Afrika ist ein faszinierender Kontinent, der von freundlichen, dem Leben zugewandten Menschen bewohnt wird. Afrika ist nicht nur der Kontinent der Kriege, Krankheiten und Katastrophen, sondern auch der Kontinent beeindruckender Landschaften, reicher Kulturen und gastfreundlicher Menschen.
Für mich ist Afrika der Kontinent der improvisierten Problemlösungen und der Heiterkeit auch am Abgrund. Gerade in den wirklich armen Ländern des Sahel überrascht die meist positive Einstellung und die intensive Lebensfreude der Menschen.
Es war großartig, dass ich Afrika in vielen Facetten erleben und zu einem kleinen Teil vielleicht auch verstehen lernen konnte. Ich habe 17 Jahre auf Posten in Afrika verbracht, in sieben Ländern, von denen ich vier – Guinea, Niger, Benin und Kamerun – sehr intensiv bereist habe. Dabei lernt man die kulturellen Unterschiede kennen und auch traditionell geprägte Ursachen für bestimmte Phänomene. Nach meinem Dienstantritt 2004 machte ich auf einer Reise in den Nordwesten Bekanntschaft mit dem traditionellen Kamerun. Viele Orte sind nur über holperige Pisten erreichbar, voller Schlaglöcher, Geröllhaufen und Rinnen.
In Foumban erwartete mich nach einer solchen Fahrt der dortige Chef, der Sultan, im Sessel vor dem Eingang seines Hauses. Er rechnete offenbar damit, dass ein Deutscher pünktlich ist. Er zeigte mir sein Palastmuseum. Es war 1917 gebaut und 1984 von der UNESCO renoviert worden. Dort werden Thronsessel, Tanzmasken, Kostüme, Waffen, Kalebassen aus den Unterkiefern besiegter Feinde und Palmweingefäße aus den Schädeln getöteter Widersacher ausgestellt. Einer der Vorgänger des Sultans war besonders klein geraten. Deshalb wurden allen Notabeln, die größer waren als er, die Beine gebrochen. Das Museum verfügt über einen Koffer voller Fotos aus der deutschen Kolonialzeit (1884–1916). Die deutschen Kolonialoffiziere haben offensichtlich eifrig fotografiert.
Magie ist in ganz Afrika verbreitet, insbesondere der Glaube an Amulette. Es gibt zwar keine verlässlichen Statistiken, aber es sterben fast so viele Afrikaner durch Autounfälle (und von Zeit zu Zeit durch Flugzeugabstürze) wie etwa durch Malaria. Viele Autofahrer verlassen sich auf die magische Kraft ihrer Amulette. Dementsprechend ist der Zustand der meist überladenen Wagen. Je mehr die Menschen auf die Macht des Übersinnlichen bauen, desto weniger kümmern sie sich um real existierende Probleme wie den Zustand von Bremsen, Reifen oder Motor. Es gibt keine Wartung, sondern nur improvisierte Pannenbeseitigung.
In Kamerun besuchte ich auch den Parlamentspräsidenten. Er ist ebenfalls zugleich traditioneller Chef. Als solcher sitzt er nach altem Brauchtum einem örtlichen Gericht vor. Die häufigsten Fälle beträfen »Frauenraub«. Ich wisse doch, dass Frauen bei Palmwein leicht zu verführen seien. Und schon wechselten sie den Mann. Das Gericht müsse dann entscheiden, wo die Frau jetzt hingehöre. Es war ein nettes Gespräch, und am nächsten Tag berichtete die Regierungszeitung ›Cameroun Tribune‹: »Jaunde und Berlin stärken ihre Beziehungen.«
Es ist eine andere Welt, eine Welt, in der der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten selten eine Gerade und Geduld eine lebensnotwendige Tugend ist. Afrikaner sind in der Regel verwundert, wenn jemand aus dem Westen sich über all die »Unannehmlichkeiten« aufregt. Sie betrachten Ungeduld und sparsamen Umgang mit Zeit als typische Eigenschaften von Europäern und Amerikanern. Sie selbst sehen keinen Grund zur Eile. Die bei uns übliche Höflichkeit, jemanden, mit dem man verabredet ist, nicht warten zu lassen, ist in Afrika nicht verbreitet – im Gegenteil, oft ist es umgekehrt: Erscheint man pünktlich, bringt man den Gastgeber in Verlegenheit.
