Es gibt nicht viele Romane, bei denen man beim Lesen losprustet und der Schluck Kaffee wird zu Aerosol. Nein, es ist nicht so, dass Juli Zeh eine Humoreske geschrieben hätte, aber ihre Beschreibung der hippen jungen Berliner Paare in Zeiten von Corona und Klimapolitik ist großartig. Wenn Sie sich jemals über das Milieu grünschnabeliger Besserwisser – „Woke“ wie man heute zu sagen hat – und ihre rechthaberische Selbstgerechtigkeit geärgert haben: hier wird es fröhlich geschildert, abgrundtief böse, vorgetragen im freundlichen Ton einer Reportage, präzise und detailgenau.
Die Ich-Erzählerin hat ihren Geliebten an eine andere Frau verloren. Nun ja, das passiert nahezu in jedem Roman, wegen Liebe und Leid wurde dieses Genre erfunden. Aber bei Juli Zeh ist es eine ganz besondere junge Frau, die Liebe bleibt sehr platonisch und doch wird sie folgenreich.
»Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint.«
Es ist der Dorf-Nazi. Irgendwas muss Juli Zeh geritten haben, noch ein Tabu zu brechen, nämlich dass alle AfD-Wähler tumbe, doofe, blöde Idioten zu sein hätten. Schon tritt uns ein schwules Paar entgegen, das für die Alternativen wirbt.
Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht.«
So führt der Klappentext der gebundenen Ausgabe in Juli Zehs Roman ein, der nun als preiswerte Taschenbuchausgabe vorliegt. Ihr Debüt „Adler und Engel“ erschien vor zwanzig Jahren, wurde zu einem Welterfolg und in mittlerweile 35 Sprachen übersetzt. „Ganz nebenbei“ ist die immens produktive und erfolgreiche Autorin promovierte Juristin mit Schwerpunkt Europa- und Völkerrecht (sic!) und Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg.
Lange habe ich das für einen Fehler gehalten, aber es scheint als nutze Zeh diese Berufung, um sich geistigen Freiraum zu schaffen. Deutschland ist längst in einer geistigen Lage, in der die Kritiker sich listig verhalten müssen – und aus dieser Not entsteht (zumindest in diesem Fall) große Literatur, die sich mit dem verordneten Zeitgeist raufen – oder ihn hintergehen muss.
Juli Zeh hat mit „Über Menschen“ mehr als den „ersten echten Corona-Roman“ (SZ) vorgelegt, denn es wird sehr rasch klar, dass sich die Autorin virtuos und mit erfrischender Unvoreingenommenheit aller ideologischen Vereinnahmungen und Verortungen entzieht. Und zwar so gekonnt, dass selbst die politisch strengste Gouvernante unter den deutschen Medien, die Süddeutsche Zeitung, sie lobt. Lassen Sie sich aber davon nicht abhalten.
Juli Zeh verteidigt die Menschen. Sie entideologisiert und taucht tief in die Herzen. Und am Ende ist das dann auch ein trauriger Roman, aber er macht es uns leichter, sie wieder richtig zu sehen, unsere diversen Nachbarn, ganz ohne gefärbte Brille.
Jetzt in preiswerter Taschenbuchausgabe:
Juli Zeh, Über Menschen. Roman. btb, 416 Seiten, 12,00 €.