Tichys Einblick
Wokes Biedermeier:

Bachs Weihnachtswunder ohne große Überraschungen

Der diesjährige Weihnachtsfilm der ARD schöpft aus einem ganz tiefen Brunnen. “Bach - Ein Weihnachtswunder” erzählt eine fiktive Geschichte voll süßlicher Klischees rund um die Entstehung von Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium und bietet ein wenig Feminismus zum Drüberstreuen.

Devid Striesow, Verena Altenberger und Ludwig Simon bei der Premiere des ARD TV-Films Bach -Ein Weihnachtswunder im Paulinum.

IMAGO / Future Image

Die Erwartungshaltung an deutsche Filmproduktionen – noch dazu in historischem Setting – ist erfahrungsgemäß gering. Vor allem aus öffentlich-rechtlichem Hause erwartet wohl kaum jemand den großen Wurf, sodass die Ankündigung von “Bach – Ein Weihnachtswunder” (ARD/ORF 2024) niemanden auf die definitive Komponistenbiographie hoffen ließ. Und doch: In den letzten 20 Jahren hat sich durchaus die Meinung etabliert, dass auch fiktive Historienfilme gut recherchiert und an realen Vorlagen orientiert sein sollten.

Eines kann man gleich sagen: Viel Reales ist in “Bach – Ein Weihnachtswunder” nicht zu finden. Gewiss, die Figuren tragen Namen real existierender Menschen aus Bachs Familie und Umfeld, damit hört es dann aber schon wieder auf. Bachs Söhne Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann scheinen nicht nur optisch, sondern auch charakterlich am Schreibtisch der Drehbuchautoren vertauscht worden zu sein, Unterstützer Bachs im Stadtrat Leipzigs werden zu dessen Feind umgedichtet und jene Kinder von Bach, über die kaum etwas überliefert ist, erhalten aufwendige Subplots um möglichst alle erwartbaren Handlungsklischees irgendwie in 90 Minuten unterzubringen.

Vor allem die Klischees springen unmittelbar ins Auge und setzen früh den Ton für den Film. Diese reichen von Klassikern, wie hänselnden Kindern, die auf den gestrengen Zuruf von Anna Magdalena Bach sich sofort kleinklaut beim geistig behinderten Gottfried Bach entschuldigen, über Elisabeth Bachs sehnlichen Wunsch nach einem Weihnachtsbaum – auch wenn diese Tradition im Jahr 1734 noch in ihren Kinderschuhen steckte – bis hin zu modernen Konzessionen an den Zeitgeist, wenn Mutter und Tochter sich über die Rolle der Frau in der Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts kritisch austauschen. Selbst eine Wut-Improvisation Bachs an der Orgel scheint direkte Anleihen beim schwer erträglichen “Schlafes Bruder” zu nehmen.

Klischees aus der Retorte

Klischees müssen nicht zwingend etwas Schlechtes sein. Der Unterschied zwischen einem Klischee und einem Archetypus kann schlicht und ergreifend in der Qualität der Umsetzung liegen, doch leider ist es die Umsetzung, an der es in “Bach – Ein Weihnachtswunder” häufig krankt. Denn wenn Klischees nicht organisch in eine Handlung eingebettet sind, sondern die Handlung eher wie ein Vehikel anmutet, das dazu dient, den Moment von einem Klischee zum nächsten zu überbrücken, dann fehlt es offensichtlich an der verbindenden Vision.

Die Klischeehaftigkeit wird aber nur selten zu etwas Höherem, so z.B. in dem Moment, in dem Anna Magdalena Bach, die wieder einmal schwanger ist, Blumen an das Grab ihrer sieben früh verstorbenen Kinder bringt. Allerdings ist die hohe Kindersterblichkeit im kinderreichen Hause Bach ein bekannter dunkler Schleier, der sich über die Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs legt, den narrativ auszuschlachten keine allzu große Leistung darstellt. Der Verlust so vieler Kinder ist, selbst in heutigen Zeiten der Reproduktionsverweigerung, ein für nahezu jedermann nachvollziehbares und unvorstellbares Leid, das filmisch nur schwer zu vernebeln ist.

