Mit seiner Begabung für das falsche Wort im richtigen Moment hatte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder kürzlich vor einer „Corona-RAF“ auf den Reihen der Querdenkerbewegung gewarnt. Vermutlich nimmt der Politiker sogar wahr, dass er Unsinn redet; er dürfte in seinem Büro am Münchner Hofgarten gut über den Unterschied zwischen Operettenfiguren wie Attila Hildmann und dem linkischen Querdenker-Frontmann aus Baden-Württemberg einerseits und einer Terrororganisation aus militärisch geschulten und geheimdienstlich unterstützten Kadern andererseits Bescheid wissen. Die Technik, notfalls mit hohem Unsinnsausstoß Schlagzeilen zu beherrschen, gehört zur Aufgabenbeschreibung von Parteigeneralsekretären. Aus seiner Zeit als Generalsekretär stammt praktisch das gesamte Rüstzeug, über das Söder verfügt. Wenn sich gerade eine neue militante Kaderorganisation in Coronazeiten bildet – und zwar erstaunlich erfolgreich, mit großer Resonanz und einer grob unterschätzten Gefährlichkeit – dann geschieht das gerade an einer anderen Stelle.
Unter dem Aufruf „ZeroCovid“ sammelt sich eine Gruppe von Leuten, die in Entschlossenheit und weltanschaulicher Homogenität der RAF jedenfalls sehr viel stärker ähneln als der Querdenkerbewegung. Das Manifest „ZeroCovid“ verkündet ein Ziel, hinter dem sich auf den ersten Blick und ohne großes Nachdenken sehr viele vereinen dürften: Die Zahl der Covid-19-Infektionen soll „auf Null“ gedrückt werden, und zwar durch „einen solidarischen europäischen Shutdown“. Auf den Umstand, dass ostasiatische Länder ihre Neuinfektionen mit großem Erfolg reduzieren, etwa Singapur, Taiwan, Südkorea – und zwar ohne einen generellen Lockdown weiter Wirtschaftsbereiche – gehen die Autoren mit keinem Wort ein. Auch nicht auf die wachsenden Zweifel, ob Lockdowns wie Deutschland, Irland und 2020 in Spanien und Frankreich den Verlauf der Virusausbreitung überhaupt bremsen.
Wie die meisten kollektivistischen Ideologietexte beginnt auch der „ZeroCovid“-Appell mit einer Irreführung:
„Die Maßnahmen der Regierungen reichen nicht aus: Sie verlängern die Pandemie, statt sie zu beenden, und gefährden unser Leben…Nach einem Jahr Pandemie sind wir in ganz Europa in einer äußerst kritischen Situation…Die Strategie, die Pandemie zu kontrollieren, ist gescheitert („flatten the curve“). Sie hat das Leben dauerhaft eingeschränkt und dennoch Millionen Infektionen und Zehntausende Tote gebracht. Wir brauchen jetzt einen radikalen Strategiewechsel: kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie, sondern ihre Beendigung. Das Ziel darf nicht in 200, 50 oder 25 Neuinfektionen bestehen – es muss Null sein.“
Bekanntlich bestand die Strategie von flatten the curve nie darin, Neuinfektionen zu verhindern – sondern eine Überlastung des Gesundheitssystems, und zwar durch die Verschiebung von Infektionen und Erkrankungen in die Zukunft. Flatten the curve heißt genau das: Verlängerung der Pandemie in die Zukunft, um Erkrankungen auf eine größere Zeitspanne zu verteilen. Diese Strategie ist nicht gescheitert, wie die Autoren behaupten; bisher gab es keine Überbeanspruchung des Gesundheitssystems. Auch jetzt existieren noch freie intensivmedizinische Kapazitäten. Gut die Hälfte, regional bis zwei Drittel der Verstorbenen mit und an Corona entfallen auf schlecht bis gar nicht geschützte Alten- und Pflegeheime. Auch dafür interessieren sich die Zero-Aktivisten an keine Stelle.
