Chemtrails sind von gestern. Die neue Avantgarde um Fernsehkoch Attila Hildmann wird nach eigenen Angaben von Tempelrittern überwacht. Der Popsänger Xavier Naidoo bestreitet die Globusgestalt der Erde, Aliens seien in Wirklichkeit Dämonen – und der Weltraum eine Lüge. Der ehemalige Focus-Journalist Oliver Janich proklamierte Anfang Mai, dass am 14.5. die Diktatur in Deutschland beschlossen werde und prophezeite, dass eine Pflichtimpfung und Mikrochip-Implantierung folgen werde, die er als „Biowaffen-Angriff“ bezeichnete. Daneben sprießen auf YouTube die Kanäle von kleinen und großen Welterklärern wie Pilze aus dem Boden, mit zehntausenden Abonnenten und sechsstelligen Zuschauerzahlen. Einer davon ist Hans-Joachim Müller, der täglich referiert, dass Putin und Trump die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1914 beschlossen hätten, doch Kräfte wie das „Komitee“, die UN, die Queen, sowie der Vatikan erhielten die BRD GmbH am Leben. Neben dieser Crème de la Crème der Verschwörungstheorien wirkt das von Kardinal Gerhard Müller unterzeichnete Viganò-Papier geradezu harmlos.
So wurde Kardinal Müller vorgeworfen, tief im Verschwörungssumpf zu stecken, weil er sich negativ über die Freimaurerei äußerte – ohne die Erfahrungskultur in der katholischen Kirche hinsichtlich der Freimaurerei zu beachten. Insgesamt sieben Mal hat Leo XIII. über den verderblichen Einfluss der Freimaurer geurteilt. In „Inimica vis“ nennt der Pontifex sogar das Wort „coniurata“, wenn er feststellt, dass die freimaurerische Sekte mit ihrer „giftigen Infektion“ ganze Gemeinschaften durchdrungen habe und in allen Institutionen Italiens Fuß fassen wolle, „in ihrer Verschwörung, das italienische Volk gewaltsam seines katholischen Glaubens zu berauben“. Ist Leo XIII. demnach der Papst der Verschwörungstheoretiker? Es hieße, die Geschichte umschreiben zu wollen, redete man die Rolle der italienischen Freimaurerei im Risorgimento klein.
Die Verschwörungstheorie bezeichnete im 19. Jahrhundert noch das, was sie aussagt: die Vermutung über ein Komplott zum Regierungsumsturz. Karl Popper definiert in seinem Klassiker „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ von 1945 den Begriff bereits anders: „Diese Theorie behauptet, dass die Erklärung eines sozialen Phänomens in dem Nachweis besteht, dass gewisse Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren, und dass sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. Ihre Interessen sind verborgen und müssen erst enthüllt werden.“ Schon um 1900 hatte die Verschwörungstheorie ihren pejorativen Unterton angenommen; 1909 erschien in der Historikerzeitschrift American Historical Review die Feststellung, dass es keinerlei Quellenbelege dafür gebe, dass der Senator von Missouri für die Rücknahme des Missouri-Kompromisses verantwortlich gewesen sei; es handele sich um eine Verschwörungstheorie. Spekulationen, dass die Umformung zum Kampfbegriff oder gar die Erfindung der Verschwörungstheorie als solcher der CIA zuzuschreiben sei, gehören daher ins Reich der Legenden.
Der anti-elitäre Bestandteil der Verschwörungstheorie ist prägend; das heißt aber nicht, dass jede anti-elitäre oder gruppenskeptische Vermutung gleich eine Verschwörungstheorie ist. Das Verschwörungsziel ist die Unterwanderung von Staat und Gesellschaft. Während der moderne Antisemitismus zu einem nicht geringen Teil auf Verschwörungstheorien fußt, gilt das demnach nicht für die Judenfeindlichkeit des Mittelalters. Die Vorwürfe gegen die mittelalterlichen Juden sind religiös motiviert, ihr Anteil an den politischen Geschäften aber zu gering, als von einem „Weltjudentum“ auszugehen, das über Rothschild und Co. die Strippen zieht. Ähnliches gilt für die verfolgten Christen im alten Rom, wie auch für die Hexen der Frühen Neuzeit: Der Sündenbockcharakter ist hier maßgeblich, nicht der Verschwörungscharakter. Insbesondere im Mittelalter mit seiner feudal-personalen Verstrickung und seinen weiten Distanzen, die kaum kontrolliert werden können, ist die Vorstellung einer auf massive Transformation drängende Verschwörungsgruppe absurd.
Erst mit dem Beginn des modernen Verwaltungsstaates sind Verschwörungstheorien im heutigen Sinne auch denkbar. Sie sind eng mit der Reformation verbunden: Die Protestanten nehmen die katholische Kirche als anti-christlichen Widersacher wahr. Rom ist das Babel der Apokalypse – und damit ein übermächtiger Feind, der global seine Netzwerke unterhält. Die Jesuiten mit ihrer hierarchischen, elitären und weltumspannenden Organisation sind der Prototyp des perfekten Geheimbundes, die „Jesuitenverschwörung“ wird zur Mutter der modernen Verschwörungstheorie, die vom „papistischen Ausland“ gesteuert wird. In der gesamten angelsächsischen Welt besitzen anti-katholische Verschwörungstheorien Kontinuität, von der frei erfundenen Papisten-Verschwörung von 1678 bis hin zu der anti-katholischen Hysterie in den USA des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1563 brachte John Foxe mit dem „Book of Martyrs“ nicht nur eine Hagiographie anglikanischer Opfer der römischen Kirche heraus, sondern füllte es mit den absurdesten anti-katholischen Vorwürfen, die das englische Publikum aufnahm; Samuel Morse, der Erfinder des gleichnamigen Gerätes, behauptete 1835, der österreichische Staatskanzler Metternich schleuste Jesuiten in die USA ein, um einen habsburgischen Kaiser zu installieren; gekrönt wurden diese Behauptungen von dem Vorwurf, der Kapitän der Titanic sei Jesuit gewesen und habe das Schiff mit Absicht versenkt, um politisch unangenehme Geschäftsleute zu töten.
Mit der jüdischen Emanzipation und dem grassierenden Antisemitismus um die Jahrhundertwende folgte ein neues Verschwörungskapitel, das bis in den Zweiten Weltkrieg Bedeutung hatte. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ als Beleg für eine neue Stufe des Verschwörungswahns ist auch deswegen bemerkenswert, weil sich die elementarsten Vorwürfe kaum von denen gegen die Jesuiten unterscheiden. Sie stehen in einer direkten Linie zu den „Monita Secreta“ von 1614 – eine antijesuitische Schrift und Urgroßmutter aller verschwörungstheoretischen Handbücher.
Die Patin aller „neuen Weltordnungen“ ist damit die Katholische Kirche selbst. Sie ist die älteste internationale Organisation der Welt. Dass sich sämtliche Verschwörungstheorien aus einem anti-katholischen oder aufklärerischen Geist speisen, ist heute selbst den meisten Katholiken, die sie verwenden, kaum noch bekannt. Die Renaissance der Verschwörungstheorie verwundert in einem säkularen wie anti-christlichen Milieu wenig. Und dass der Papst Jesuit ist – sowieso nicht.
Dieser Beitrag von Marco F. Gallina erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.
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