Doch all das andere Drama, das den Film vorantreiben soll, erscheint nicht nur, sondern ist auch an den Haaren herbeigezogen. So gibt es nicht nur historisch keinen Beleg für Skepsis der Stadt Leipzig gegenüber dem Weihnachtsoratorium, geschweige denn ein Verbot (nota bene am 23.12. überbracht!) desselbigen, auch der aufgeblasene und erfundene Konflikt mit Philipp Emanuel Bach und seinem Vater wirkt, als wäre er einer Folge von “Gute Zeiten, schlechte Zeiten” entflohen und handelt von wenig mehr, als dem immer wieder vorgetragenen Vorwurf, der Sohn vergeude seine Zeit damit, Hochzeiten und Beerdigungen zu spielen, wo doch gerade diese “Kasualien” das täglich Brot eines Kirchenmusikers wie Bach waren und dabei auch oft gutes Geld verdient werden konnte.

Rastlosigkeit und Wohlfühlinklusion

Um dem Ganzen die nötige Aufgeregtheit und Dringlichkeit zu verpassen, überschlagen sich die Plotbestandteile schon mal gerne. Fast scheint es, als hoffte man etwas von dem Charme alter Komödien von Louis de Funès abgreifen zu wollen, in denen das Tohuwabohu sich am Ende meist doch glücklich auflöste. Doch anstatt an dieses Chaos heranzuführen, setzt “Bach – Ein Weihnachtswunder” von Anfang an auf Hektik. Wenn Protagonisten über die Straße gehen, tun sie das immer forschen Schrittes, immer läuft ihnen jemand kurz vor die Beine, es wird gefallen, gelaufen, geschrien, immer begleitet von der Steadycam, die selbst einer Straßenüberquerung die hektische Dynamik eines Ärzteteams auf dem Weg zur Not-OP verleiht. Unterstützt wird diese Rastlosigkeit von einer Schnittpolitik, die nie eine Szene in sich ruhen lässt, oder diese abschließt, sondern die immer gefühlt eine Fraktion zu früh in den nächsten Moment der Aufregung springt. Eine mögliche Atmosphäre, die es einem erlaubt, in die Zeit einzutauchen, kommt so gar nicht erst auf.

Das ist schade, denn visuell sieht der Film nicht schlecht aus. Natürlich, die meisten Drehorte stimmen nicht überein, die Kostüme sind wohl auch mehr Schein als Sein, aber für einen Weihnachtsfilm über Bach ist es allemal gut genug. Auch Devid Striesow, der Johann Sebastian Bach spielt, sieht mit Perücke dem Vorbild nicht unähnlich. In punkto charakterlicher Ausgestaltung bleibt er allerdings näher am Stereotyp des modernen gestressten Familienvaters der Vorweihnachtszeit, der darüber hinaus die “wahren Werte” (“Menschen”, wie der Zuschauer am Höhepunkt des Films von der wütenden Anna Magdalena erfährt) der Weihnacht vergisst, als an einer tatsächlichen Annäherung an Johann Sebastian Bach, der hier in die Schublade des leicht cholerischen, missverstandenen Genies gestopft wird und sich damit begnügen muss.

Und natürlich fallen auch die tagespolitischen Konzessionen an den Zeitgeist mehr als deutlich auf. Neben den bereits erwähnten Gesprächen über die Rolle der Frau in der Kirchenmusik, ist auch der frei erfundene Brief, der Anna Magdalena zur Hofsängerin befördern würde, während Johann Sebastian immer wieder ignoriert wird, ein leicht durchschaubarer Wink mit dem Zaunpfahl, der suggerieren soll, Anna Magdalena hätte eigentlich eine bessere Karriere als ihr Mann haben können, hätte dieser sie nicht zur Gebärmaschine reduziert.

Das Klima wird zwar im Film nicht thematisiert, dafür bekommt der bereits erwähnte Gottfried Bach eine relativ große Rolle zugewiesen. Über den vermutlich geistig behinderten Gottfried ist nur wenig bekannt, außer dass er auch als Erwachsener einen Vormund benötigte und “zur Musik inclinirt” war. Sein Bruder Philipp Emanuel beschrieb ihn später als “ein großes Genie, welches aber nicht entwickelt ward”.