Stattdessen berufen sie sich auf einen Appell, der einen illusorischen Gleichschritt bei der Virusbekämpfung für ganz Europa verlangt, und errichten darauf ihren Entwurf einer neuen Gesellschaft, die mit den „unerlässlichen gesellschaftlichen Maßnahmen“ herbeigeführt werden soll. Dazu gehört zunächst die weitgehende Stilllegung der Wirtschaft:
„Das erste Ziel ist, die Ansteckungen auf Null zu reduzieren. Wenn dieses Ziel erreicht ist, können in einem zweiten Schritt die Einschränkungen vorsichtig gelockert werden. Die niedrigen Fallzahlen müssen mit einer Kontrollstrategie stabil gehalten und lokale Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden. Wir brauchen drittens auch eine gemeinsame langfristige Vision – und auf deren Basis regionale und nationale Aktionspläne…Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine solidarische Pause von einigen Wochen. Shutdown heißt: Wir schränken unsere direkten Kontakte auf ein Minimum ein – und zwar auch am Arbeitsplatz! Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden. Diese Pause muss so lange dauern, bis die oben genannten Ziele erreicht sind.“
„Niemand darf zurückgelassen werden“, heißt es bei ihnen: „Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig. Die Menschen, die von den Auswirkungen des Shutdowns besonders hart betroffen sind, werden besonders unterstützt – wie Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in einem gewalttätigen Umfeld, Obdachlose. Sammelunterkünfte müssen aufgelöst, geflüchtete Menschen dezentral untergebracht werden. Menschen, die im Shutdown besonders viel Betreuungs- und Sorgearbeit leisten, sollen durch gemeinschaftliche Einrichtungen entlastet werden. Kinder erhalten Unterricht online, notfalls in Kleingruppen.“
Nun funktioniert ja der Online-Unterricht in den meisten Bundesländern schon jetzt schlecht bis miserabel, Wohnungen in Ballungszentren sind knapp, auch ohne den Versuch, alle „geflüchtete Menschen“ in Einzelquartieren unterzubringen. Aber wie gesagt – mit Detailfragen befassen sich die Manifestautoren nicht. Auch nicht, wo beispielsweise die schon jetzt fehlenden Pflegekräfte herkommen sollen, nach denen sie verlangen („Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich muss sofort und nachhaltig ausgebaut werden“). Jedenfalls soll der Staat künftig die gesamte Branche lenken: „Das Profitstreben im Gesundheits- und Pflegebereich gefährdet die kollektive Gesundheit.“
Woher die nötigen Betriebsmittel für ihre Gesellschaftstransformation kommen sollen, wissen die Zero-Leute dagegen genau:
„Solidarische Finanzierung: Die notwendigen Maßnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen problemlos finanzierbar. Darum verlangen wir die Einführung einer europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen.“
Dass Inhaber hoher Vermögen ihr Geld schon vor dem Zugriff aller möglichen Gesellschaftsingenieure in Sicherheit gebracht haben und sich Leute mit „höchsten Einkommen“ ebenfalls leicht verabschieden können, weswegen der Plünderungszug die Normalsparer treffen würde, bei denen etwas zu holen ist – das kann sich jeder halbwegs Nüchterne selbst ausrechnen. Interessant ist die Definition von Reichtum, der ein „gesellschaftlicher Reichtum“ ist, den sich einzelne nur „angeeignet“ haben. Damit bewegen sich die Autoren auf einer geraden Linie von Proudhon bis Lenin.
Das zeigen übrigens auch ihre Ausführungen zur Impfstoff-Herstellung:
„Impfstoffe sind globales Gemeingut: Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen. Öffentliche und private Unternehmen müssen umgehend die erforderliche Produktion von Impfstoffen vorbereiten und durchführen. Impfstoffe sollten der privaten Profiterzielung entzogen werden. Sie sind ein Ergebnis der kreativen Zusammenarbeit vieler Menschen, sie müssen der gesamten Menschheit gehören.“
Würde die Gesellschaft tatsächlich so umgepflügt, wie das Zero-Kollektiv es wünscht, liefe das auf einen Kollaps der modernen Industriegesellschaft hinaus. Das scheint auch das Ziel zu sein. Und es deckt sich praktisch vollständig mit den Forderungen der Klima-Endzeitbewegung „Extinction Rebellion“ des Briten Roger Hallam, der zur Rettung der Erde das gleiche verlangt: die Zerschlagung der Industriegesellschaft, die Abschaffung des Bürgers und die Zuteilung der verbliebenen Ressourcen durch Kader seiner Bewegung. Der Unterschied besteht nur darin, dass für Hallam das Schlüsselwort ‚Klima’ lautet, für die Zero-Aktivisten ‚Covid’. Hallam begründet seine „unerlässlichen gesellschaftlichen Maßnahmen“ ebenfalls mit einer Bedrohung, die so groß ist, dass sie sich nicht anders stoppen lasse: „Weil dieses Thema größer ist als die Demokratie …Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant. Dann kann es nur noch direkte Aktionen geben, um das zu stoppen.“
In dem Zero-Manifest heißt es: „Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch.“ Interessanterweise auch: „Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat.“ Also in genau den Zustand, den sie anstreben.
Wer gehört zu den Erstunterzeichnern? Unter anderem der Monitor-Redaktionsleiter Georg Restle, WDR, der gegen den „Neutralitätswahn im Journalismus“ kämpft, und die Spiegel-Kolumnistin Margarete Stokowski („Antifa ist Handarbeit“). Die Frontfigur der deutschen Klimabewegung Luisa Neubauer, die sich nur halbherzig von Hallams „Extinction Rebellion“ distanziert. Taz-Autorin Hengameh Yaghoobifarah, die den Deutschen vor einiger Zeit eine „Dreckskultur“ bescheinigte und Polizisten auf den Müll wünschte. Der „Autor und Filmemacher“ Mario Sixtus, zu dessen Kunden auch das ZDF gehört, und der sich Anfang 2020 auf Twitter über Bundeswehrsoldaten und Zügen und den „kalten Hass auf alle Tarnanzüge“ ausgelassen hatte
(„Was für Flüssigkeiten muss man eigentlich konsumiert haben, um auf die Idee zu kommen, dass in gnadenlos überfüllten ICEs die zusätzliche Anwesenheit von Soldaten mit Feldgepäck für eine höhere Akzeptanz des Soldatenberufs führt und nicht etwa zu kaltem Hass auf alle Tarnanzüge?“). Anschließend behauptete er damals, er habe natürlich nicht seinen eigenen Hass gemeint, sondern nur ganz allgemein die Frage gestellt.
Es gehört die gut in linksextremistischen Kreisen vernetzte Natascha Strobl dazu, die in wohlmeinenden Medien als Rechtsextremismus-Expertin eine Bühne erhält, und die das staatliche Gewaltmonopol gern relativiert („so was muss man sich physisch entgegenstellen. Danke AntiFa“). Und auch Stefan Jarosch und Ruben Neugebauer von Sea-Watch Berlin, deren Organisation findet: „Wir sind prinzipiell dagegen, dass jemand wie Merz in Zukunft überhaupt irgendwo mitreden darf.“ Was man durchaus als Ankündigung lesen darf, den Politiker physisch zum Schweigen zu bringen.
Jaroschs Beteiligung zeigt auch: Grenzkontrolle zählt nicht von den Zero-Leuten geforderten Mittel, um die Covid-Infektionen auf Null zu bringen.
