Die Philosophie war für mich lange Zeit ein ferner und weitläufiger Palast, der in jedem seiner Säle ein großartiges System beherbergte. Ich besichtigte diesen Palast unter der Leitung qualifizierter Führer, bescheiden und neugierig, aber ohne besondere Gefühlsregungen. Wie ein Tourist bewunderte ich mit offenem Mund die prächtigen Gedankengebäude, die sich vor meinen Augen auftaten. Und ich war weder Platoniker noch Spinozaner noch Leibnizianer noch Kantianer noch Hegelianer; ich blieb hoffnungslos draußen.
Ich fing erst an, mich einbezogen zu fühlen, als ich bei Sartre und dann noch mehr bei Levinas auf Wörter stieß, »die das bezeichneten, worum die Menschen sich immer gekümmert hatten, ohne zu wagen, es sich in einem spekulativen Diskurs vorzustellen«, und diese Wörter »nahmen den Rang von Kategorien an«, so z. B. »mauvaise foi«, Angst, Scham, Liebkosung, Antlitz …
Und dann kam der Heidegger-Schock. Ich besichtigte keinen fernen Palast mehr, als ich Heidegger las. Ich wurde erfasst, einbezogen, beteiligt. Nachdem jede Distanz aufgehoben war, entdeckte ich, dass der Nichtphilosoph, einschließlich meiner selbst, ein Monsieur Jourdain der Philosophie ist, ein Bürger als Edelmann. Die Metaphysik, lehrte mich Heidegger, finden wir nicht jenseits des gewöhnlichen Denkens, sondern sie ist seine Grundlage. Sie hat ihren Platz im konkreten Leben eines jeden Menschen. Sie spinnt die Fäden unserer Existenz. Sie bestimmt unsere gewöhnlichen Einstellungen und unser gewöhnliches Agieren, Reagieren und Nachdenken.
Die moderne Technik geht die Natur im Modus der Herausforderung an, nicht der Anpassung. »Der Schreiner« dagegen »bringt sich […] zu den verschiedenen Arten des Holzes und den darin schlafenden Gestalten in die Entsprechung, zum Holz, wo es mit der verborgenen Fülle seines Wesens in das Wohnen des Menschen hereinragt.«
Die Technik passt sich nicht mehr den Formen und Erscheinungen der Realität an, sie »stellt« sie vielmehr, als berechenbare und auszubeutende Objektivität. Was man mit einer Mischung aus Bewunderung und Beängstigung die Natur nannte, wird unter der Ägide der modernen Technik zur bloßen Lagerstätte von Bodenschätzen und Energie. Was bedeutet Boden für die Metaphysik, die uns beherrscht? Ein Erzlager. Was ein Fluss? Lieferant für Wasserdruck: »Das Wasserkraftwerk ist nicht in den Rheinstrom gebaut wie die alte Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet. Vielmehr ist der Strom in das Kraftwerk verbaut.«
Dieses allgemeine Herausfordern verdichtet Heidegger mit feinem Gespür für philosophische Dramaturgie zu einem einzigen Wort, dem Gestell. So fasst er alle Aktionen zusammen, die mit Verben desselben Stamms bezeichnet werden: stellen, bestellen, herstellen, darstellen, vorstellen, aufstellen. Mit dem Gestell wird das Reale zum Halten gebracht wie ein Schiff, das man auf hoher See aufbringt. Es muss sich rechtfertigen, Rechenschaft ablegen und ist letztlich gefordert, dem Ziel globaler Rationalisierung zu dienen.
Doch nicht, was an ihr am ehesten sichtbar ist, macht die Technik aus: das Räderwerk, die Kolben, Motoren und Maschinen. Sie betrifft nicht nur den Bereich der Produktion. Heidegger geht sogar so weit zu sagen, dass »die Technik im weitesten selbst nichts ›Technisches‹ ist, sondern ›Geist‹ und das heißt, eine Art, wie das Seiende im Ganzen offenbar wird und als Offenbares waltet.«
Mit anderen Worten, nichts entgeht der Herrschaft des Gestells. Nichts, nicht einmal die Sprache. Sie wird von vornherein und vorbehaltslos im Horizont der instrumentellen Vernunft gesehen. Man versteht sie nicht mehr als Kultur, sondern als Dienstleistung. Sie war einmal eine Gabe und ein Erbe. Jetzt, in einer Welt, in der nicht alles funktioniert, aber Funktionieren alles ist, ist sie ein Mittel der Kommunikation und Information. Sie war eine Tradition; jetzt ist sie zum Medium des Austauschs geworden. Der Geist der Technik hat den Genius der Sprache vertrieben und seinen Platz eingenommen. Die Idee, man könne die Sprache lieben, d. h., bewahren, pflegen, ehren, ihr dienen, sie anhören, ist völlig sinnlos geworden. Wer würde sich denn in eine Funktion verlieben? In der Epoche totaler Dienstbarkeit bleibt kein Raum mehr für bewunderndes Staunen oder Dankbarkeit.