Afrikaner haben keine Eile, aber oft ein überraschend gutes Gedächtnis. Das geht wohl auf die afrikanische Tradition der »Griot«, der Geschichtenerzähler, zurück. Insbesondere auf dem Land sind die Griots das »Gedächtnis des Volkes«. In ihnen leben die Menschen und Ereignisse weiter und das oft über Jahrzehnte. Im westafrikanischen Benin sagt man, wenn ein weiser Mann stirbt, »brennt eine Bibliothek ab«.
Mein erster Botschafterposten war in Benin. Ich habe in diesem wirklich armen Land wunderbare Menschen kennengelernt, Künstler, Journalisten und Universitätsprofessoren. Die Beniner haben eine besondere Fähigkeit zur ironisch-distanzierten Selbstbetrachtung und viel Humor. Wenn sie etwa die Stadt Ganvie mit ihren Lagunen und schilfgedeckten Pfahlhütten als »Venedig Afrikas« bezeichnen, geschieht das mit einem guten Schuss Ironie und einem Augenzwinkern. Humor und Gelassenheit sind vielleicht auch die Schlüssel zu dem vergleichsweise sehr friedlichen Zusammenleben vieler verschiedener Ethnien in diesem kleinen Land.
Meine Erfahrungen und Erlebnisse haben zu meiner Einschätzung der Entwicklungsmöglichkeiten Afrikas und der oft unseligen Rolle von Entwicklungshilfe geführt. Entwicklungshilfe wird reichlich gegeben und als gute Tat für die Armen nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, bei einer Umfrage im Auftrag der Hilfsorganisation OXFAM sagten 71 Prozent der Befragten, sie befürworteten eine Verdopplung der Entwicklungshilfe. Wenn man vor Ort ist, sieht man die Dinge nach kurzer Zeit etwas anders. Schon 1992, nach drei Jahren im Niger, schrieb ich in mein Tagebuch: »Nur aus der Distanz sind Antworten einfach. Schön wäre es, wenn mit mehr Kapital die Probleme der ökonomischen Unterentwicklung Nigers gelöst werden könnten. Oberstes Ziel darf nicht länger ein Mehr an Entwicklungshilfe sein, das die Kräfte der Selbsthilfe lähmt, sondern so wenig Geld wie irgend möglich, nur so viel wie dringend nötig. Entwicklung, daran habe ich keinen Zweifel, kann nur über die tatkräftige und überzeugte Mitwirkung und Eigeninitiative eines jeden Einzelnen stattfinden.«
Meine Einschätzung wird von vielen Afrikanern geteilt. »Natürlich mögen Helfer hie und da humanitäre Erfolge erzielen, indem sie ein hungerndes Dorf retten oder an anderer Stelle sauberes Trinkwasser zur Verfügung stellen, gleichzeitig zerstören sie jedoch den wichtigsten Mechanismus, der langfristig die Armut beseitigen könnte. Die Hilfe untergräbt die Entwicklung eines kompetenten, unbestechlichen und den Interessen der Bevölkerung dienenden Staatsapparates.« Dies sagt der ugandische Journalist Andrew Mwenda. Er saß wegen seiner Kritik an afrikanischen Regierungen und ihrer Abhängigkeit von Hilfsgeldern schon oft im Gefängnis.
James Shikwati, Gründer der Wirtschaftsförderungsgesellschaft »Inter Region Economic Network« in Kenia, der unter anderem für deutsche Medien wie den ›Spiegel‹ oder die ›FAZ‹ schreibt, übt ebenfalls massive Kritik an der klassischen Entwicklungshilfepolitik: »In den Industriestaaten wird immer der Eindruck erweckt, ohne Entwicklungshilfe würde Afrika untergehen … Dem verheerenden europäischen Drang, Gutes zu tun, lässt sich bisweilen leider nicht mit Vernunft begegnen … Wenn die Entwicklungshilfe eingestellt würde, wären die politischen Eliten das erste Opfer, weil ihre Machtstrukturen dadurch gesprengt werden. Die Frage nach einer eigenständigen afrikanischen Lösung wäre dann auf dem Tisch … Eine Einstellung der Hilfe wird an den Tag bringen, dass die meisten internationalen Agenturen die afrikanische Misere dazu genutzt haben, um Spenden zu sammeln, um sich einen humanitären Anstrich zu geben.«
Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen haben Entwicklungsgelder weder dauerhaft für mehr Wachstum gesorgt, also indirekt den Lebensstandard aller angehoben, noch das Los der Armen gebessert. Sie haben es eher verschlechtert. Der Abstand zwischen Superreichen und Bettelarmen wird immer größer. Was kümmert es den autoritären Staatsapparat, dass es an Trinkwasser mangelt, Stromausfälle an der Tagesordnung und die hygienischen Zustände für die hohe Kindersterblichkeit verantwortlich sind. Selbst wenn Entwicklungsgelder zweckgebunden ausgegeben werden müssen, finden sie per Umweg doch den Weg in die falschen Kassen.