Apropos physische Mittel: In der Unterzeichnerliste findet sich auch die Autorin Veronika Kracher, die 2019, als Linksextremisten den Bremer AfD-Bundestagsabgeordneten Frank Magnitz zusammenschlugen, die Täter ausdrücklich lobte:
„Dass #Magnitz zusammengelatzt wurde ist übrigens die konsequente Durchführung von #NazisRaus. Abhauen werden die nicht. Die werden sich bei der größten möglichen Bedrohungssituation aber zweimal überlegen ob sie offen faschistische Politik machen. Deshalb: mit ALLEN Mitteln.“
Mit dabei ist der Schauspieler Rolf Becker, der den RAF-Terroristen Christian Klar jahrelang im Gefängnis besuchte und sich für dessen vorzeitige Freilassung einsetzte („Ich werde für Christian Klar da sein.“) Und auch der frühere hauptamtliche MfS-Mitarbeiter Andrej Holm, der noch im September 1989 eine Offizierslaufbahn bei der Staatssicherheit einschlug.
Virologen, Epidemologen, Lungenärzte, Pharmazeuten spielen auf der Liste der Bewegung, der es vorgeblich um die Eindämmung eines Virus geht, keine Rolle. Die einen oder anderen sonstigen Unterzeichner mögen aus den verschiedensten Gründen dazugekommen sein, hauptsächlich durch milieubedingte Solidarität. Der harte Kern bewegt sich allerdings auf dem Feld zwischen Lenin, Pol Pot und Roger Hallam. Sie eint, um die Formulierung von Sixtus zu verwenden, der kalte Hass auf die bürgerliche Ordnung, die ihnen nicht die Bedeutung zubilligt, die sie nach eigener Vorstellung verdienen. Ihnen geht es um Zerstörung, und ganz offensichtlich nicht darum, Leben vor dem Covid-19-Virus zu retten. Eine ganze Reihe von Unterzeichnern hat bei anderer Gelegenheit deutlich gemacht, dass sie Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele nicht ablehnt. Trotzdem erfährt der ZeroCovid-Aufruf in etlichen Medien eine freundliche Aufnahme, etwa in der ZEIT.
Schließlich klingt das Ziel edel. Die Reaktion von vielen Politikern bis weit in die Union hinein und von Chefredakteuren der Medien, die ähnlich berichten, dürfte ungefähr lauten: Sie meinen es gut, sie sind nur etwas radikal. Ihnen entgeht die Wirkung eines solchen Aufrufs auf das so genannte Overton-Window, das Fenster der gesellschaftlichen Wahrnehmung, benannt nach dem Forscher Joseph P. Overton. Sein Modell beschreibt, wie sich durch Begriffspolitik Ideen, die bis vor einiger Zeit noch als irrational und absurd galten, allmählich in den Bereich des akzeptablen und Vernünftigen vorarbeiten. Nicht, weil die Ideen sich ändern, sondern ihre Bewertung durch eine relative Mehrheit. Neben dem ZeroCovid-Manifest nehmen sich ähnliche Forderungskataloge schon annehmbar aus, wenn sie in etwas weicherer Verpackung geliefert werden.
Ein sowjetischer Witz illustriert diese psychologische Wirkung gut: Breschnew ruft bei seinem Amtsantritt den Geist von Stalin und fragt, was er tun soll. Stalins Geist sagt ihm: „Drei Dinge: erstens die Partei säubern, zweitens die Gulags wieder einführen. Drittens den Kreml rosa streichen.“ „Warum den Kreml rosa streichen?“, fragt Breschnew. „Über Punkt eins und zwei sind wir uns also einig“, antwortet Stalin. Der Verzicht auf die Kremlumfärbung ist in diesem Fall der praktische Kompromiss.
So klein und randständig nehmen sich diese Aktivisten gar nicht mehr aus. Sie sind angebunden an öffentlich-rechtliche Sender, Medien, Institute. In einigen Fällen kann sich jeder fragen, ob er sie mit seinem Geld unterstützen möchte.
Margarete Stokowski schrieb auf Instagram, sie wünsche sich, dass der Aufruf „einfach zack sofort umgesetzt wird“.
Sie sprechen schon wie Funktionäre. Ihnen fehlen nur noch die passenden Schutzbefohlenen.