Anfang 1973, vor 50 Jahren, veröffentlichte der amerikanische Verhaltensforscher John B. Calhoun die Ergebnisse seines bislang umfangreichsten Experiments an Mauspopulationen. Das Experiment „Universe 25“ wurde berühmt, Calhouns Forschungen zur Frage der Auswirkungen von Überbevölkerung wurden von sowohl Befürwortern, als auch Kritikern heiß diskutiert. Zweifelsohne traf Calhoun damit auch den Zeitgeist dieser Epoche, denn erst ein Jahr zuvor hatte der Club of Rome sein berüchtigtes Manifest „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht und damit Ängste vor unkontrolliertem Wachstum salonfähig gemacht. 50 Jahre später, jedoch, lohnt es angesichts einer rückläufigen demographischen Entwicklung in weiten Teilen der Welt, einen neuen Blick auf Calhouns epochales Experiment zu werfen.
Calhoun hatte sich bereits seit den späten 40er Jahren mit der Erforschung sozialer Strukturen bei Nagetieren befasst, wobei er vor allem Fortpflanzungs- und gruppendynamische Prozesse beobachtete. Seine Forschungen kulminierten im größten seiner Projekte, dem sogenannten „Universum 25“, in dem er 1968 vier Mauspaare in einem veritablen Mäuseutopia aussetzte. Den Nagern stand ein in vier Abschnitte unterteiltes Areal zur Verfügung, mit (zumindest für den Anfang) viel Raum zum Nestbau, keinen natürlichen Feinden, sowie unbegrenzten Wasser- und Nahrungsvorräten.
Nach einer Eingewöhnungsphase der Nager begannen diese sich exponentiell zu vermehren, die Verdopplungsrate der Population lag bei 55 Tagen. Aber nach etwas über 300 Tagen begann die Wachstumsrate deutlich zu verlangsamen und die Population verdoppelte sich nur noch alle 145 Tage. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich einige Auffälligkeiten ab. Die gebärfähigen Weibchen verteilten sich nicht gleichmäßig über das gesamte Areal, sondern bündelten sich in bestimmten Zonen. Da die vier „Zonen“ des gesamten Areals allerdings nur über bestimmte Punkte zugänglich waren, bildeten sich Dominanzhierarchien heraus, in denen territorial-dominante Männchen anderen Mäusen den Zugang zu bestimmten Zonen mit Weibchen versperrten. Während diese dominanten Mäuse untereinander die Herrschaft über ihren Harem ausfochten, blieben weite Teile der männlichen Mauspopulation zunehmend von der Fortpflanzung ausgeschlossen.
Gesellschaftlicher Zerfall trotz Überfluss
Innerhalb dieser rezessiven Gruppe von Männchen waren ebenfalls ungewöhnliche Verhaltensmuster anzutreffen. Der Überschuss männlicher Mäuse ohne Funktion innerhalb des sozialen Gefüges zog sich nach und nach aus dem Balzprozess zurück. Antriebslos versammelten sich diese Mäuse in der Mitte des Areals und initiierten keine weiteren Versuche, mit Weibchen in Kontakt zu kommen. Dennoch wiesen sie zahlreiche Verletzungen auf, allerdings nicht zugefügt von dominanten Mäusen, sondern in Folge der Aggression anderer „Zurückgezogener“, wie Calhoun diese Mausgruppe definierte.
Die dominanten Mäuse, hingegen, vernachlässigten im Zuge der permanenten Herausforderung durch andere heranwachsende Männchen ihre Schutzfunktionen der Nester, sodass die Weibchen begannen, männliche Schutzaufgaben zu übernehmen und dabei eine ungewöhnliche Aggressivität entwickelten. Doch mit der Übernahme dieser männlichen Funktion begann sich die Aggressivität der Weibchen dann sogar gegen ihren eigenen Nachwuchs zu richten, der angegriffen, verletzt und aus dem Nest verstoßen wurde. Selbst Fehlgeburten nahmen in dieser Phase drastisch zu.
