Laut dem von Bundesinnenminister Horst Seehofer kürzlich vorgestellten „Jahresbericht für 2019 über politisch motivierte Kriminalität“ ist die Zahl der antisemitischen Straftaten stark gestiegen. Die Behörden registrierten 2032 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund und einen Anstieg von 13 Prozent im Vergleich zu 2018. Die Aussage des Berichts, dass die Täter bei Beleidigungen und Übergriffen auf jüdische Mitbürger und jüdische Einrichtungen in 93 Prozent der Fälle aus der rechtsextremen Szene kämen, wird allerdings bezweifelt. Offenbar hat sich an der fragwürdigen statistischen Praxis trotz anhaltender Kritik und offensichtlicher Mängel seit Jahren nichts geändert.
Die Erfassung judenfeindlicher Straftaten zeige „ein vollkommen schiefes Bild“, sagte der Fachsprecher Antisemitismus der Partei „Allianz liberaler und libertärer Europäer (ALLE)“, Jörg Lepkes. „Das steht jedoch im krassen Widerspruch zur erlebten Alltagswirklichkeit deutscher und europäischer Juden.“ Vielmehr stammten die Täter in den weitaus meisten Fällen offenkundig aus einem islamischen Umfeld. „Umfragen aus den Vorjahren unter Juden in Deutschland, die Opfer von antisemitischen Taten wurden, haben ergeben, dass bei 62 Prozent der Beleidigungen und 81 Prozent der körperlichen Angriffe jeweils muslimische Personen als mutmaßliche Täter angegeben wurden“, so Lepkes. Dennoch seien etwa »Sieg Heil«-Rufe wie etwa bei einer islamisch-antisemitischen Al-Kuds-Demonstration im Juli 2014 in Berlin in der Polizeistatistik als politisch motivierte Kriminalität mit rechtsextremen Motiven gewertet worden. Dies sei kriminalstatistisch „ein unhaltbarer Zustand“, sagte Lepkes weiter. „Die statistische Erfassung judenfeindlicher Delikte muss endlich die Realität widerspiegeln und daher methodisch vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden.“
Dass die Polizeistatistik erheblich von der Erfahrung vieler Juden abweicht, hatte schon vor über zwei Jahren eine Studie der Frankfurter Soziologin Julia Bernstein gezeigt. Demzufolge gaben rund 80 Prozent aller jüdischen Gewaltopfer Muslime als Täter an. Auch damals war in der Polizeistatistik von 95 Prozent rechtsextremen Tätern die Rede. Ein Ansatz zur Erklärung dieser Diskrepanz findet sich in einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine kleine Anfrage vom Januar 2019. Demnach „lautet die Ausführung in der gültigen Ausfüllanleitung zu Kriminaltaktischen Anfragen in Fällen Politisch motivierter Kriminalität (KTA-PMK) zur phänomenologischen Zuordnung von antisemitischen und fremdenfeindlichen Straftaten: „Fremdenfeindliche sowie antisemitische Straftaten sind dem Phänomenbereich PMK -rechts- zuzuordnen, wenn keine gegenteiligen Tatsachen zur Tätermotivation vorliegen.“ Die Mehrheit dieser Straftaten kann aber nicht aufgeklärt werden und landet somit statistisch unter „PMK -rechts-„. So heißt es in derselben Antwort weiter: „Im Jahr 2017 wurden zum Stichtag des 31. Januar 2018 von 1 504 Straftaten zum Themenfeld „Antisemitisch“ 1 412 Delikte dem Phänomenbereich der PMK -rechts zugeordnet. Davon wurden 576 Straftaten geklärt. 836 Straftaten wurden (davon vier Gewaltdelikte) bisher nicht aufgeklärt.“ Schon 2018 hatte Seehofer zugegeben, dass neue Formen des Antisemitismus nicht ausreichend abgebildet werden.
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