Wenn andere Krankenhäuser, Schulen und Straßen bauen, Kinder impfen lassen, muss es ja die Regierung nicht tun. Sie kann das Geld stattdessen für Luxusgüter ausgeben: Die afrikanischen Eliten sind Weltmeister im Champagnertrinken, ihre Autokorsos zeichnen sich durch eine erstaunliche Mercedesdichte aus (die Scheiben sind verdunkelt, damit die Insassen möglichst wenig von dem Elend mitbekommen). Die Leute nennen diesen Typus von Führern gerne »vom Stamme Wa Benzi«. Die meisten Verantwortlichen haben Luxusvillen in zahlreichen Ländern. Es gibt Staatschefs, die in einer Woche New York für sich und ihre Entourage schon mal das Jahresgehalt eines europäischen Regierungschefs ausgeben. Erheben Medien tatsächlich einmal entsprechende Vorwürfe, meinen sie, sie mit dem Totschlagargument »Das ist Rassismus« entkräften zu können.
Es kümmert die afrikanischen Eliten nicht, wenn ihre Staatsbürger zu Zehntausenden unkontrolliert und chaotisch auswandern und sich anderen Ländern zuwenden, in denen sie ein besseres Leben als in der Heimat zu finden hoffen. Verantwortungsbewusste Regierungen sollten ihre Landsleute auffordern, im Lande zu bleiben, und ihnen die Verbesserung der Verhältnisse in Aussicht stellen. Nichts dergleichen geschieht.
Wir stehen als Betrachter vor einem teuren Scherbenhaufen, doch niemand muss sich dafür rechtfertigen, wie wenig die hohen Ausgaben letztlich bringen. Wie vor Wahlen gut zu beobachten, glaubt die Bevölkerung ohnehin nicht mehr, dass die Politik im Land X etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Parolen verpuffen wirkungslos. Die Leute haben sich längst abgewendet und entwickeln ihre eigenen Überlebensstrategien. Die betroffenen Regierungen sehen in der Korruptionsbekämpfung in erster Linie eine Einmischung in interne und politisch sensible Angelegenheiten. Man erwartet von uns, dass wir das Wohl der Wohlhabenden nicht durch unbequeme Fragen nach dem Volkswohl stören. Was wir bei unseren eigenen Regierungen für selbstverständlich erachten und kritisch beobachten, fordern wir in Afrika nicht ein: Zu einer guten Regierungsführung gehört zuallererst, den Regierten den gebührenden Respekt entgegenzubringen und die eigene Bevölkerung nicht zu missachten.
In den meisten afrikanischen Staaten, die ich kenne, gibt es immerhin eine freie Presse, die ab und zu die Verhältnisse geraderückt. So hat eine Zeitung in Kamerun, ›Le Front‹, unwidersprochen eine »Hitparade der Diebe« veröffentlicht. Es handelt sich um Minister und Beamte, die teils Millionen von Euro veruntreut haben und sich in einer Parallelwelt gegen die Bevölkerung abschotten. Ein sehr wichtiges Medium ist nach wie vor das Radio. Witz und Mut der Afrikaner zeigt ein Sender in Mali, der seine Hörer morgens mit »Guten Morgen, ihr korrupten Minister und Beamten« begrüßt. Es gibt ein anderes Afrika als das korrupte. Dieses Afrika müssen wir unterstützen.
Auszug aus: Volker Seitz, Afrika wird armregiert oder Wie man Afrika wirklich helfen kann. Mit einem Vorwort von Asfa-Wossen Asserate. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe. dtv, 288 Seiten, 12,90 €
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