Nach knapp 560 Tagen erreichte die Mauspopulation mit rund 2200 Mäusen ihren Höhepunkt. Zu diesem Zeitpunkt war das soziale Gefüge der Mäuse allerdings bereits vollständig zerstört. Die Mütter verstießen reihenweise ihren unreifen Nachwuchs, die Zahl der Schwangerschaften nahm drastisch ab, unter den männlichen Mäusen kam es – interessanterweise zwischen den dominanten Mäusen und den „Zurückgezogenen“ – zu homosexuellen Kontakten und selbst Kannibalismus konnte, trotz Nahrungsmittelüberschuss, beobachtet werden.
Essen, Trinken, Schlafen, Sterben
Eine weitere Subgruppe der Population dieser Phase bezeichnete Calhoun als „die Schönen“. Damit beschrieb er männliche Mäuse, die anders als die „Zurückgezogenen“ nicht das Zentrum des Areals aufsuchten, sondern fernab der restlichen Population in Nischen ihr Dasein fristeten und jeglichen sozialen Kontakt mieden. Ihren Spitznamen erhielten die „Schönen“ dadurch, dass sie keine Wunden von territorialen Kämpfen bzw. von der Aggression anderer „Zurückgezogener“ aufwiesen. Ihr gesamtes Leben bestand aus Essen, Trinken, Schlafen und der Fellpflege.
Der Kollaps der Mauspopulation ging dann schnell vonstatten. Mit dem Ende des Bevölkerungswachstums um Tag 560 hielten sich Geburten und Sterbefälle bis Tag 600 knapp die Waage. Mit der letzten lebensfähigen Geburt am Tag 600 war das Schicksal der Mauspopulation besiegelt. Die letzte – nicht tragfähige – Befruchtung fand an Tag 920 statt, doch bereits an Tag 700 war der Niedergang der Kolonie absehbar, da nur noch die älteren Männchen über einen Sexualtrieb verfügten, aber alle jüngeren Mäuse jeglichen Fortpflanzungstrieb bereits verloren hatten. Das Experiment wurde noch vor dem Ende der Kolonie offiziell als beendet erklärt, mit dem Wegfall zeugungsfähiger Weibchen wurde der Tod der letzten verbliebenen Maus für den 1780. Tag nach Beginn des Experiments prognostiziert.
Droht der Menschheit ein ähnliches Schicksal?
Calhoun scheute sich nicht, in seiner Interpretation des Experiments Parallelen zur menschlichen Gesellschaft zu ziehen. Seine Studien galten von Anfang an der Untersuchung der Gefahren von Überbevölkerung, wobei nicht unerwähnt sein sollte, dass das Areal für eine weitaus größere Mäusepopulation angelegt war und selbst am Höhepunkt der Bevölkerung Teile des Geheges nahezu unbewohnt blieben, während sich die Population andernorts ballte. Dennoch darf mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der männliche Überschuss der Population, in Ermangelung räumlicher Migrationsmöglichkeiten, ein legitimer Bestandteil des Problems war.
Innerhalb der wissenschaftlichen Welt schlug Calhouns Experiment hohe Wellen. Kritiker verwiesen allerdings darauf, dass das Sozialverhalten von Mäusen sich nicht einfach auf Menschen übertragen lasse. Das ist sicherlich wahr, wenngleich es eben auch das gegenteilige Argument gibt, dass es sehr wohl Ähnlichkeiten in sozialen Verhaltensweisen gibt, ein Grund, weshalb Nager häufig für Experimente eingesetzt werden. Einen Vorteil, den die Gegenwart allerdings bietet, ist jener der geschichtlichen Betrachtung. Die empirischen Daten der vergangenen 50 Jahre seit Ende des Experiments offenbaren faszinierende und beängstigende Parallelen zur demographischen Entwicklung in fast allen menschlichen Gesellschaften, die ein bestimmtes Wohlstandsniveau erreicht haben.
Diese beängstigenden Parallelen und die daraus resultierenden Herausforderungen, sollen Gegenstand der Analyse im zweiten Teil dieses Artikels sein: