In den 1970er Jahren hat sich in der Theaterwelt in Deutschland eine tiefgreifende Veränderung vollzogen: Das Regietheater ist auf den Plan getreten, und die Theaterhäuser mischen sich immer mehr einseitig politisch ein. Wer nicht zustimmt, wird als reaktionär und spießig beschimpft. Erfahrungen und Anmerkungen einer langjährigen Theaterbegeisterten.
Frühe Theatererfahrungen
Meine ersten prägenden Theatererfahrungen habe ich schon als Teenager gemacht. Damals, als ich noch davon träumte, Schauspielerin oder Opernsängerin zu werden. Bis auf die Jahre, in denen ich wegen Familie, Berufstätigkeit und Wohnen fernab der Großstadt keine Muße hatte, mich abends noch einmal auf den Weg zu machen, bin ich dem Theater treu geblieben. Die Frage, was ich überhaupt von einer Aufführung erwartete, war mir bewusst noch nicht in den Sinn gekommen, als ich nach vielen Jahren meine Theaterbesuche wieder aufnahm. Vor meiner Familienpause schien es darüber in der Öffentlichkeit keine großen Meinungsverschiedenheiten zu geben. Der Regisseur sollte die Personen möglichst glaubwürdig und lebensnah erscheinen lassen, Bühnenbild und Kostüme waren – wenn auch oft stilisiert und verfremdet – im Großen und Ganzen der Zeit angepasst, in der die Handlung spielte. Das sei nun nicht mehr „in“, hörte ich jetzt. Man setze auf „moderne“ Interpretationen. Modern als zeitgemäß, als modisch – als besser? Was hatte sich inzwischen auf den Bühnen getan, fragte ich mich und war gespannt.
„Nur der Schönheit weiht ich mein Leben, einzig der Kunst und Liebe ergeben.“ Floria Toscas große, jedem Opernfan bekannte Arie ‚Vissi d’arte‘, in meiner Jugend in den Opernhäusern noch auf Deutsch gesungen, war lange ein Motto gewesen, was mir im Zusammenhang mit der Oper in den Kopf gekommen war. L’art pour l’art – sozusagen. Nach einigen Aufführungen musste ich jedoch feststellen: die Schönheit war es gewiss nicht, die viele „moderne“ Inszenierungen in den Blick nehmen wollten. Die großen Weltkriege waren der Endpunkt einer radikalen Zeitenwende gewesen, die mit der Industrialisierung, der Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Kapitalismus ihren Anfang genommen hatte. Der immer wieder aufflammende Glaube an die Schönheit und Sinnhaftigkeit des Lebens, an die Kraft des menschlichen Verstandes, an die menschliche Vernunft schien zerrüttet. Die Zerbrechlichkeit, die Hässlichkeit, die Trostlosigkeit und das Elend des Lebens, die zerstörerischen Impulse und die Labilität des Menschen waren gar zu sichtbar in den Vordergrund getreten und hatten schon lange ihren Ausdruck in den Künsten gefunden. „Der Schrei“ von Edvard Munch ist ein frühes Beispiel für diese Stimmung. Geht es darum, fragte ich mich. Soll uns die Hässlichkeit des Lebens nun auch auf den Bühnen vermehrt vor Augen geführt werden?
Auftritt Regietheater
Regietheater nennt sich die nicht von ungefähr in den 1970er Jahren entstandene neue Form des Inszenierens. Regietheater – klingt gut, dachte ich anfangs, denn erst eine gut durchdachte Regie erweckt ein Bühnenwerk überzeugend zum Leben. Fehlanzeige, stellte ich bald fest: Beim Regietheater geht es in erster Linie darum, eine neue zeitgemäße Geschichte über die historische zu legen. Es geht darum, die Geschichte „aufzupeppen“ und die Bühne mit Hilfe moderner Medien zu beleben. Es geht um neue Lesarten und radikale Neudeutungen. Vor allem geht es darum, den Zuschauer politisch aufzuklären, ihm die Welt zu erklären. Und zwar so, wie der jeweilige Regisseur sie ganz persönlich sieht – daher die Bezeichnung Regietheater.
