Fünfundsiebzig Jahre ist es her, dass die deutsche Wehrmacht ihre bedingungslose Kapitulation erklärte. Nicht am 8. Mai, wie fälschlicherweise viele meinen, sondern einen Tag zuvor. Am 7. Mai unterschrieb Generaloberst Alfred Jodl im Auftrag der deutschen Reichsregierung im französischen Reims die Kapitulationsurkunde. Nur weil Stalin darauf bestand, den triumphalen Akt im Hauptquartier der Sowjets ein zweites Mal durchzuführen, wurde die Zeremonie am nächsten Tag in Berlin wiederholt. Auch hier erfolgte die Unterschrift aber nicht am 8. Mai, sondern erst kurz nach Mitternacht – weshalb Russland den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ einen Tag später feiert.
Wenn in Deutschland an das Kriegsende vor 75 Jahren erinnert wird, gibt nicht nur das falsche Datum zu denken. Problematischer erscheint, wie das Ende eines der mörderischsten Regime der Weltgeschichte umgedeutet wird. Nicht nur Spitzenpolitiker der Linken, auch die Bundestagsfraktionen von FDP und Grünen haben gefordert, den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zum bundesweiten Feiertag zu machen. Den Berlinern hat die rot-rot-grüne Landesregierung aus diesem Anlass bereits einen zusätzlichen Feiertag in diesem Jahr genehmigt. Unmerklich haben sich die Deutschen damit von der Täter- auf die Opferseite der Geschichte geschummelt.
In Wirklichkeit dachte vor 75 Jahren niemand daran, die Deutschen zu befreien. Die Alliierten wollten sie vielmehr militärisch schlagen – und zwar so nachhaltig, dass sie bedingungslos kapitulierten. Selbst die Amerikaner, die den größten Anteil daran hatten, dass die Bundesrepublik zu einem demokratischen Staatswesen wurde, sahen sich keineswegs als Befreier. In der Direktive 1067, die der amerikanische Präsident Harry S. Truman am 10. Mai 1945 billigte, wurde dem Vereinigten Generalstab der USA vielmehr ausdrücklich vorgeschrieben, dass Deutschland „nicht besetzt [wird] zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat“.
Die Sowjetunion hatte erst recht nicht vor, die Deutschen zu befreien. Als die Rote Armee am 12. Januar 1945 ihren Angriff auf Ostpreußen begann, befahl der Chef der 3. Weißrussischen Front, Marschall Tschernjakowski, vielmehr seinen Soldaten: „Zweitausend Kilometer sind wir marschiert und haben die Vernichtung all dessen gesehen, was wir in zwanzig Jahren aufgebaut haben. Nun stehen wir vor der Höhle, aus der heraus die faschistischen Angreifer uns angegriffen haben. Wir bleiben erst stehen, nachdem wir sie gesäubert haben. Gnade gibt es nicht – für niemanden, wie es auch keine Gnade für uns gegeben hat. […] Das Land der Faschisten muss zur Wüste werden.“
Auch die Deutschen waren weit davon entfernt, den alliierten Streitkräften jubelnd entgegenzulaufen. Dazu trug nicht nur das schockierende Verhalten der Rotarmisten gegenüber der Zivilbevölkerung bei. Vielmehr identifizierte sich die Bevölkerung bis zum bitteren Ende mehrheitlich mit dem Regime der Nationalsozialisten. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern kam es in Deutschland weder zur Bildung von Partisaneneinheiten noch zu lokalen Aufständen. Auch der Widerstand blieb marginal.
Vor allem an der Ostfront leisteten die deutschen Soldaten erbitterten Widerstand gegen den Vormarsch der Alliierten – selbst dann noch, als der Krieg längst verloren war. Die Kämpfe gingen sogar dann noch weiter, nachdem Hitler am 30. April 1945 Selbstmord begangen hatte. Als Berlin am 2. Mai endlich kapitulierte, waren bei der mehr als zweiwöchigen Schlacht um die deutsche Hauptstadt noch einmal 170.000 Soldaten ums Leben gekommen. Für Historiker steht deshalb außer Frage: Nicht Deutschland wurde vor 75 Jahren befreit, sondern Europa von den Deutschen.
Als die Deutschen endlich niedergerungen waren, dachten die Alliierten folgerichtig nicht daran, ihnen nun die Freiheit zu schenken. Bedingungslose Kapitulation bedeutete vielmehr, dass Deutschland jedes Recht verloren hatte, über seine Zukunft selbst zu befinden. Ausländische Truppen besetzten sein gesamtes Territorium. In der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 legten die vier Alliierten fest, dass sämtliche Regierungsgewalt bis hinunter zu den Kommunen bei den Besatzungsmächten lag. Jede – auch anti-nazistische – politische Betätigung musste von ihnen genehmigt werden. Die Situation im Mai 1945 ähnelte mehr einer Militärdiktatur als einem demokratischen Neubeginn.
Für Millionen Deutsche bedeutete das Kriegsende sogar das Gegenteil von Befreiung. Durch die Kapitulation der Wehrmacht gerieten die meisten deutschen Soldaten in Gefangenschaft, am Ende waren es 11 Millionen. Mehr als 12 Millionen Deutsche wurden zudem aus ihrer Heimat in den Ostgebieten und in Ostmitteleuropa vertrieben. Auch in den vier Besatzungszonen wurden Hunderttausende Zivilisten verhaftet. Die Sowjetunion installierte in ihrer Zone quasi bruchlos eine neue Diktatur, die bis 1989 fortbestand.
Zweifellos war das Kriegsende für die Häftlinge in den deutschen Konzentrationslagern eine Befreiung. Dasselbe gilt für die Millionen ausländischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. Auch die rassisch Verfolgten und die Gegner des Hitler-Regimes konnten nun aufatmen. Aber die überwiegende Mehrheit der Deutschen stand auf der anderen Seite der Barrikade. Umso erstaunlicher mutet es an, wie selbstgewiss sich viele Deutsche heute bei den Opfern und Gegnern des Nationalsozialismus verorten.
Das Bedürfnis, die Täterrolle abzustreifen, lässt sich schon früh beobachten. Vor allem in der DDR definierte man sich mit rasender Geschwindigkeit von der Verlierer- auf die Siegerseite. Schon 1950 wurde der 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zum staatlichen Feiertag erhoben und hinfort mit großem Propagandaaufwand zelebriert. Bis 1967 und noch einmal 1985 war dieser Tag arbeitsfrei. Die SED-Führung tat geradezu so, als hätte die „antifaschistische“ DDR den Sieg über Hitler mit herbeigeführt. Obwohl in ihrem Regime von Freiheit keine Rede sein konnte, bildete der Mythos von der Befreiung durch die Rote Armee dessen wichtigste Legitimationsgrundlage.
Dass diese Propaganda überhaupt verfangen konnte, lag vor allem daran, dass sie den Ostdeutschen die Möglichkeit der Entlastung bot. Wenn Deutschland 1945 vom „Faschismus“, wie der Nationalsozialismus in der DDR stets genannt wurde, befreit worden war, brauchten sie sich mit eigener Schuld und Verstrickung nicht mehr auseinandersetzen. Gleichzeitig erweckte die SED den Eindruck, dass es ehemalige Nazis ausschließlich in der Bundesrepublik gab, was keineswegs der Fall war. Auf diese Weise wurde Hitler für viele DDR-Bürger, wie es der Historiker Peter Bender einmal formulierte, zum Westdeutschen.
In der Bundesrepublik setzte die Umdeutung des Kriegsendes erst sehr viel später ein. Eine Zäsur bildete dabei die Rede des christdemokratischen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker von 1985. Bei einer Gedenkstunde zum vierzigsten Jahrestag der Kapitulation erklärte er im Deutschen Bundestag: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Diese Feststellung war umso bemerkenswerter, als von Weizsäckers Vater bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war und er selbst ihn mit verteidigt hatte.
Nach von Weizsäckers Rede wurde die Fiktion eines antifaschistischen Deutschland, das von den Alliierten befreit worden sei, auch in Westdeutschland begierig aufgegriffen. Nach und nach avancierte sie fast zu einer Art Staatsräson der Bundesrepublik. Schon zehn Jahre später ließ es sich das inzwischen vereinigte Deutschland nicht nehmen, den Tag gemeinsam mit den Siegermächten zu feiern. Am 8. Mai 1995 lud Bundespräsident Roman Herzog deshalb zu einem Staatsakt nach Berlin, an dem auch die Spitzen der einstigen Alliierten teilnahmen.
Zum 60. und 70. Jahrestag hielten die Bundespräsidenten Ansprachen mit einem ähnlichen Tenor. So bedankte sich Horst Köhler 2005 bei „den Völkern, die Deutschland besiegt und vom Nationalsozialismus befreit“ hätten. Zehn Jahre später erklärte Joachim Gauck, dass der Krieg erst endete, als die Alliierten Deutschland zur Kapitulation gezwungen hätten „und uns Deutsche damit auch von der Nazi-Diktatur befreiten.“ Bei einer Gedenkstunde im selben Jahr zitierte Bundestagspräsident Norbert Lammert von Weizsäckers Satz und fügte hinzu, dass diese Wahrnehmung inzwischen von einer breiten Mehrheit der Deutschen geteilt werde. Nur der Historiker Heinrich August Winkler machte die Parlamentarier damals darauf aufmerksam: „Es war nicht so, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen den Sieg der Alliierten im Mai 1945 als Befreiung erlebt hätte.“
Wenn es nach den politischen Eliten der Bundesrepublik gegangen wäre, hätte Deutschland auch den 75. Jahrestag der Kapitulation als Akt der Befreiung gefeiert. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte bereits zu einem Staatsakt vor dem Reichstagsgebäude mit zahlreichen Gästen aus dem In- und Ausland geladen. Im ganzen Land waren Veranstaltungen geplant, bei denen sich die Deutschen als Befreite präsentieren wollten. Nur weil das öffentliche Leben aufgrund der Corona-Pandemie fast vollständig heruntergefahren wurde, musste das meiste abgesagt werden.
Jetzt wird es nur noch eine Kranzniederlegung an der Neuen Wache in Berlin geben, anschließend wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Rede halten. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht werden dabei weitgehend unter sich sein. Vielleicht ist dies ganz gut so, damit sich das schiefe Selbstbild der Deutschen nicht weiter einschleift. Denn Deutschland wurde 1945 nicht befreit, sondern besiegt und Ostdeutschland blieb auch danach noch jahrzehntelang eine Diktatur. Dass die Deutschen trotz ihrer Verantwortung für bis zu 80 Millionen Tote heute über ihre Geschicke selbst bestimmen dürfen, ist ein großes historisches Glück, für das sie gar nicht genug dankbar sein können.
Der Autor ist Historiker und Autor des Buches „Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland“