Tichys Einblick
Was vom Wahlsonntag bleibt

Zehn Lehren aus der Europa-Wahl

Was sagt die Abstimmung am Sonntag für die kommenden Entscheidungen im Osten und die Bundestagswahl? Soviel vorab: es stehen große politische Umbrüche bevor.

picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Was sagt die Abstimmung am Sonntag für die kommenden Entscheidungen im Osten und die Bundestagswahl? Soviel vorab: es stehen große politische Umbrüche bevor.

1. Sich ein Wahlergebnis zurechtdemonstrieren – das funktioniert nicht

Sie frage sich, meinte die SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley in der ZDF-Wahlrunde, und drehte sich kurz zu der grünen Spitzen-Frau Terry Reintke, warum sie von der „Demokratiebewegung“ in Deutschland „nicht profitiert“ hätten. Barley meinte damit die wochenlangen Großaufmärsche nach der von „Correctiv“ verbreiteten und allen etablierten Medien übernommenen Geschichte von der „Wannseekonferenz 2.0“ in Potsdam. Die Strategie von Grünen und SPD bestand tatsächlich darin, mit einer propagandistischen Dauerkampagne „gegen rechts“ eine moralische Luftüberlegenheit zu erringen. Bei dem, was sich mit massiver Unterstützung der öffentlich-rechtlichen auf den Straßen und Plätzen abspielte, handelte es sich eben nicht um eine „Demokratiebewegung“, sondern um Aufmärsche des linken bis linksextremen Milieus. Die Demonstrationen festigten die eigenen Reihen – brachten aber erstens kaum einen AfD-Wähler dazu, anders abzustimmen, und führten auch in der bürgerlichen Mitte bis gemäßigt rechts eher zu einer Abwehrreaktion. Im Englischen gibt es dafür die Wendung: „Preaching to the convinced“ – also agitieren für die ohnehin schon Überzeugten. Als Medien und Aktivisten wie Luisa Neubauer dann versuchten, aus einem halben Dutzend alkoholisierte ‚Ausländer-raus‘-Gröler auf Sylt eine Staatskrise und damit neuen Erregungsstoff zu fabrizieren, überspannten sie den Bogen endgültig.

Die Lehre für die kommenden Wahlen lautet also: mit moralischer Dauererregung lässt sich keine schlechte Regierungsleistung überdecken. ‚Gegen rechts‘ ist keine Politik. Wähler kreuzen nicht AfD an, weil sie sich die Rückkehr des Nationalsozialismus wünschen, sondern eine Politik, die sich wieder der zentralen Probleme im Land annimmt.

Auch die Spekulation, Dauerkampagnen würden sie Wahlbeteiligung in die Höhe treiben und damit den Stimmanteil rechts der Mitte senken, erweisen sich nach der Europawahl als falsch: die Wahlbeteiligung in Deutschland am Sonntag erreichte mit 64, 8 Prozent sogar einen Rekord – und verhinderte nicht den brutalen Absturz des linken Lagers.

2. Die Ampel hat keine Perspektive mehr

Überträgt man die Europawahlergebnisse auf den Bund, dann kann sich die Ampel nur noch auf 30 Prozent der Wähler stützen. Drei Parteien zusammen kommen also nur noch auf den Rückhalt wie die Union allein. Die Kanzlerpartei erreicht noch nicht einmal 14 Prozent. Das ist die Quittung für gut drei Jahre quälendes Vorbeiregieren an den Problemen des Landes. Und es besteht keine Aussicht auf Besserung: bei den Verhandlungen zum Haushalt 2025 stehen die Positionen von Grünen und SPD, die gern noch mehr Geld ausgeben möchten, und die von FDP-Chef Christian Lindner, der darauf hinweist, dass es ein 25-Milliarden-Loch gibt, einander unversöhnlich gegenüber. In den Parteizentralen dürfte das EU-Wahlergebnis zu der Überlegung führen: wäre eine Bundestagswahl 2024 möglicherweise doch besser – angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, im kommenden Jahr noch mehr zu verlieren? Die Wähler sind auch der meisten Kabinettsfiguren überdrüssig: schon die Bilder von Robert Habeck, Annalena Baerbock, Claudia Roth, Lisa Paus, Nancy Faeser und Olaf Scholz lösen bei vielen Bürgern einen Abwehrreflex aus. Mit den gleichen Figuren noch länger ein Jahr in Richtung Abgrund weiterwursteln: das hieße, den politischen Selbstmord auch wirklich zu Ende zu bringen.

Fazit: Weitermachen wie bisher wäre schon die Garantie für den Absturz von Grünen und SPD auch bei den Landtagswahlen im Osten – allerdings in einer noch ganz anderen Dimension.

3. Scholz noch einmal SPD-Kanzlerkandidat? Eher nicht

Auf die Frage im ZDF am Wahlabend, ob er jetzt eine Diskussion über die erneute Kandidatur von Olaf Scholz erwarte, sagte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert nur sehr zurückhaltend, er erwarte sie nicht. Um gleich nachzuschieben, in der SPD gewinne und verliere man gemeinsam – und jetzt müsse man in den Gremien beraten. Ein Treuebekenntnis zu Scholz war das nicht. Damit entspricht Kühnert der Jobbeschreibung eines Generalsekretärs, der im Zweifel weniger auf die aktuelle Regierung schaut, sondern auf die Partei und die nächsten Wahlen. Die SPD-Kampagnenmacher platzierten das Gesicht des Kanzlers auf hunderte Großflächenplakate im Land. Wenn Scholz zog, dann offenkundig nur nach unten. Alle Versuche der letzten Monate, den Hanseaten auf bürgernah zu trimmen, dürfen als gescheitert gelten. Er kommt selbst in handverlesenen „Bürgergesprächen“ nicht an. Er schafft es nicht, die Cum-Ex-Affäre abzuschütteln. Seine Popularitätswerte befanden sich schon vor der Europawahl im zweiten Untergeschoss. Die Debatte in der SPD lässt sich spätestens seit dem EU-Wahlsonntag nicht mehr kleinreden: viele sehen in einem Wechsel zu Boris Pistorius als Kanzlerkandidat die letzte Hoffnung, noch so viel wie möglich zu retten. Pistorius’ relative Popularität gilt vielen als Rätsel. Dabei steckt nichts Geheimes dahinter: er ist politisch und medial noch nicht verschlissen, schleppt keinen alten Skandal mit sich herum, und er kann – wie übrigens fast jeder – besser kommunizieren als der Kanzler. Demoskopische Wunder sind von ihm nicht zu erwarten. Aber er könnte den Absturz vielleicht bremsen.

Fazit: Will die SPD wechseln, dann lohnt es sich eigentlich nur, wenn sie Pistorius nicht nur zu ihrem nächsten Kandidaten macht, sondern gleich zum Kanzler – und das noch vor den Wahlen im Osten. Anderenfalls kann sie es gleich ganz bleibenlassen.

4. Spitzenkandidaten müssen den Wählern gefallen, nicht den Parteitagen

Ihre Frontfiguren zur Europawahl wählten Parteiapparate und Parteitage dieses Mal besonders häufig nach dem Geschmack von Funktionären und Delegierten, nach Proporz, Quote und anderen internen Überlegungen. Nur nicht unter dem Gesichtspunkt: wer kommt draußen wie an? Die AfD setzte mit Maximilian Krah einen halbseidenen Rechtsausleger auf Platz eins, denn das gefiel dem Parteitag: der wollte einen möglichst lauten, extremen Haudrauf; über dessen Erdogan- und China-Begeisterung sahen die meisten Parteimitglieder ebenso großzügig hinweg wie über seine notorischen Referenzen an die NS-Geschichte. Mit einem Spitzenmann René Aust, der im letzten Wahlkampf-Moment für Krah faktisch eingewechselt wurde, hätte sie vermutlich noch besser abgeschnitten.

Die Linkspartei musste am Wahlabend einsehen, dass die woke Managertochter Carola Rackete, die für unbegrenzten Zuzug nach Deutschland plädiert und gegen Arbeitsplätze bei Tesla Sturm läuft, das traditionslinke Potential nicht an die Urnen bringt.

Auch bei den Grünen musste es unbedingt eine Frau sein: Terry Reintke, die sich nur mit ihrem Videoauftritt nach ihrem ersten Einzug ins Europaparlament nachhaltig ins Gedächtnis der Öffentlichkeit einzuschreiben wusste – und anschließend durch kein Projekt und keine Rede auffiel. Katarina Barley konnten die SPD-Werber noch so oft zur „Katarina der Starken“ erklären – in der Öffentlichkeit wurde und wird sie als fade EU-Funktionärin wahrgenommen, mit der niemand irgendeinen Inhalt verbindet. Und für die FDP-Spitzenkandidatur von Marie-Agnes Strack-Zimmermann dürfte vor allem der Wunsch vieler Parteifreunde wie auch der SPD den Ausschlag gegeben haben, sie endlich weit weg von Berlin zu wissen. Gemessen am Werbeaufwand fiel auch ihr Resultat sehr bescheiden aus.

Fazit: Für die kommenden Landtagswahlen bräuchten die Parteien Kandidaten, die das Publikum für ansprechend hält, auch wenn die eigenen Leute lieber jemand anderen aufstellen wollen. Nur: woher die besseren Bewerber nehmen in der Not?

5. Junge Wähler sind nicht links

Lange galt im Politikapparat und in den Medien die bombenfeste Überzeugung: jung gleich links. Beziehungsweise woke. Dass es sich bei Luisa Neubauer um die „Stimme ihrer Generation“ und Fridays for Future und der „Letzten Generation“ um breite Jugendbewegungen handeln würde, glaubten die Verantwortlichen irgendwann selbst. Sie hielten die Senkung des Wahlalters für einen genialen Schachzug. In Wirklichkeit wächst gerade bei den Jungen ein ganz anderes Bewusstsein: In der Schule erleben sie die Folgen der ungebremsten Zuwanderung, vom Absacken des Unterrichtsniveaus bis zur Gewalt auf dem Pausenhof. Sie nehmen wahr, wie die grüne Transformation das Wohlstandsversprechen pulverisiert. Und erkennen die politikgenährte Illusion, das Rentenniveau werde dauerhaft stabil bleiben, als faulen Zauber. Bei der Europawahl verloren die Grünen in der Gruppe der unter Dreißigjährigen 18 Prozentpunkte, die ohnehin schon schwache SPD noch einmal einen Prozentpunkt. Die AfD legte in diesem Segment 10 Prozentpunkte zu, die Union drei. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich schwenkten jüngere Wähler aus den gleichen Gründen nach rechts.

Lernen müssten daraus – eigentlich – alle Bewerber, dass mehr denn je der alte Clinton-Spruch gilt: „It’s the economy, stupid.“ Klimaangst und Anti-Rechts-Hysterie, Gendern und Transgender-Bohei – das zieht vor allem bei jüngeren nicht. Und auch bei vielen älteren Wählern stellt sich langsam ein Überdruss ein.

6. Überraschung: die Arbeiterklasse gibt es noch. Sie wählt rechts

„Vergesst die Arbeiter“, überschrieb 2021 ein SPD-Funktionär seinen Meinungsbeitrag in der „Welt“. So wie er dachten viele Gesellschaftsklempner: die Arbeiter (und im weitesten Sinn die beschäftigten Normalbürger) spielen keine Rolle mehr. Stattdessen umwarben die Parteistrategen bevorzugt die Dies-und-Das-Studenten in den Großstädten, die Staatsgeld-Abgreifer, die NGO-Beschäftigten, die Klimaapokalyptiker. Nicht nur in der SPD, auch in der CDU wünschten sich viele Funktionäre im Grunde eine andere Wählerschaft, nämlich die der Grünen. In Wirklichkeit ist die Arbeiterklasse gar nicht verschwunden. Sie wählt nur woanders. Bei der Europawahl stimmten 34 Prozent der Arbeiter für die AfD, 24 Prozent für die Union, 12 Prozent für die ehemalige Arbeiterpartei SPD und nur 6 Prozent für die Grünen. Auch hier lässt sich beobachten: Wahlen entscheiden sich in Krisenzeiten auf der Realitäts- und nicht auf der Metaebene.

7. Kleine Parteien stoßen in die Lücke, die große lassen

Eigentlich müsste die Union angesichts der Ampel-Leistung fast bei 40 Prozent stehen. Auch sie verliert aus ihrem Wählerpotential wie alle größeren an neu dazugestoßene kleine Konkurrenten. Das gilt selbst für die mittlerweile etablierte AfD. Dass Sahra Wagenknechts Partei bei der Euro-Wahl aus dem Stand über 6 Prozent holte, zeigt das Ausmaß der Lücke. Selbst die Retorten-Partei Volt konnte in diesem Umfeld wachsen.

In den kommenden Landtagswahlen dürften neue Wettbewerber eine noch größere Rolle spielen: das BSW, das im Osten auf bis zu 12 Prozent kam, die Werteunion, die Freien Wähler.

8. Landtagswahlen im Osten: CDU, SPD und Grüne erwartet ein Desaster

Auf X, vormals Twitter, lautete am Wahlabend angesichts des fast komplett blauen Ostens die Meinung der Progressiven: dort ist die Demokratie eben nicht angekommen. Der Landstrich, twitterte ein ZEIT-Redakteur, sei größtenteils „verloren“. In Sachsen, wo die AfD zur Europawahl 31,8 Prozent holte, wäre tatsächlich sogar eine absolute Mehrheit für die von allen geschnittene Partei möglich. Das liegt allerdings nicht an den angeblich demokratiefernen Ostlern. Erstens: die wirtschaftliche Krise schlägt im Osten, wo der Wohlstandsfirnis deutlich dünner ist, viel schärfer durch. Zweitens: Für woke Themen wie Gendern und Geschlechtswechsel per Sprechakt gab es dort noch nie eine Begeisterung. Auch nicht für die Vorstellung einer durch Massenmigration hergestellten Buntheit, die in Wirklichkeit vor allem die Auflösung sicherer Verhältnisse bedeutet. Der Osten ist hartnäckig materiell, nicht postmateriell. Und darin plötzlich auch Avantgarde für ganz Deutschland außerhalb der besseren Großstadtviertel. Außerdem haben es die Belehrer und Nach-unten-Verächter des Westens in jahrelanger Arbeit geschafft, in den östlichen Landstrichen eine solide Rektanz zu züchten, also einen instinktiven Widerwillen gegen wohlmeinende Westdeutsche, die ihnen erklären, wie zurückgeblieben sie, die Ostdeutschen seien. Die Attitüde: ‚wir erklären euch mal die Demokratie‘ können weder SPD noch Grüne bis zu den Landtagswahlen im Osten abschütteln. In Sachsen und Thüringen droht beiden das außerparlamentarische Schicksal. Die CDU kann nur versuchen, Richtung Osten zu sagen: wir haben verstanden.

9. Rechts ist kein Gespenst mehr

Lange gefielen sich Meinungspräger der Republik darin, die Begriffe ‚rechts‘, ‚rechtspopulistisch‘, ‚rechtsradikal‘ und „rechtsextrem‘ synonym zu verwenden. Im Zweifel gab es sowieso einen Sammelbegriff: Nazi. Mit der Drift nach rechts nähert sich Deutschland allerdings nicht dem mausetoten Dritten Reich, sondern der europäischen Normalität. In Italien regiert eine rechte Ministerpräsidentin mit guten Wiederwahl-Chancen. Frankreichs nächstes Staatsoberhaupt könnte Le Pen heißen. In den Niederlanden startet eine Mitte-Rechts-Regierung, in Österreich könnte die FPÖ demnächst wieder den Kanzler stellen. Der politisch-mediale Versuch ‚rechts‘ zur Zone der Unberührbaren zu erklären, ist krachend gescheitert. In Deutschland bedeutet das für die AfD: auf sie kommt früher oder später eine Regierungsverantwortung zu. Und damit aber auch der Zwang, praktische Fragen zu lösen und Kompromisse zu schließen.

10. Die Medien verlieren mit

Niemals zuvor trommelten vor allem die Öffentlich-Rechtlichen so intensiv dafür, „demokratisch“ zu wählen. Sie schlugen den Begleittakt zu den „Gegen-rechts“-Kundgebungen, sie verbreiteten die bizarre Correctiv-Legende zu Potsdam. Kurz vor der Abstimmung am Sonntag mahnte die ZDF-Nachrichtenpräsenterin Dunja Hayali ohne jede Zurückhaltung, die Wähler mögen ihre Stimme auf keinen Fall der „A-loch-Partei“ geben. Reihenweise sagten Auguren in den Medien der AfD einen Absturz bevor, und gaben sich auf der anderen Seite besondere Mühe, die Grünen gleichzeitig als die genialen Macher in der Regierung als auch als die größten Opfer von politischer Gewalt darzustellen – beides kontrafaktisch. Wer sich so ins politische Getümmel wirft, verliert auch zusammen mit seiner Lieblingspartei.

Fazit für die Öffentlich-Rechtlichen: Ohne grundlegende Reform können sie eine Rundfunkgebühren-Erhöhung vergessen. Selbst wenn sie politisch gegen die klare Bevölkerungsmehrheit durchgedrückt würde: es käme dann zumindest zu einer massenhaften Weigerung, den Aufschlag auf die 18,36 Euro zu zahlen.

Anmerkung: Im ursprünglichen Artikel war für die AfD in Sachsen ein Prognosewert abgegeben, der mittlerweile durch das amtliche Endergebnis ersetzt werden mußte.

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