelesen, wie es gar nicht gemeint war: als Dystopie, nicht als Utopie? Oder … weil die deutsche Mutter, deren Gebärbereitschaft unter Hitler ja gefordert war, die Geschichte als die einer Befreiung hätte verstehen können?
In der schönen neuen Welt sind die Frauen schwanger- und mutterschaftlos: Fertilität stört und ist unappetitlich. Neue Menschen werden in keimfreien Fabriken hergestellt. Lebend gebärende Mütter sind Schweinkram, ebenso Familie und „Daheim“. Das ist nichts weiter als ein düsteres, stinkendes Gefängnis, ein Karnickelbau, ein Misthaufen im Dampf der Emotionen, mit einem Mann, einer immer wieder schwangeren Frau und einer Brut Kinder. Eine Welt voller Väter, also voller Leid, und voller Mütter, also voller Perversionen, Wahn und Suizid. Und dann noch mit romantischer Liebe, die nur unglücklich macht.
Noch sind für die Menschenproduktion weibliche Eier und männliche Samen vonnöten, doch die Embryos werden schon im frühesten Stadium für ihre künftige gesellschaftliche Rolle programmiert. Aus einem befruchteten Ei können bis zu 96 eineiige Zwillinge herangezogen werden, die zu Wesen heranwachsen, die ideal für die Verrichtung niedriger Tätigkeiten sind, wofür man keine Intelligenz braucht. Dennoch: Epsilons werden gebraucht und respektiert, sie sind mit ihrer Rolle zufrieden und glücklich.
Bücher und Natur meiden
Darauf kommt es an, aufs Glücklichsein, weshalb den nur wenig ranghöheren Deltas frühzeitig beigebracht wird, Bücher und Natur zu meiden, denn das verwirrt und mindert das Glücksgefühl. Nur die Alphas und Betas, die beiden höchsten Kasten, haben ein wenig mehr Spielraum. Allerdings wird nicht gern gesehen, wenn man Sex zu häufig mit der einen oder dem anderen hat.
Auf dem Weg zum Glück aller waren in der Vergangenheit Opfer nötig: Der Mensch alten Schlages und seine fatalen Sehnsüchte mussten ausgerottet werden. In London starben vor dem British Museum zweitausend Kulturfans im Senfgas, Anthraxbomben detonierten in den Prachtstraßen von Berlin und Paris. Museen wurden geschlossen, historische Denkmäler gesprengt und alle vor dem Stichtag veröffentlichten Bücher verbannt, streng nach dem Herrn und Meister: „History is bunk“ (Originalzitat von Henry Ford).
Doch das große Aufräumen ist lange her. Gewalt gibt es in der neuen Welt nicht mehr, dagegen sind alle Menschen konditioniert, denn welchen Grund gäbe es für Gewalt? Im Fall des Missfallens gibt es Soma, das „sämtliche Vorzüge des Christentums und des Alkohols“ aufweist – ohne deren Nachteile. Zur Entspannung gibt es Tanzabende in der Westminster Abbey und „Solidaritätsmessen“ genannte Orgien. Die Nebenfolgen des Alterns sind abgeschafft, der Tod ein sanftes Hinüberdämmern im Somarausch. Alles ist gut.
Schon deshalb sind Kunst und Wissenschaft verpönt, sie stehen dem Glück entgegen und sind nur einer kleinen Gruppe von Außenseitern erlaubt, Menschen, die sich ihrer Individualität zu sehr bewusst sind, um in die Gesellschaft zu passen. Ab mit ihnen auf ferne Inseln, denn, wer weiß, ihr Eigensinn könnte doch irgendwann noch einmal nützlich sein.
Bei einem solchen Besuch begegnen Bernard und Lenina dem klassischen edlen Wilden – John, Sohn einer bei einem früheren Besuch zurückgelassenen Frau aus der neuen Welt. John, der Lesen, Schreiben und Sprechen mithilfe zurückgelassener Bücher von Shakespeare gelernt hat, wird als Trophäe in die neue Welt mitgenommen und ausgestellt. Dieser Clash of Cultures geht, wie man sich denken kann, nicht gut aus. Der Wilde versteht das schöne Leben nicht, er will keinen Komfort, keinen Sex ohne Liebe. Er will Gott und Dichtung, reale Gefahren und Freiheit. Er will Sünde. Und das Recht darauf, zu altern, zu erkranken, Schmerzen zu erleiden. Lieber erhängt er sich.
Kontrolle über Panikmache
Versteht so viel heroische Leidensfähigkeit noch einer in Zeiten wie diesen, in denen nur eines zu gelten scheint: Sicherheit und Gesundheit? Das wäre immerhin ein aktueller Bezug: Freiheit ist derzeit zu etwas Verzichtbarem geworden, zu etwas, was die Regierung wegnehmen und bei Wohlverhalten dosiert „gewähren“ kann. Das Grundrecht auf Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Gewerbefreiheit, das Recht auf Unverletzlichkeit der Privatsphäre, Grundrechte also gegen den Eingriff des Staates, werden von einer „alternativlosen“ Regierung kassiert, ohne dass sich massenhafter Protest regt.
Panik kontrolliert die Menschen offenbar nicht weniger gut als Konditionierung im Kindesalter. Und nein, Gewalt ist da eher nicht im Spiel, Framing und Nudging, also Sprachpolitik und freundliche Überredung, reichen völlig aus, um Menschen gefügig zu machen.
Der grassierende Puritanismus ist sexbesessen und verklemmt zugleich. Nun soll nicht mehr von Frauen gesprochen werden, sondern von „Menschen, die menstruieren“, weil den Frauen, die als Männer geboren wurden, die entsprechenden Vorrichtungen dafür fehlen. Worte wie Muttermilch kommen auf den Index, es soll von „Menschenmilch“ gesprochen werden, empfiehlt man in den Unikliniken von Sussex und Brighton, oder, besonders hübsch, von „Milch des stillenden Elternteils“. In Australien möchte ein „Gender Institute“, dass man statt Mutter „austragendes Elternteil“ und statt Vater „nicht gebärendes Elternteil“ sagt.
Bedeutet das jetzt die Abschaffung von Mann und Frau, weil man schließlich auf Personen Rücksicht nehmen sollte, die sich nicht „binär“ identifizieren? So weit ist es noch nicht, es gibt sie noch, die Heterosexuellen, die sich gegen ihre Abschaffung sträuben. Es sei denn, man verspräche ihnen Glück ohne Ende.
Der Roman von Huxley zeigt den Weg aus dem Dilemma. Der Verwirrung um Geschlechtsidentitäten wäre schnell ein Ende gesetzt, wenn man sich für die Menschenzüchtung in der Retorte entschiede – schon, um allen das Kinderkriegen zu ermöglichen, denen die Natur dies versagt hat. Nur edle Wilde träumen von Gefahr und Freiheit. Alle anderen ziehen Sicherheit und Impftermin vor.
Aldous Huxley, Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft. Hörbuch, gelesen von Matthias Brandt, Der Hörverlag, 6 CDs, Laufzeit 8 Std., 19,99 €