Im Film aber wird Gottfried zur absoluten Schlüsselfigur und erfüllt ebenfalls eine Reihe von Klischees, die aus der Darstellung geistig Behinderter in Film und Fernsehen bekannt sind. Ihm gehört auch der letzte Moment im Film, als der Eröffnungschor des Weihnachtsoratoriums “Jauchzet, frohlocket” erklingt und Gottfried mitten in der Kirche während des Gottesdienstes zu tanzen beginnt, was eine Welle der Inklusion auslöst, als Stadträte gerührt drein blicken und Anna Magdalena lachend ihrem Erstgeborenen beim nicht historisch verbürgten Kirchentanz zusieht.

Mehr Zeitdokument des Jahres 2024, als Bach-Film

Historisch? Nein. Zuckersüß? Ach, wäre es denn wenigstens so. Denn nicht jeder Historienfilm muss den neuesten musikhistorischen Standards entsprechen. An den DDR-Vierteiler nach Drehbuch des Bach-Biographen Klaus Eidam kommt der Film ohnehin nicht heran, aber zumindest ein süßliches Weihnachtsidyll hätte es bei aller künstlerischen Freiheit doch werden können. Auch das hat Tradition. Als Esther Meynell 1925 “Die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach” veröffentlichte, sagte die Erzählung mehr über den romantisierenden Zeitgeist der 20er Jahre aus, als über Bach. Und als 1968 der experimentelle Film “Chronik der Anna Magdalena Bach” Musikaufführungen bekannter Alte-Musik-Pioniere wie Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt in Kostüm und Perücke aneinanderreihte und das Ganze in bester Nouvelle-Vague-Tradition mit symbolbeladenen Aufnahmen des Meeres (weil Bach so tief wie ein Ozean war; Anm. d. Red.) anreicherte, war sofort deutlich, dass es sich hier um einen 68er-Film und nicht um eine historische Annäherung an Bach handelte.

So wird sich, wenn der Film nicht ganz vergessen wird, auch “Bach – Ein Weihnachtswunder” in die Riege jener Zeitdokumente einreihen, die mehr über ihre Zeit, als über das zu behandelnde Thema aussagen. Und so schön und unerwartet es auch sein mag, dass auch 2024 Johann Sebastian Bach noch als Sujet für einen Weihnachtsfilm herhalten kann, so bleibt doch ein ernüchternder Beigeschmack. Denn gerade im Vergleich zu anderen Bach-Zeitdokumenten wird deutlich, in welcher Epoche wir uns künstlerisch befinden. Die verzweifelte Suche nach einem nahezu biedermeierlich anmutenden Idyll trifft dabei auf eine Hektik der Gestaltung, die fast schon Angst davor zu haben scheint, einen Moment der Ruhe zuzulassen. Moderne Hypermoral trifft auf eine historische Epoche, der man sich zwar bewundernd, aber letztlich unwissend und hilflos annähert. Und das womöglich größte musikalische Genie, das je auf Gottes Erdenrund wandelte, trifft auf ein Filmproduktionsteam, das es selbst bei besten Absichten nicht geschafft hat, das Klischeehafte zu übersteigen und zumindest eine kohärente, einfache Weihnachtsgeschichte abzuliefern, die berührt ohne abgeschmackt zu wirken.

Ist es also empfehlenswert, sich “Bach – Eine Weihnachtsgeschichte” anzusehen? Nun, das hängt davon ab, mit welcher Einstellung man in den Film geht. Wer einen biographisch halbwegs nachvollziehbaren Bach-Film erwartet, wird schwer enttäuscht werden. Wer einen weihnachtlichen Wohlfühlschinken sucht, könnte schon eher auf seine Kosten kommen, wird aber vom Sujet womöglich eher abgeschreckt werden. Die Zielgruppe dürften somit eher, nicht ARD-untypisch, ältere Semester ohne allzu großes Bach’sches Fachwissen sein, die emotional am musikalischen Bildungserbe Deutschlands hängen und sich gerne auch schon mal kritisch geben, wenn es um die Rolle der Frau im Barock geht. Allerdings kann der Film auch für jene unterhaltsam sein, die eben recht viel über Bach wissen und diesen Film bewusst als einen leidlich gemachten B-Movie sehen. Für mehr als das fehlt es der Produktion letztlich an Charme.

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