Hören und schauen wir uns einmal um: Mit Newsrooms, Spindoktor, Podcast, Primetime, Live-Übertragung, Showbiz, Blockbuster, Fashion Week, Black Friday, Jackpot, Crowdfunding, Teambuilding, Brainstorming, Debriefing, Storytelling, Coaching, Consulting, Marketing, Timing, Shooting, Benchmarking, Coworking, Making of, Zapping, Streaming, Casting, Lifting, Lowcost, Duty-free-Shop, Deal, Spots, Job, Challenge, Turnover, Burn-out, Check-up, Hashtag, Cloud, Mail, Cookie, Bugs, Talks, Tweets, Geeks, Hits, Scoops, Follower, Designer, Hacker, Gamer, Loser, Win-win-Situation, YouTuber, Meeting, Fast Food, Think-Tank, Playstation, Millennials, Softporn, Hardcore, Reset, der Wahl zwischen top-down oder bottom-up, dem Erfolg von Start-ups und so weiter hat die Technik das Idiom gefunden, das der Welt gerecht wird, mit dem sie die Welt ersetzt hat.
»Es ist unnütz, Rabelais, Montaigne oder Pascal zu bemühen, um mit ihnen eine summarische und primitive Vorstellung vom Leben begründen zu wollen«, schrieb Bernanos am Anfang der Epoche, die alles mit allem verbindet. Sie wurden nicht bemüht. Und in einer Werbung für Smartphones reagiert das Netz auf die letzten Querulanten mit einem strahlenden Lächeln und dem Glaubensbekenntnis: We love technology. Es ist nicht das Englische, allem Anschein zum Trotz, das seine Herrschaft auf die übrigen Sprachen ausdehnt, sondern das Gestell, das alle anderen Sprachen in den Gleichschritt zwingt, Shakespeares Sprache inbegriffen.
Was in diesem neuen Idiom von der Sprache übrig bleibt, ist eine teigige Masse, und die progressistischen Sprecher, die endlich mit allen Schikanen, Zwängen und Hierarchien aufräumen wollen, nehmen sich nun das Recht, sie nach Gutdünken zu kneten. Dabei lassen sie sich von keinerlei Skrupel aufhalten. Sie setzen sich über den Sprachgebrauch hinweg und verbiegen die Grammatik, und so haben sie die Gewissheit, in ihrem bescheidenen Rahmen am großen Abenteuer teilzuhaben – der endgültigen Humanisierung der Menschheit.
Die Sprache müsse sich doch entwickeln und anpassen dürfen, ohne ein Tribunal von Siechen um Erlaubnis zu bitten, höhnen sie. Diese griesgrämigen alten Knacker wollen, dass die Sprache über uns verfügt, aber das lassen wir nicht zu, denn wir verfügen über die Sprache. Wir haben lange genug unter ihrem Joch gelebt. Jetzt müssen wir die Kontrolle übernehmen und eine gründliche Inspektion durchführen, um die Sprache den Normen der künftigen Welt anzupassen. Es ist an uns, die Regeln abzuschaffen und mit den schlechten Gewohnheiten der Vergangenheit aufzuräumen, durch die Frauen immer noch unsichtbar bleiben.
Wir werden dafür sorgen, dass im öffentlichen Diskurs »keiner« nur noch in Begleitung des Wortes »keine« verwendet wird. Und das Wörtchen »jedermann« werden wir nur noch aussprechen, wenn wir ihm »jede Frau und« voranschicken, um so der Herrschaft des Maskulinen ein Ende zu setzen. Wir werden das »Vaterland« in »Mutterland« umtaufen. Filme von Agnès Varda werden wir nie mehr herrlich, sondern nur noch fraulich finden. Und jede_r von uns ist stolz auf den/die_ jenige_n, der/die in Paris ein riesiges Banner aufgehängt hat mit der Forderung: »Kostenlose Abtreibung für jede_n«. Wenn wir so unseren Willen kundtun, dass niemand von irgendetwas ausgeschlossen werden soll, tragen wir dazu bei, den Beginn einer wirklich egalitären Gesellschaft einzuläuten.
Alain Finkielkraut, Jahrgang 1949, gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen. Er hat Philosophie und Ideengeschichte am Institut Universitäre Elie Wiesel und an der École Polytechnique gelehrt, Kultursendungen moderiert, Zeitschriften begründet, zahlreiche einflussreiche Bücher publiziert, wurde vielfach ausgezeichnet und ist Mitbegründer des Institut d’études lévinasiennes (Jerusalem/Paris), das nach Emmanuel Levinas benannt wurde. Seit 2014 ist er Mitglied der Académie française.
Um die Fußnoten bereinigter Auszug aus: Alain Finkielkraut, Ich schweige nicht. Philosophische Anmerkungen zur Zeit. Aus dem Französischen von Rainer von Savigny, LMV, Hardcover, 144 Seiten, 20,00 €