Angeblicher Hitler-Eklat unterstreicht moderne Geschichtsvergessenheit
David Boos
Alexander Zverev setzte sich im Viertelfinale der US Open in einer spannenden Partie gegen Jannik Sinner in 5 Sätzen durch. Überschattet wird der Auftritt aber durch den Zwischenruf eines Zuschauers, den Zverev als „den berühmtesten Hitler-Satz in der Welt“ bezeichnete.
In einer hochspannenden Partie setzte sich in der Nacht auf Dienstag der deutsche Tennisspieler Alexander Zverev gegen den Südtiroler Jannik Sinner mit 6:4, 3:6, 6:2, 4:6, 6:3 durch. Im bisher längsten Match der diesjährigen US-Open kämpften die Kontrahenten nicht nur gegeneinander, sondern auch mit fordernden klimatischen Bedingungen. Hohe Temperaturen gepaart mit extremer Luftfeuchtigkeit ließen die beiden Tennisspieler an ihre körperlichen Grenzen gehen, bis Zverev sich in der bisher längsten Partie des diesjährigen Turniers durchsetzte. Im Halbfinale trifft er nun auf Vorjahressieger Carlos Alcaraz.
Doch überschattet wurde das Tennisspiel – zumindest medial – vom Zwischenruf eines Zuschauers, der von Zverev und in Folge von den Medien zum „Hitler-Eklat“ stilisiert wurde. Im 4. Satz rief bei Aufschlag Zverev ein Zuschauer „Deutschland über alles“ dazwischen, woraufhin Zverev keinen Moment zögerte und den Schiedsrichter darüber aufklärte, dass der Zuschauer, laut Zverev, „den berühmtesten Hitler-Satz gesagt hatte, den es in der Welt gibt“. Das sei „inakzeptabel“ und „unglaublich“.
Der Schiedsrichter reagierte angesichts dieses Hinweises mit adäquater Empörung, wandte sich zum Publikum und fragte wiederholt, wer das gesagt habe. Das New Yorker Publikum kommentierte die Szene mit einem Pfeifkonzert, einige Männer erhoben sich suchend-drohenden Blickes von ihren Rängen, um den Ausbruch des 4. Reiches im Keim zu ersticken. Zivilcouragiertes Eingreifen war aber dann doch nicht von Nöten, bei der nächsten Spielunterbrechung entfernten Ordner den Übeltäter aus dem Stadion.
Es darf angenommen werden, dass der Zwischenrufer – wie die meisten Zwischenrufer – mit seiner Aussage nicht sein Bekenntnis zu den Grenzen von 1871 zum Ausdruck und Zverevs Rücken stärken wollte, sondern ihn mit einem plakativen Hinweis auf Deutschlands Nazi-Vergangenheit aus dem Konzept bringen wollte. Zverev erklärte seine Reaktion in der Pressekonferenz damit, dass der Fan begonnen hatte „die Hitler-Hymne zu singen“, sodass der Tennisspieler „etwas tun musste“.
Auch auf Twitter fanden sich zahlreiche Kommentatoren bereit, die Zverevs Einsatz gegen das Böse feierten. Der österreichische Politikwissenschaftler Peter Filzmaier, der im Auftrag des ORF den Österreichern seit Jahren die Politwelt erklärt, ordnete den Zwischenruf als Grölen des „Deutschlandlieds in der Naziversion“ ein. Nur „noch größere Idioten“ würden das relativieren. Ein anderer Twitter-Nutzer interpretierte den Zwischenruf als „homophoben Kommentar“, wieder ein anderer hörte statt dem Deutschlandlied die Phrase „Heil Hitler“ und die Schweizer Sozialdemokratin Jacqueline Fehr überschlug sich fast ob des Sieges gegen Hass & Hetze, da der „Nazi-Sänger“ aus dem Stadion entfernt wurde.
Schock: Es gibt deutsche Geschichte vor 1933
Dennoch sollte festgehalten werden, dass es sich bei „Deutschland über alles“ nicht zwingend um den „berühmtesten Hitler-Satz der Welt“ handelt, sondern um den Beginn der ersten Strophe des Deutschlandlieds, dessen Text 1841 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben geschrieben wurde und in dem einerseits damalige französische Ansprüche auf das Rheinland zurückgewiesen wurden, andererseits ein eben sehr liberaler Geist vorherrscht, der eine Vereinigung Deutschlands gegenüber den einzelnen Fürstentümern der damaligen Epoche bevorzugt.
Erst 1922 in der Weimarer Republik, nota bene unter dem sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, wurde das Deutschlandlied zur offiziellen Nationalhymne Deutschlands erklärt. Wie fast alle Nationalhymnen (bzw. deren Texte) entstammt sie dem 19. Jahrhundert und ist daher von einem nationalistischen Grundton geprägt, der allerdings durch den Nationalsozialismus in solchen Verruf kam, dass die alliierten Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg sogar kurze Zeit den Gesang der ersten beiden Strophen verbot. Entgegen landläufiger Meinung ist dieses Verbot allerdings aufgehoben, der Gesang der Strophen gilt vor allem moralisch als verpönt.
Selbstverständlich darf davon ausgegangen werden, dass der Zwischenrufer sich keineswegs auf Fallersleben oder auch nur auf die Weimarer Republik bezog, sondern ein billiges Klischee suchte, um Zverev aus dem Konzept zu bringen. Diese Geschichtsunkenntnis darf man einem New Yorker Tennisfan womöglich nicht zum Vorwurf machen, auch wenn dessen Versuch, in den Verlauf eines Tennismatches einzugreifen, mehr über ihn aussagt, als ihm lieb sein mag. Doch Zverevs dezidierte Einordnung von „Deutschland über alles“ als „berühmtesten Hitler-Satz der Welt“ zeugt von einer modernen Geschichtsvergessenheit, in der aus Angst vor der falschen Konnotation alles und jeder immer und überall Hitler sein kann.
Der inflationäre Einsatz von Hitler-Vergleichen durch eine hypersensibilisierte Generation von Eiertänzern führt aber leider dazu, dass das Prädikat „Hitler“ vollkommen entwertet wird und somit das genaue Gegenteil von dem erreicht wird, was angeblich beabsichtigt ist. Anstatt damit nämlich das Unvergleichliche und absolut Böse zu kennzeichnen, wird ein Vergleich mit Hitler und den Nazis zur ordinärsten Form all jenes zu kategorisieren, was einem nicht in den Kram passt, während es andererseits den Beteiligten erlaubt ein beschämendes Empörungsritual aufzuführen, mit dem sie ihre Rechtschaffenheit demonstrieren können. Ein Geschichtsverständnis, das dem Motto „nie wieder“ dienlich ist, wird damit allerdings nicht gefördert.
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