Nun sollte man eigentlich denken, dass es sinnvoller wäre, sich für solche Neudeutungen nicht eines in früheren Zeiten angesiedelten Stoffes zu bedienen, sondern zeitgemäße Stücke selber neu zu schreiben oder in Auftrag zu geben. Stattdessen greift man mit Vorliebe auf Opern und Klassiker, auf Altbewährtes zurück: auf die Antike, auf Goethe, Schiller, Kleist, Lessing, Ibsen und Strindberg, Gogol und Tschechow. Shakespeare ist besonders beliebt. – Deren Werke werden nun „bearbeitet“, „entstaubt“, umgeformt, gewendet und gebogen, passend gemacht („Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt!“). Das ergibt dann oft ein merkwürdiges Konglomerat mit inzwischen immer wieder denselben Versatzstücken. Besonders beliebt: die Nazizeit. Wiederkehrende Orte: Bordelle, Altersheime, Krankenstationen, Bahnhofshallen, Büros, sogar Schwimmbäder und Schlachthöfe. Requisiten: Pappkronen, Spielzeugdrachen, Bildschirme, Elektro- und anderer Müll, Ikea-Möbel, Bierkästen, Plastiktüten – immer wieder Plastiktüten. Kostümierung: Die ewigen Anzüge mit Krawatte – Salome als Mitarbeiterin beim Herrenausstatter Herodes. Die ganze Oberhemd- Krawatten-Tristesse vor Augen, wenn der Vorhang aufgeht. Und für die Frauen: Kopftücher, Schürzen, großblumig gemusterte Kleider. Mimi („La Bohème“) mit Lederjacke und struppiger Perücke über den eigenen wunderschönen Haaren. Das Gefühl entsteht: es geht hier um einen Wettbewerb, wer wen am hässlichsten anziehen kann. Und nicht genug damit, dass uns der triste Alltag – und zwar auf allerunterster Ebene – bis ins Theater verfolgt. Uns werden – anscheinend mit Wonne, mit großer Ernsthaftigkeit, ohne jede Ironie – körperliche Ausscheidungen, Kopulationsgymnastik und Geräusche aller Arten vorgeführt. Erotik: ein Fremdwort. Keine Geheimnisse mehr. Es geht immer gleich „zur Sache“.
Ein Beispiel für eine Klassiker-Aufführung: Goethes „Egmont“ in Frankfurt – aus einer Kritik im Spiegel vom 6.3.2006: „Das Klärchen zieht sich aus, der Egmont zieht sich aus, aber Klärchen finde ich hässlich, und Egmont ist ein Mann. Warum isst Wilhelm von Oranien einen Joghurt von Ehrmann? Wieso wird immer nur geflüstert oder geschrien? Warum stecken die Beine vom Prinzen von Gaure in einem Teddysack? Oder war es der Herzog von Alba, als Penner verkleidet? Und wozu muss er mit einem Klebeband vom Baumarkt zugepflastert werden, und die Kalaschnikow fällt aus dem Koffer, und Pink Floyd spielt dazu?“
Ich muss lachen. Wenigstens hier beim Lesen, denn witzig soll das alles nicht sein. Witz, Doppelbödigkeit ist des Regietheaters Sache nicht. Alles ist todernst gemeint,alles muss immer ganz bedeutsam sein. Bedeutungsschwanger. Ein urdeutsches Phänomen.
Fragen an das Regietheater
Gar manches Opernlibretto ist nicht gerade so hochliterarisch, dass es – wie es heute oft geschieht – eines ganzen Programmhefts bedarf, um dem Zuschauer die Inszenierung verständlich zu machen, wenn der Reiz für ihn doch gerade in der Herausforderung liegen mag, sich seine eigenen Gedanken zu machen, dem Subtext einer Geschichte eigenständig zu folgen. Waren es nicht seit jeher die Märchen, Geschichten, Erzählungen und Theaterstücke, die uns die Geheimnisse unserer Existenz erforschen lassen, denen wir mit Spannung folgen? Und was ist so verwerflich daran, sich einen Abend lang in eine „bessre Welt“ zu begeben, Momente der Ruhe zu erleben, zum Beispiel beim ungestörten Anhören einer großen Arie, eines großen Monologs.
Warum, frage ich mich, befeuert man heute die so viel zitierte und geliebte „action“ im Sinne von oft blinder Multi-Tasking-Betriebsamkeit nun auch auf der Bühne? Ist es die deutsche Angst, vielleicht sogar Scham, tiefe Emotionen zuzulassen und zu zeigen? Es sind doch die Regungen und Konflikte der menschlichen Seele mit all ihren Facetten, die gerade die Musik, die Oper so unvergleichlich lebendig machen kann, die die Zuschauer stundenlang in gemeinsamem Erleben auf ihre Sitze bannt – wirklich bannt (ich habe es oft erlebt) – und sie das Glück, die Trauer, Freude, Verzweiflung und Leidenschaft, den Hass und die Reue der Opernfiguren in einer Art Katharsis mit empfinden und sie lachen und weinen lässt. Das kann doch nicht reaktionär sein, denke ich mir. Das ist doch zeitlos und gerade in unseren hektischen Zeiten unabdingbar, dass Vertrauen in Ruhemomente entstehen kann. Intimität.
Und wo ist die Ambivalenz hin? Die Doppelbödigkeit. Die Zwischentöne. Der Witz. Der Geist. Die sind es doch, die das Ganze spannend machen. Das ist die große Herausforderung für einen Regisseur. Und man sieht auch solche Aufführungen noch und ist gefangen. Die Bühne hat einen Jahrhunderte alten ständig gewachsenen Erfahrungsschatz der Gestaltung – ihren ganz ihr eigenen – ja, ich nehme das Wort in den Mund – Zauber.
Aber vor allem: die Bilder, die unsere Realität darstellen sollen, sind heute übermächtig und allgegenwärtig in unseren Medien vertreten. Dokumentationen und Spielfilme können uns auf nie da gewesene Weise die Schrecken und die Brutalität des Weltgeschehens nahe bringen. Die Bühne kann das einfach nicht leisten, weil sie trotz aller Video-Reize nicht die Mittel dazu hat. Im Vergleich zu der Macht der Filmbilder wirken die Bühnenversuche mit manchmal auch schauspielerisch wenig befähigten Sängern und handwerklichen Defiziten der Regie oft derart lächerlich, schlecht gemacht, dilettantisch und unendlich peinlich auf mich, dass ich dann nur damit beschäftigt bin, wie ich die Zeit überstehen kann, und mit niedergeschlagenen Augen warte, bis das Ganze endlich vorüber ist. – Es gibt da auch viele Kleinigkeiten, über die ich einfach nicht hinweg komme. Nur ein Beispiel: Es sterben ja bekanntermaßen viele auf der Bühne. Violetta, La Traviata, liegt den ganzen letzten Akt lang im Sterben – so sagt man. Aber in der von mir kürzlich gesehenen Inszenierung steht sie im Sterben, weil einfach kein Bett da ist. Sie leidet furchtbar, aber ich leide fast noch mehr, weil mir so weh tut, dass sie sich im Sterben nicht hinlegen darf, dass ich mich nicht mehr auf die Musik konzentrieren kann.
Die Rolle des Theaterbesuchers
Der Abonnent und Theaterbesucher muss tapfer sein. Seit Jahren muss er es sich gefallen lassen, pauschal als spießig und reaktionär, puristisch, provinziell, realitätsflüchtig und „nur auf Kulinarik aus“ beschimpft zu werden, wenn er nicht „mit der Zeit geht“, so wie sie das Regietheater vorgibt. In einem Interview verglich ein Regisseur das Publikum einmal mit Puristen, mit Menschen, die immer nur dieselbe gewohnte Nahrung zu sich nehmen wollen und protestieren, wenn ihnen mal etwas Anderes vorgesetzt wird. Ich gehe davon aus, dass der Regisseur damit sagen wollte, er biete „Anderes“. Also per se Besseres? Davon schien er ohne Weiteres auszugehen. Aber da hinkt der Vergleich, denn gerade um die Qualität dieses „Anderen“ geht es doch! Setzt man dem Publikum wirklich gute oder bessere „Gerichte“ vor, wird es sie sicher nicht ablehnen. Und es gibt sie, die besseren „Gerichte“. Was Regie vermag – auch „moderne“ – kann man auch heute noch an vielen Beispielen bewundern. Aber dafür braucht es viel Wissen, Erfahrung und Können. Die britischen Inseln haben darin eine große Tradition. Allein in London gibt es etwa 50 Theater, die einen ganz anderen hoch professionellen Maßstab setzen und keine Scheu davor haben, Gefühle zu zeigen.
Inzwischen hat die Theaterlandschaft sich so eindeutig für die Position Angela Merkels in der Flüchtlingsfrage engagiert, dass z.B. der lettische Regisseur Alvis Hermanis im vergangenen Dezember seine Regieverpflichtung am Hamburger Thalia-Theater abgesagt hat, weil er sich von dem allgemeinen Tenor der Bühnen distanzieren wollte. Wo das Theater inzwischen gelandet ist, kann man auch an dem im November 2015 von der Schaubühne produzierten Stück „Fear“ aufzeigen. Alexander Kissler beschreibt das Stück im „Cicero“ wie folgt:
„Subtil geht es nicht zu in Falk Richters Agitproptheater, das eine Gesinnungsgemeinschaft herstellen will zwischen Bühne und Publikum, zur Abwehr der „Untoten“, die für kein Argument zugänglich seien. Diese „Untoten“ betreiben laut Richter mittels Pegida, AfD, NSU, Front National und der Gender-kritischen „Demo für alle“ das böse Geschäft der alten Nazis. Eine rassisch reine Nation wollen sie haben. Da helfe als Gegenmittel nur, den „Zombies“ „direkt ins Gesicht“ zu schießen und ihr „Gehirn auszulöschen. Das ist die einzige Möglichkeit.“ Die „Zombies“ seien auferstanden aus den „Massenvernichtungslagern und Leichenbergen der Schlachtfelder“, nun stolperten sie „mit blutleeren Augen durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten“ oder gar mitten hinein in die Politik, wo sie „Angst erzeugen, Hass säen und Menschen vernichten.“ (Hervorhebungen von mir.)
Zwei der betroffenen Frauen („Demo für alle“-Organisatorin Hedwig von Beverfoerde und AfD-Vize Beatrix von Storch, deren Bilder auf der Bühne dauerpräsent sind,) haben eine einstweilige Verfügung beantragt. Die wurde inzwischen abgewiesen. – Alexander Kissler hat die „Schaubühne“ in seiner Rezension dazu aufgefordert, nach jeder Vorstellung von „Fear“ eines ihrer Hassobjekte zu einem Streitgespräch einzuladen. Die Schaubühne ist jedoch das, was sie den „Zombies“ vorwirft, nämlich „für kein Argument zugänglich“. Und letzte Frage: „Warum soll ich eigentlich noch ins Theater gehen, wenn man dort von mir erwartet, „ein Teil einer Gesinnungsgemeinschaft“ zu sein – oder zu werden?
Ingrid Ansari war Dozentin am Goethe-Institut.